13 renommierte Autoren würdigen Stanley Kubrick und seine Filme aus verschiedenen Perspektiven. Das Buch enthält kontroverse Porträts zu Kubrick, ausführliche und streitbare Texte zu allen seinen Filmen - von FEAR AND DESIRE (1953) bis zu EYES WIDE SHUT (1999) -, einen umfangreichen Essay ("Der Stilist") sowie eine detaillierte Filmographie und eine umfassende Bibliographie. Bebildert ist das Buch mit vielen Stand- und Werkfotos, Storyboards und Produktionsskizzen sowie zahlreichen Bildsequenzen (in brillanter Qualität!). Insgesamt enthält das Buch 806 Fotos auf 320 Seiten.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 30.11.1999Dr. Seltsam oder Wie ich lernte, den Film zu lieben
Tiefe Blicke: Stanley Kubrick war ein Außenseiter, wie sich Hollywood ihn wünschte / Von Verena Lueken
Keine Filme der letzten Jahre wurden, wenn auch von unterschiedlichen Zielgruppen, mit größerer Spannung erwartet als George Lukas' "Star Wars - The Phantom Menace" und Stanley Kubricks "Eyes Wide Shut". Sie kamen beide im Sommer dieses Jahres heraus, und trotz des immensen Kassenerfolgs des einen und der immerhin respektvollen Aufnahme des anderen kann man sagen, dass sie eine Enttäuschung waren. Lukas und Kubrick besetzen die extremen Positionen in der Welt des Films - Lukas als die Verkörperung der Industrie arbeitet mit größtem technischen Aufwand an der vollständigen Entliterarisierung eines auch sonst der umfassenden Infantilisierung ausgesetzten Publikums. Bei den vielen hundert Milliarden Dollar, die Filme und aus Filmen entlehnte Produkte von George Lukas inzwischen eingespielt haben, ist es nicht erstaunlich, dass der Regisseur in Hollywood ohne Einschränkung machen kann, was er will.
Kubrick hingegen ist der geheimnisumwitterte Künstler, der unter ebenfalls erheblichem technischen Aufwand auf Zelluloid philosophiert. Da sich die amerikanische Filmindustrie immer ihre Außenseiter gehalten hat (vor allem, wenn sie auch kommerziell erfolgreich waren), genoss Kubrick bei der Produktion seiner Filme uneingeschränkte Freiheit. Wie weit sie ging, zeigen die zum Teil gewaltig überzogenen Budgets und die ins Groteske verlängerten Drehzeiten, die immer wieder verschobenen Premierentermine und natürlich auch das Recht auf den Endschnitt, von dem Kubrick bis nach der Uraufführung Gebrauch machte - "2001" und "Shining" wurden von Kubrick nach den Premieren, "Dr. Seltsam oder Wie ich lernte, die Bombe zu lieben" nach einer Voraufführung in New York zum Teil erheblich gekürzt, und man kann spekulieren, dass auch "Eyes Wide Shut" in den Monaten zwischen März und September, dem ursprünglich geplanten Uraufführungstermin, noch einige Umschnitte erfahren hätte.
Lukas und Kubrik, die ansonsten nicht viel gemein haben, verbindet in ihren so lange erwarteten Filmen dieses Sommers, dass sie merkwürdig aus der Gegenwart gefallen scheinen, als hätten sie ihre Zeitgenossenschaft seit langem aufgegeben. Sie werden, so ist zu vermuten, für die Richtung, die die Zukunft des Kinos nimmt, nicht entscheidend sein. In der Geschichte des Films aber haben sie beide ihren Platz, obwohl die historische Sitzordnung wahrscheinlich verhindert, dass sie sich grüßen.
Stanley Kubrick war, lange bevor er im März kurz nach Vollendung von Schnitt und Tonmischung seines letzten Films starb, eine Legende. Wahrscheinlich seit "Lolita" im Jahr 1962, sicher aber seit "Dr. Seltsam oder Wie ich lernte, die Bombe zu lieben" im Jahr 1963 war jeder seiner Filme ein Ereignis und Letzterer, ebenso wie dann "2001 - Odyssee im Weltraum" und "Shining", auch ein kommerzieller Erfolg. "Eyes Wide Shut" hatte seit 1995 Aufmerksamkeit auf sich gezogen, als bekannt wurde, dass Kubrick das Ehepaar Nicole Kidman und Tom Cruise für die Hauptrollen verpflichten konnte, und "Eyes Wide Shut" blieb ein Ereignis über die lange Phase der Dreharbeiten, die Umbesetzungen und den plötzlichen Tod Kubricks hinaus. Dass dieser Film ein OEuvre abschloss, das mit dreizehn Filmen recht schmal blieb, ist ein Zufall, der zu der ehrfürchtigen Scheu beigetragen haben mag, mit der die Kritiker in Amerika ihre Rezensionen schrieben, und auch die ersten negativen Besprechungen in der deutschen Presse wären wohl weniger vorsichtig ausgefallen, hätte der Regisseur die Chance zu einem nächsten Film gehabt.
In drei Büchern, die in diesem Herbst zu Stanley Kubricks Leben und Werk erschienen sind, finden sich nun detaillierte Analysen von "Eyes Wide Shut" - und wenigstens einer, Andreas Kilb, sagt, bei allem Respekt vor dem Toten, was ist: dass der Film keinen Rhythmus findet, dass Tom Cruise überfordert ist und dass "jeder Blick in die Tiefe durch vordergründige Virtuosität verbaut ist". Alexander Walker hingegen versteigt sich dazu, den "wahren Triumph von ,Eyes Wide Shut' in der außerordentlichen schauspielerischen Qualität" zu sehen. Und für Georg Seeßlen, dessen Verehrung für Kubrick grenzenlos scheint, ist der Film "nicht nur eine Reise in einen Traum oder in ein System der Träume, sondern auch eine Grammatik des Begehrens" - und damit gleichwertiger Teil eines meisterhaften Gesamtwerkes, das mit einem Film begann, der "Fear and Desire", Angst und Begehren, hieß und damit das Thema setzte für sechsundvierzig Jahre Arbeit und zwölf weitere Filme.
Die Bücher von Georg Seeßlen / Fernand Jung und Lars-Olav Beier/Andreas Kilb/Rainer Rother erscheinen im üblichen Monografie-Format, das einige übergreifende Essays mit einer ausführlich kommentierten Filmografie verbindet und mit einer - bei Seeßlen nicht ganz vollständigen - Bibliografie abschließt. In einigen Details sind sich die Autoren nicht einig: Seeßlen schreibt, der frühe Film "Paths of Glory", der im Ersten Weltkrieg spielt und Franzosen auf Franzosen schießen lässt, sei in Frankreich verboten gewesen, ebenso in Israel, der Schweiz und dem französischen Sektor von Berlin. Bei Beier et al. heißt es, niemand habe versucht, den Film 1957/58 durch die französische Zensur zu bringen, und nur deshalb sei der Film erst 1975 in Frankreich in die Kinos gekommen. So viel lässt sich sicher sagen: Kubrick suchte sich bis zum Ende, da die amerikanische Filmbewertungsstelle ihn zu albernen Vertuschungsmanövern in einer sowieso recht unaufregenden Orgienszene in "Eyes Wide Shut" veranlasste, immer wieder Stoffe aus, die für Aufregung sorgten.
Entscheidender als Unstimmigkeiten im Detail sind die Unterschiede im Ansatz zwischen den beiden deutschen Monografien, der bei Beier et al. den filmhistorischen Kontext und den der Populärkultur zumindest teilweise mit einbezieht, während Seeßlen über das Schachspiel als Interpretationsfolie nachsinnt. Auch im Ton sind Beier et al. erheblich distanzierter, mitunter ein wenig teenagerhaft salopp (Hanke und Kilzer zu "Clockwork Orange") und auch von einiger Ungeduld mit der "Gefühllosigkeit" des Regisseurs (Midding zu "Dr. Seltsam"). Gleich zu Beginn spürt man sogar eine gewisse Gereiztheit, wenn Beier von dem "Filmeschöpfer" spricht, der das Kino ins Reich der Kunst führen wollte - was angesichts des Salbaderns auf hoher Note, das die Filme Kubricks oft provozieren, eine freudige Überraschung ist. Seeßlen hingegen entwirft, unter Zuhilfenahme von Nietzsche, Freud, Ralph Waldo Emerson und Verweisen auf die großen Melancholiker der Angst, auf Kafka, Musil, Joseph Roth, ein ganzes philosophisches System, in dem Kubricks Filme eine Heimat (und ihre Größe) finden, weitab von ihrer Produktionswirklichkeit und der Rezeptionswirklichkeit des Publikums.
Seeßlen ist nicht immun gegen den Künstlerkitsch, "dass jeder Film Kubricks zwar einerseits ein gewaltiger innovativer Schritt in Sprache, Technik und Philosophie des Films war, darin zugleich aber auch ein angestrengter und anstrengender Schritt zurück in eine Vergangenheit des Kunstwerks, zurück in eine Zeit, in der das Kunstwerk die einzige Hoffnung, die Erlösung der Gesellschaft in der Ästhetik, die Selbsterlösung des Menschen im Genius" war; in jedem Kubrick-Film sieht er "auch ein Gleichnis auf diese Sehnsucht, im Kunstwerk über sich selbst hinauszugelangen". Trotz dieser gewissen Tragik, die offenbar über dem Werk Kubricks schwebt, wünschte man sich, wenn es zum Beispiel um die Bedeutung des Badezimmers in seinem Schaffen geht, ein wenig Humor und überhaupt mehr nüchterne Information, über Drehzeiten zum Beispiel, die Verhandlungen des in England völlig abgeschieden lebenden Regisseurs mit den Filmstudios, auch über die Budgets.
Doch andererseits arbeitet Seeßlen mit großer Genauigkeit das Doppelgänger-Motiv in Kubricks Filmen heraus, zeigt, wie Kubrick sich zum Genre verhält, dessen Ikonographie er sich bedient, ohne die Mythologien zu übernehmen, und also seine Formeln zerlegt; aus seinen Beobachtungen entwickelt Seeßlen eine Erzählstruktur für Kubricks Filme, die dem dramaturgischen Prinzip anderer Filme wenig ähnlich sieht. Während diese nämlich dem Aufbau "Problem - Retardierung - Klimax - Opfer - Lösung" folgten, gebe es bei Kubrick ein System, das sich selbst zersetze: statt "Tat und Lösung, Schuld und Sühne also System und Störung, Berechnung und Zufall, Vernunft und Leidenschaft". Man könnte auch sagen, Kubrick lege den Wahnsinn im System bloß, im Militär in seinen Kriegsfilmen, in der Gesellschaft in "Clockwork Orange", in der Familie in "Shining", in der Wissenschaft in "2001", in der Liebe in "Eyes Wide Shut". Warum daraus aber folgen soll, dass Kubricks Filme "gar nicht erzählen", bleibt dunkel. Und Seeßlen glaubt auch selbst nicht daran, denn kurz darauf erzählen auch bei ihm Kubricks Filme "von der Krise der Vernunft".
Bei Alexander Walker geht es etwas schlichter zu. Sein Buch zu "Stanley Kubrick. Leben und Werk" war in Amerika bereits ein Klassiker, als Kubrick noch in den Vorbereitungen zu "Barry Lyndon" steckte. Es erschien 1972 und hat den anderen voraus, dass es unter Mitarbeit von Stanley Kubrick selbst entstanden ist und von ihm autorisiert wurde, wobei nicht ganz klar ist, wozu eine solche Autorisierung taugt, da es sich nicht um eine Biografie, sondern um eine kritische Werkgeschichte handelt. Auch in Amerika wurde es in diesem Jahr in einer überarbeiteten und erweiterten Fassung wieder aufgelegt, und der Henschel Verlag hat mit dankenswerter Eile dieses Standardwerk jetzt auch dem deutschen Publikum zugänglich gemacht.
Ins Deutsche übertragen, wirkt das Buch, gerade im Vergleich mit den beiden anderen Monografien, naiver in den Analysen, als es beim Lesen der Originalausgabe schien. Doch von einigen klugen Beobachtungen haben alle, die später über Kubrick schrieben, profitiert - Walker war der Erste, der die immer wiederkehrenden Märchenmotive erwähnte, die Vorliebe Kubricks für Sagen und Mythen, und er war auch der Erste, der die Pechnasen am Dach von Quiltys Schloss in "Lolita" entdeckte. Schon ihm sind die Korridore aufgefallen, durch die Kubricks Kamera gleitet und die als Übergänge in andere Welten funktionieren, in die des Kampfes in "Paths of Glory", des Universums in "2001", des Wahnsinns in "Shining". Und wenn Walker schreibt, dass bei Kubrick der "Mensch winzig ist im Vergleich zum großen Plan der Dinge", kommt das der Frage "Was ist der Mensch?", die Seeßlen im Zentrum von Kubricks Werk sieht, ziemlich nahe (und heißt wenig mehr).
Leider sind in der Übersetzung einige Flüchtigkeitsfehler (Balanchines "City Center Ballett") und nicht wenige Amerikanismen stehen geblieben. "Pathetic", bezogen auf die Figur des Humbert Humbert aus "Lolita", heißt nicht "pathetisch", sondern "jämmerlich", nicht jede "lens" ist eine Linse, und es steht auch nicht die Ernsthaftigkeit des Eierkopfes zur Diskussion, wenn es um die Geistesverfassung des Intellektuellen geht.
Für jeden, der Augen hat, ist offensichtlich, dass die Filme Kubricks um den Blick kreisen. Alex in "Clockwork Orange" blickt unter seinen langen Wimpern gefährlich direkt in die Kamera, das Auge des Computers HAL in "2001" zielt auf den Zuschauer wie ein Gewehrlauf, und am Ende blickt das Sternenkind aus dem All traurig auf die Welt, Danny in "Shining" hat den zweiten Blick - in allen drei Büchern wird daraus ein Zentralmotiv, das dem Werk Kubricks die künstlerische Weihe gibt. Harun Farocki hat angesichts von "Barry Lyndon" geschrieben, dass der Film "25-mal die Außenansicht des gleichen Schlosses bei verschiedenem Licht und in verschiedener Komposition" zeige und man daran erfahren könne, "wie belustigend und borniert diese große Erzählkunst" sei. Ein wenig mehr von dieser Distanz zum Werk, das für Seeßlen einer "Geschichte der Zivilisation" gleichkommt und für Walker einer Widerlegung von Rousseau (der hatte die Menschen als gefallene Engel gesehen, Kubrick zeigt sie als aufrechte Affen), wäre willkommen gewesen.
Alexander Walker: "Stanley Kubrick. Leben und Werk". Mit einer Bildanalyse von Sybil Taylor und Ulrich Ruchti. Aus dem Englischen übersetzt von May Mergenthaler und Henning Thies. Henschel Verlag, Berlin 1999. 383 S., geb., Abb., 58,- DM.
Lars-Olav Beier / Andreas Kilb / Rainer Rother u. a.: "Stanley Kubrick". Dieter Bertz Verlag, Berlin 1999. 319 S., br., Abb., 29,80 DM.
Georg Seeßlen / Fernand Jung: "Stanley Kubrick und seine Filme". Schüren, Marburg 1999. 320 S., br., Abb., 34,- DM.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Tiefe Blicke: Stanley Kubrick war ein Außenseiter, wie sich Hollywood ihn wünschte / Von Verena Lueken
Keine Filme der letzten Jahre wurden, wenn auch von unterschiedlichen Zielgruppen, mit größerer Spannung erwartet als George Lukas' "Star Wars - The Phantom Menace" und Stanley Kubricks "Eyes Wide Shut". Sie kamen beide im Sommer dieses Jahres heraus, und trotz des immensen Kassenerfolgs des einen und der immerhin respektvollen Aufnahme des anderen kann man sagen, dass sie eine Enttäuschung waren. Lukas und Kubrick besetzen die extremen Positionen in der Welt des Films - Lukas als die Verkörperung der Industrie arbeitet mit größtem technischen Aufwand an der vollständigen Entliterarisierung eines auch sonst der umfassenden Infantilisierung ausgesetzten Publikums. Bei den vielen hundert Milliarden Dollar, die Filme und aus Filmen entlehnte Produkte von George Lukas inzwischen eingespielt haben, ist es nicht erstaunlich, dass der Regisseur in Hollywood ohne Einschränkung machen kann, was er will.
Kubrick hingegen ist der geheimnisumwitterte Künstler, der unter ebenfalls erheblichem technischen Aufwand auf Zelluloid philosophiert. Da sich die amerikanische Filmindustrie immer ihre Außenseiter gehalten hat (vor allem, wenn sie auch kommerziell erfolgreich waren), genoss Kubrick bei der Produktion seiner Filme uneingeschränkte Freiheit. Wie weit sie ging, zeigen die zum Teil gewaltig überzogenen Budgets und die ins Groteske verlängerten Drehzeiten, die immer wieder verschobenen Premierentermine und natürlich auch das Recht auf den Endschnitt, von dem Kubrick bis nach der Uraufführung Gebrauch machte - "2001" und "Shining" wurden von Kubrick nach den Premieren, "Dr. Seltsam oder Wie ich lernte, die Bombe zu lieben" nach einer Voraufführung in New York zum Teil erheblich gekürzt, und man kann spekulieren, dass auch "Eyes Wide Shut" in den Monaten zwischen März und September, dem ursprünglich geplanten Uraufführungstermin, noch einige Umschnitte erfahren hätte.
Lukas und Kubrik, die ansonsten nicht viel gemein haben, verbindet in ihren so lange erwarteten Filmen dieses Sommers, dass sie merkwürdig aus der Gegenwart gefallen scheinen, als hätten sie ihre Zeitgenossenschaft seit langem aufgegeben. Sie werden, so ist zu vermuten, für die Richtung, die die Zukunft des Kinos nimmt, nicht entscheidend sein. In der Geschichte des Films aber haben sie beide ihren Platz, obwohl die historische Sitzordnung wahrscheinlich verhindert, dass sie sich grüßen.
Stanley Kubrick war, lange bevor er im März kurz nach Vollendung von Schnitt und Tonmischung seines letzten Films starb, eine Legende. Wahrscheinlich seit "Lolita" im Jahr 1962, sicher aber seit "Dr. Seltsam oder Wie ich lernte, die Bombe zu lieben" im Jahr 1963 war jeder seiner Filme ein Ereignis und Letzterer, ebenso wie dann "2001 - Odyssee im Weltraum" und "Shining", auch ein kommerzieller Erfolg. "Eyes Wide Shut" hatte seit 1995 Aufmerksamkeit auf sich gezogen, als bekannt wurde, dass Kubrick das Ehepaar Nicole Kidman und Tom Cruise für die Hauptrollen verpflichten konnte, und "Eyes Wide Shut" blieb ein Ereignis über die lange Phase der Dreharbeiten, die Umbesetzungen und den plötzlichen Tod Kubricks hinaus. Dass dieser Film ein OEuvre abschloss, das mit dreizehn Filmen recht schmal blieb, ist ein Zufall, der zu der ehrfürchtigen Scheu beigetragen haben mag, mit der die Kritiker in Amerika ihre Rezensionen schrieben, und auch die ersten negativen Besprechungen in der deutschen Presse wären wohl weniger vorsichtig ausgefallen, hätte der Regisseur die Chance zu einem nächsten Film gehabt.
In drei Büchern, die in diesem Herbst zu Stanley Kubricks Leben und Werk erschienen sind, finden sich nun detaillierte Analysen von "Eyes Wide Shut" - und wenigstens einer, Andreas Kilb, sagt, bei allem Respekt vor dem Toten, was ist: dass der Film keinen Rhythmus findet, dass Tom Cruise überfordert ist und dass "jeder Blick in die Tiefe durch vordergründige Virtuosität verbaut ist". Alexander Walker hingegen versteigt sich dazu, den "wahren Triumph von ,Eyes Wide Shut' in der außerordentlichen schauspielerischen Qualität" zu sehen. Und für Georg Seeßlen, dessen Verehrung für Kubrick grenzenlos scheint, ist der Film "nicht nur eine Reise in einen Traum oder in ein System der Träume, sondern auch eine Grammatik des Begehrens" - und damit gleichwertiger Teil eines meisterhaften Gesamtwerkes, das mit einem Film begann, der "Fear and Desire", Angst und Begehren, hieß und damit das Thema setzte für sechsundvierzig Jahre Arbeit und zwölf weitere Filme.
Die Bücher von Georg Seeßlen / Fernand Jung und Lars-Olav Beier/Andreas Kilb/Rainer Rother erscheinen im üblichen Monografie-Format, das einige übergreifende Essays mit einer ausführlich kommentierten Filmografie verbindet und mit einer - bei Seeßlen nicht ganz vollständigen - Bibliografie abschließt. In einigen Details sind sich die Autoren nicht einig: Seeßlen schreibt, der frühe Film "Paths of Glory", der im Ersten Weltkrieg spielt und Franzosen auf Franzosen schießen lässt, sei in Frankreich verboten gewesen, ebenso in Israel, der Schweiz und dem französischen Sektor von Berlin. Bei Beier et al. heißt es, niemand habe versucht, den Film 1957/58 durch die französische Zensur zu bringen, und nur deshalb sei der Film erst 1975 in Frankreich in die Kinos gekommen. So viel lässt sich sicher sagen: Kubrick suchte sich bis zum Ende, da die amerikanische Filmbewertungsstelle ihn zu albernen Vertuschungsmanövern in einer sowieso recht unaufregenden Orgienszene in "Eyes Wide Shut" veranlasste, immer wieder Stoffe aus, die für Aufregung sorgten.
Entscheidender als Unstimmigkeiten im Detail sind die Unterschiede im Ansatz zwischen den beiden deutschen Monografien, der bei Beier et al. den filmhistorischen Kontext und den der Populärkultur zumindest teilweise mit einbezieht, während Seeßlen über das Schachspiel als Interpretationsfolie nachsinnt. Auch im Ton sind Beier et al. erheblich distanzierter, mitunter ein wenig teenagerhaft salopp (Hanke und Kilzer zu "Clockwork Orange") und auch von einiger Ungeduld mit der "Gefühllosigkeit" des Regisseurs (Midding zu "Dr. Seltsam"). Gleich zu Beginn spürt man sogar eine gewisse Gereiztheit, wenn Beier von dem "Filmeschöpfer" spricht, der das Kino ins Reich der Kunst führen wollte - was angesichts des Salbaderns auf hoher Note, das die Filme Kubricks oft provozieren, eine freudige Überraschung ist. Seeßlen hingegen entwirft, unter Zuhilfenahme von Nietzsche, Freud, Ralph Waldo Emerson und Verweisen auf die großen Melancholiker der Angst, auf Kafka, Musil, Joseph Roth, ein ganzes philosophisches System, in dem Kubricks Filme eine Heimat (und ihre Größe) finden, weitab von ihrer Produktionswirklichkeit und der Rezeptionswirklichkeit des Publikums.
Seeßlen ist nicht immun gegen den Künstlerkitsch, "dass jeder Film Kubricks zwar einerseits ein gewaltiger innovativer Schritt in Sprache, Technik und Philosophie des Films war, darin zugleich aber auch ein angestrengter und anstrengender Schritt zurück in eine Vergangenheit des Kunstwerks, zurück in eine Zeit, in der das Kunstwerk die einzige Hoffnung, die Erlösung der Gesellschaft in der Ästhetik, die Selbsterlösung des Menschen im Genius" war; in jedem Kubrick-Film sieht er "auch ein Gleichnis auf diese Sehnsucht, im Kunstwerk über sich selbst hinauszugelangen". Trotz dieser gewissen Tragik, die offenbar über dem Werk Kubricks schwebt, wünschte man sich, wenn es zum Beispiel um die Bedeutung des Badezimmers in seinem Schaffen geht, ein wenig Humor und überhaupt mehr nüchterne Information, über Drehzeiten zum Beispiel, die Verhandlungen des in England völlig abgeschieden lebenden Regisseurs mit den Filmstudios, auch über die Budgets.
Doch andererseits arbeitet Seeßlen mit großer Genauigkeit das Doppelgänger-Motiv in Kubricks Filmen heraus, zeigt, wie Kubrick sich zum Genre verhält, dessen Ikonographie er sich bedient, ohne die Mythologien zu übernehmen, und also seine Formeln zerlegt; aus seinen Beobachtungen entwickelt Seeßlen eine Erzählstruktur für Kubricks Filme, die dem dramaturgischen Prinzip anderer Filme wenig ähnlich sieht. Während diese nämlich dem Aufbau "Problem - Retardierung - Klimax - Opfer - Lösung" folgten, gebe es bei Kubrick ein System, das sich selbst zersetze: statt "Tat und Lösung, Schuld und Sühne also System und Störung, Berechnung und Zufall, Vernunft und Leidenschaft". Man könnte auch sagen, Kubrick lege den Wahnsinn im System bloß, im Militär in seinen Kriegsfilmen, in der Gesellschaft in "Clockwork Orange", in der Familie in "Shining", in der Wissenschaft in "2001", in der Liebe in "Eyes Wide Shut". Warum daraus aber folgen soll, dass Kubricks Filme "gar nicht erzählen", bleibt dunkel. Und Seeßlen glaubt auch selbst nicht daran, denn kurz darauf erzählen auch bei ihm Kubricks Filme "von der Krise der Vernunft".
Bei Alexander Walker geht es etwas schlichter zu. Sein Buch zu "Stanley Kubrick. Leben und Werk" war in Amerika bereits ein Klassiker, als Kubrick noch in den Vorbereitungen zu "Barry Lyndon" steckte. Es erschien 1972 und hat den anderen voraus, dass es unter Mitarbeit von Stanley Kubrick selbst entstanden ist und von ihm autorisiert wurde, wobei nicht ganz klar ist, wozu eine solche Autorisierung taugt, da es sich nicht um eine Biografie, sondern um eine kritische Werkgeschichte handelt. Auch in Amerika wurde es in diesem Jahr in einer überarbeiteten und erweiterten Fassung wieder aufgelegt, und der Henschel Verlag hat mit dankenswerter Eile dieses Standardwerk jetzt auch dem deutschen Publikum zugänglich gemacht.
Ins Deutsche übertragen, wirkt das Buch, gerade im Vergleich mit den beiden anderen Monografien, naiver in den Analysen, als es beim Lesen der Originalausgabe schien. Doch von einigen klugen Beobachtungen haben alle, die später über Kubrick schrieben, profitiert - Walker war der Erste, der die immer wiederkehrenden Märchenmotive erwähnte, die Vorliebe Kubricks für Sagen und Mythen, und er war auch der Erste, der die Pechnasen am Dach von Quiltys Schloss in "Lolita" entdeckte. Schon ihm sind die Korridore aufgefallen, durch die Kubricks Kamera gleitet und die als Übergänge in andere Welten funktionieren, in die des Kampfes in "Paths of Glory", des Universums in "2001", des Wahnsinns in "Shining". Und wenn Walker schreibt, dass bei Kubrick der "Mensch winzig ist im Vergleich zum großen Plan der Dinge", kommt das der Frage "Was ist der Mensch?", die Seeßlen im Zentrum von Kubricks Werk sieht, ziemlich nahe (und heißt wenig mehr).
Leider sind in der Übersetzung einige Flüchtigkeitsfehler (Balanchines "City Center Ballett") und nicht wenige Amerikanismen stehen geblieben. "Pathetic", bezogen auf die Figur des Humbert Humbert aus "Lolita", heißt nicht "pathetisch", sondern "jämmerlich", nicht jede "lens" ist eine Linse, und es steht auch nicht die Ernsthaftigkeit des Eierkopfes zur Diskussion, wenn es um die Geistesverfassung des Intellektuellen geht.
Für jeden, der Augen hat, ist offensichtlich, dass die Filme Kubricks um den Blick kreisen. Alex in "Clockwork Orange" blickt unter seinen langen Wimpern gefährlich direkt in die Kamera, das Auge des Computers HAL in "2001" zielt auf den Zuschauer wie ein Gewehrlauf, und am Ende blickt das Sternenkind aus dem All traurig auf die Welt, Danny in "Shining" hat den zweiten Blick - in allen drei Büchern wird daraus ein Zentralmotiv, das dem Werk Kubricks die künstlerische Weihe gibt. Harun Farocki hat angesichts von "Barry Lyndon" geschrieben, dass der Film "25-mal die Außenansicht des gleichen Schlosses bei verschiedenem Licht und in verschiedener Komposition" zeige und man daran erfahren könne, "wie belustigend und borniert diese große Erzählkunst" sei. Ein wenig mehr von dieser Distanz zum Werk, das für Seeßlen einer "Geschichte der Zivilisation" gleichkommt und für Walker einer Widerlegung von Rousseau (der hatte die Menschen als gefallene Engel gesehen, Kubrick zeigt sie als aufrechte Affen), wäre willkommen gewesen.
Alexander Walker: "Stanley Kubrick. Leben und Werk". Mit einer Bildanalyse von Sybil Taylor und Ulrich Ruchti. Aus dem Englischen übersetzt von May Mergenthaler und Henning Thies. Henschel Verlag, Berlin 1999. 383 S., geb., Abb., 58,- DM.
Lars-Olav Beier / Andreas Kilb / Rainer Rother u. a.: "Stanley Kubrick". Dieter Bertz Verlag, Berlin 1999. 319 S., br., Abb., 29,80 DM.
Georg Seeßlen / Fernand Jung: "Stanley Kubrick und seine Filme". Schüren, Marburg 1999. 320 S., br., Abb., 34,- DM.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
"Verena Lueken bespricht den Band zusammen mit zwei weiteren Büchern über Stanley Kubrick.
1) Lars-Olav Beier, Andreas Kilb, Rainer Rother u.a.: "Stanley Kubrick"
An diesem Buch gefällt Lueken die zwar respektvolle, aber nicht ehrfürchtige Art des Argumentierens. Der Band sei frei vom "Salbadern auf hoher Note, das die Filme Kubricks oft produzieren". Andreas Kilb zum Beispiel spreche offen aus, dass "Eyes Wide Shut" letztlich eine Enttäuschung gewesen sei - Tom Cruise sei in seiner Rolle überfordert. Beier weise auf die Wichtigkeit der Populärkultur bei Kubrick hin. Gerhard Midding, ein weiterer Autor des Bandes, spreche gar die "Gefühllosigkeit" des Regisseurs an.
2) Alexander Walker: "Stanley Kubrick. Leben und Werk" (Henschel Verlag)
Walkers Monographie stellt Lueken als einen Klassiker dar und betont, dass sie 1972 im Original zuerst erschien und dass es sich hier um eine aktualisierte Neubearbeitung handele, die nun dankenswerterweise im Henschel Verlag herausgebracht wurde. Walkers Analysen findet Lueken zwar manchmal naiv, aber sie betont die Verdienste des Bandes. Walker habe zum Beispiel als erster die filmische Bedeutung von Korridoren bei Kubrick benannt, die schon in "Paths of Glory", aber auch noch in "Eyes Wide Shut" einen Übergang von einer Welt in die andere darstellten.
3) Georg Seeßlen, Ferdinand Jung: "Stanley Kubrick und seine Filme" (Schüren Verlag)
Bei dem Band von Seeßlen und Jung stellt Lueken einen philosophischeren Ton fest, dem sie nicht immer folgen mag. Der Band sei ganz und gar frei von Humor, nüchterne Informationen, etwa über Drehzeiten, würden über der Anstrengung des Begriffs oft vergessen. Trotzdem findet sie einige Passagen bei Seeßlen - etwa über das Doppelgängermotiv bei Kubrick - äußerst erhellend. Auch seine Erörterungen über Kubricks Dramaturgie stoßen auf ihr Interesse.
Alle drei Bände enthalten nach Angaben der Rezensentin eine kommentierte Filmografie und Bibliografie, letztere sei bei Seeßlen nicht ganz komplett.
©
1) Lars-Olav Beier, Andreas Kilb, Rainer Rother u.a.: "Stanley Kubrick"
An diesem Buch gefällt Lueken die zwar respektvolle, aber nicht ehrfürchtige Art des Argumentierens. Der Band sei frei vom "Salbadern auf hoher Note, das die Filme Kubricks oft produzieren". Andreas Kilb zum Beispiel spreche offen aus, dass "Eyes Wide Shut" letztlich eine Enttäuschung gewesen sei - Tom Cruise sei in seiner Rolle überfordert. Beier weise auf die Wichtigkeit der Populärkultur bei Kubrick hin. Gerhard Midding, ein weiterer Autor des Bandes, spreche gar die "Gefühllosigkeit" des Regisseurs an.
2) Alexander Walker: "Stanley Kubrick. Leben und Werk" (Henschel Verlag)
Walkers Monographie stellt Lueken als einen Klassiker dar und betont, dass sie 1972 im Original zuerst erschien und dass es sich hier um eine aktualisierte Neubearbeitung handele, die nun dankenswerterweise im Henschel Verlag herausgebracht wurde. Walkers Analysen findet Lueken zwar manchmal naiv, aber sie betont die Verdienste des Bandes. Walker habe zum Beispiel als erster die filmische Bedeutung von Korridoren bei Kubrick benannt, die schon in "Paths of Glory", aber auch noch in "Eyes Wide Shut" einen Übergang von einer Welt in die andere darstellten.
3) Georg Seeßlen, Ferdinand Jung: "Stanley Kubrick und seine Filme" (Schüren Verlag)
Bei dem Band von Seeßlen und Jung stellt Lueken einen philosophischeren Ton fest, dem sie nicht immer folgen mag. Der Band sei ganz und gar frei von Humor, nüchterne Informationen, etwa über Drehzeiten, würden über der Anstrengung des Begriffs oft vergessen. Trotzdem findet sie einige Passagen bei Seeßlen - etwa über das Doppelgängermotiv bei Kubrick - äußerst erhellend. Auch seine Erörterungen über Kubricks Dramaturgie stoßen auf ihr Interesse.
Alle drei Bände enthalten nach Angaben der Rezensentin eine kommentierte Filmografie und Bibliografie, letztere sei bei Seeßlen nicht ganz komplett.
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"Ein ultimatives Buch, das den ganzen Kubrick auseinander nimmt und wieder zusammensetzt. Es gibt Jubel, aber auch viel Ärger. Mit anderen Worten: Das Buch geht auf kritische Distanz. ... möglicherweise sind es gerade Kubricks Defizite, die den Charme seines Werks ausmachen." (die tageszeitung, 14.9.1999) "Fabelhaft!" (KinoKino, Bayerischer Rundfunk) "Der durch seine seine ausführliche Bibliographie und Filmographie mit Plakatmotiven hervorstechende Band enthält rares Text- und Bildmaterial." (Berliner Morgenpost)