Den" deutschen Adel habe es nicht gegeben, betonen die Herausgeberinnen Silke Lesemann und Annette von Stieglitz - vor Verallgemeinerungen warnend - einführend (Einleitung, S. 7-11). Die Selbstwahrnehmung des Adels und seine Konstituierung als Gruppe in Abhängigkeit von den jeweils historisch gewachsenen Bedingungen seien vielmehr bis zum Ende des Kaiserreiches von regionalen Unterschieden geprägt, das Verhältnis zum Herrscherhaus zudem von konfessionellen Einflüssen bestimmt gewesen. Aber diese Probleme seien bislang kaum erforscht worden, zumal das Interesse der Adelsforschung bis zum Beginn des letzten Jahrhunderts vornehmlich rechts- und verfassungsgeschichtlicher Natur gewesen sei oder sich genealogischen Fragen gewidmet habe. Vor diesem Hintergrund ist das erklärte Ziel des Bandes, der auf eine Vortragsreihe an der Universität Hannover zurückgeht, die benannten Forschungslücken in regionalgeschichtlicher Hinsicht mit Hilfe von kultur- und sozialgeschichtlichen Studien zu schliessen. Zugrunde liegt ein Verständnis von Kulturgeschichte, das "die Lebenspraxis der Individuen, ihr Handeln und das ihm zugrunde liegende Denken als Teil des gesellschaftlichen Ganzen betrachtet" (S. 8), denn: "Machtbeziehungen und Herrschaftsverhältnisse drücken sich immer auch in kulturellen Formen aus" (ebd.), aufgefaßt als "System symbolischer Herrschaft" (S. 9), das seinen Ausdruck in einer spezifischen Formen- und Zeichensprache findet [1]. Der regionalgeschichtliche Aspekt wird durch die besondere Entwicklung und die charakteristischen Merkmale insbesondere des hannoverschen Adels bedient, in den bürgerliche "staatspatrizischen" Kreise trotz grosser Bemühungen kaum aufsteigen konnten. In den solcherart abgeschlossenen Adelsfamilien habe sich zudem reicher Grundbesitz konzentriert. Begünstigt durch die dauerhafte Abwesenheit des Landesherrn - Hannover war seit 1744 in Personalunion mit England verbunden - hat sich so eine dominante "Adelskaste" entwickeln können (S. 7).Der Rezensent, der sich mit der spätmittelalterlichen Sozial- und Kulturgeschichte des fürstlichen Adels in internationaler Perspektive auch in theoretischer Hinsicht beschäftigt, manifest in den Phänomenen Hof und Residenz, hat die insgesamt sieben Beiträge nach dieser inhaltsreichen und präzis formulierten Einleitung mit grossem Interesse gelesen - und ist, dies sei vorweggenommen, keineswegs enttäuscht worden: Ein wichtiger Band für die Hofforschung, dessen Ergebnisse mitnichten nur von regionalgeschichtlicher Bedeutung sind.
Jan Hirschbiegel, H-Soz-u-Kult, 4.10.2004
Jan Hirschbiegel, H-Soz-u-Kult, 4.10.2004