Filmmusik wird kaum als eigenständiges künstlerisches Element wahrgenommen, versteckt sich hinter den dominierenden Bildern. "Erst wenn sie fehlt, fällt sie auf", sagt man scherzhaft. Und doch trägt sie in entscheidender Weise zur Vertiefung des Erlebnisses Film bei, gräbt sich tiefer in das Bewusstsein der Zuschauer ein als vermutet. Viele Motive aus berühmten Filmen sind zu Ohrwürmern geworden, verbinden sich in der Erinnerung untrennbar mit Handlung und Darstellern. Man denke nur an "Doktor Schiwago" oder "Spiel mir das Lied vom Tod".Matthias Keller, Autor des Buches, ist der Experte auf dem Gebiet. Er nimmt die Filmmusik als eigene künstlerische Größe ernst, reißt sie aus ihrem Incognito, indem er Techniken beschreibt, Wirkungen benennt und konkrete Kompositionen in Beziehung zum Film stellt. So entsteht die dritte Dimension des Kinos, die der flachen Leinwand die Tiefe hinzufügt. All dies geschieht nicht lexikalisch trocken, sondern flüssig formuliert, informativ und spannend. Ein ausführliches Sach- und Personenregister und ein Filmregister mit den Komponisten machen das Buch auch als Nachschlagwerk nutzbar.Matthias Keller(1956) lebt als freier Musikjournalist in München. Filmmusik ist seit Jahren ein Schwerpunkt seiner Arbeit. Zahlreiche Publikationen, Radiosendungen und Vortragsreihen, persönliche Kontakte mit den führenden Filmkomponisten sowie seine praktische Tätigkeit als Musikberater einer Fernsehanstalt weisen ihn als "den" Experten auf diesem Gebiet aus.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 13.03.1997Wie Webern exorzieren half
Die dritte Kinodimension: Matthias Keller über Filmmusik
Nach der Lektüre von Matthias Kellers "Stars and Sounds" weiß man nicht nur, daß Alex North zu Stanley Kubricks "2001 - Odyssee im Weltraum" eine Filmmusik komponierte, die zwar in London aufgenommen, aber im Film nicht verwendet wurde; man weiß auch, was Mickeymousing ist, wie musikalische Leitmotive im Film verwendet werden, wie Räumlichkeit, Stimmungen und nachgerade physische Wirkungen durch Filmmusik erzeugt werden. Keller will keinen wissenschaftlichen oder historischen Abriß der Filmmusik geben. Er erläutert in lockeren, manchmal allzu assoziativ geordneten Kapiteln die Funktion und Verwendung von Filmmusik. Obwohl er sich explizit an den musikalischen Laien wendet, verzichtet der Autor nicht auf detaillierte analytische Hinweise. Die wichtigsten Fachausdrücke werden in einem kleinen Anhang knapp erläutert.
Freilich wirkt es zuweilen, als wolle sich Keller beim Leser anbiedern, wenn er vor jedes Wort, das im Verdacht steht, der durchschnittlichen Umgangssprache nicht anzugehören, ein "sogenannt" setzt. Auch sonst hätte das wache Auge eines Lektors manche Wiederholungen und sprachlichen Kalauer verhindern können (so etwa die Bemerkung, in Hitchcocks "Rebecca" werde die Kammerzofe Mrs. Danvers "gemeinsam mit Rebeccas Thema von der Feuersbrunst dahingerafft"). Die Bemerkungen über Komponisten wie Wagner oder Mahler gehen kaum über Platitüden hinaus. Dennoch wird deutlich, daß die Filmmusik zunächst nahtlos an die Oper des neunzehnten Jahrhunderts anknüpfte und im zwanzigsten Jahrhundert nicht abseits der Musikgeschichte stand: Sowohl Strawinsky wie auch Schönberg gaben den Filmmusikkomponisten wichtige Impulse.
Die Stärke des Buches liegt aber zweifellos in den Erläuterungen zu Filmen, die jeder kennt und die man mittlerweile auch immer wieder im Fernsehen sehen kann: daß "Pretty Woman" schon in den ersten Minuten als Komödie zu erkennen ist, verdankt sich der Filmmusik. Kellers Gedankenexperiment, der eröffnenden Sequenz dieses Films den main title aus "In the Line of Fire" zu unterlegen, ist mehr als bloße Spielerei, verdeutlicht es doch, daß mit dieser Musik die Wahrnehmung des Zuschauers in eine vollkommen andere Richtung gelenkt würde. Es ist nachgerade der Sinn von Filmmusik, den Zuschauer durch die Steuerung seiner Wahrnehmung zu manipulieren. Aber auch das Mickeymousing der dreißiger und vierziger Jahre - gemeint ist damit die musikalische Illustration von Bewegungsvorgängen - ist noch keineswegs aus der Mode gekommen, sondern feierte ein Comeback in Actionfilmen wie "Demolition Man".
Zu Recht kritisiert Keller, daß gerade im Fernsehen, in dem die credits chronisch unterschlagen werden, die Namen der Filmkomponisten nicht mehr feststellbar sind. Wer will, kann sie darum in Kellers Anhang nachschlagen. Das eigentliche Verdienst des Buches ist jedoch, daß man angeregt wird, die großen Hollywood-Filme noch einmal zu sehen oder, besser, zu hören: Mancher Zuschauer wird erst nach der Lektüre von Kellers Buch erkennen, daß sich schnelle Zeitabläufe und der Eindruck enger Räume allein der Filmmusik verdanken. Und wer weiß schon, daß er im "Exorzisten" Musik von Krzysztof Penderecki, Anton Webern, Hans Werner Henze und George Crumb hörte? MICHAEL WALTER
Matthias Keller: "Stars and Sounds". Filmmusik - Die dritte Kinodimension. Bärenreiter Verlag / Gustav Bosse Verlag, Kassel 1996. 192 S., br., 29,80 DM.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Die dritte Kinodimension: Matthias Keller über Filmmusik
Nach der Lektüre von Matthias Kellers "Stars and Sounds" weiß man nicht nur, daß Alex North zu Stanley Kubricks "2001 - Odyssee im Weltraum" eine Filmmusik komponierte, die zwar in London aufgenommen, aber im Film nicht verwendet wurde; man weiß auch, was Mickeymousing ist, wie musikalische Leitmotive im Film verwendet werden, wie Räumlichkeit, Stimmungen und nachgerade physische Wirkungen durch Filmmusik erzeugt werden. Keller will keinen wissenschaftlichen oder historischen Abriß der Filmmusik geben. Er erläutert in lockeren, manchmal allzu assoziativ geordneten Kapiteln die Funktion und Verwendung von Filmmusik. Obwohl er sich explizit an den musikalischen Laien wendet, verzichtet der Autor nicht auf detaillierte analytische Hinweise. Die wichtigsten Fachausdrücke werden in einem kleinen Anhang knapp erläutert.
Freilich wirkt es zuweilen, als wolle sich Keller beim Leser anbiedern, wenn er vor jedes Wort, das im Verdacht steht, der durchschnittlichen Umgangssprache nicht anzugehören, ein "sogenannt" setzt. Auch sonst hätte das wache Auge eines Lektors manche Wiederholungen und sprachlichen Kalauer verhindern können (so etwa die Bemerkung, in Hitchcocks "Rebecca" werde die Kammerzofe Mrs. Danvers "gemeinsam mit Rebeccas Thema von der Feuersbrunst dahingerafft"). Die Bemerkungen über Komponisten wie Wagner oder Mahler gehen kaum über Platitüden hinaus. Dennoch wird deutlich, daß die Filmmusik zunächst nahtlos an die Oper des neunzehnten Jahrhunderts anknüpfte und im zwanzigsten Jahrhundert nicht abseits der Musikgeschichte stand: Sowohl Strawinsky wie auch Schönberg gaben den Filmmusikkomponisten wichtige Impulse.
Die Stärke des Buches liegt aber zweifellos in den Erläuterungen zu Filmen, die jeder kennt und die man mittlerweile auch immer wieder im Fernsehen sehen kann: daß "Pretty Woman" schon in den ersten Minuten als Komödie zu erkennen ist, verdankt sich der Filmmusik. Kellers Gedankenexperiment, der eröffnenden Sequenz dieses Films den main title aus "In the Line of Fire" zu unterlegen, ist mehr als bloße Spielerei, verdeutlicht es doch, daß mit dieser Musik die Wahrnehmung des Zuschauers in eine vollkommen andere Richtung gelenkt würde. Es ist nachgerade der Sinn von Filmmusik, den Zuschauer durch die Steuerung seiner Wahrnehmung zu manipulieren. Aber auch das Mickeymousing der dreißiger und vierziger Jahre - gemeint ist damit die musikalische Illustration von Bewegungsvorgängen - ist noch keineswegs aus der Mode gekommen, sondern feierte ein Comeback in Actionfilmen wie "Demolition Man".
Zu Recht kritisiert Keller, daß gerade im Fernsehen, in dem die credits chronisch unterschlagen werden, die Namen der Filmkomponisten nicht mehr feststellbar sind. Wer will, kann sie darum in Kellers Anhang nachschlagen. Das eigentliche Verdienst des Buches ist jedoch, daß man angeregt wird, die großen Hollywood-Filme noch einmal zu sehen oder, besser, zu hören: Mancher Zuschauer wird erst nach der Lektüre von Kellers Buch erkennen, daß sich schnelle Zeitabläufe und der Eindruck enger Räume allein der Filmmusik verdanken. Und wer weiß schon, daß er im "Exorzisten" Musik von Krzysztof Penderecki, Anton Webern, Hans Werner Henze und George Crumb hörte? MICHAEL WALTER
Matthias Keller: "Stars and Sounds". Filmmusik - Die dritte Kinodimension. Bärenreiter Verlag / Gustav Bosse Verlag, Kassel 1996. 192 S., br., 29,80 DM.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
"Das eigentliche Verdienst des Buches ist jedoch, daß man angeregt wird, die großen Hollywood-Filme noch einmal zu sehen oder, besser, zu hören: Mancher Zuschauer wird erst nach der Lektüre von Kellers Buch erkennen, daß sich schnelle Zeitabläufe und der Eindruck enger Räume allein der Filmmusik verdanken." (FAZ, 13.3.1997)
"Was Keller zuerst einmal kann, ist schreiben, beschreiben, Filmszenen, die dazu passende Musik, und zwar kann er das so, daß man sowohl den Film vor seinem geistigen Auge sieht als auch die Musik irgendwo da drinnen hört." (ORF, 5.7.1997)
"... nicht nur für Filmenthusiasten, sondern auch für Musikliebhaber interessant ..." (Neue Musikzeitung 2/99)
"Was Keller zuerst einmal kann, ist schreiben, beschreiben, Filmszenen, die dazu passende Musik, und zwar kann er das so, daß man sowohl den Film vor seinem geistigen Auge sieht als auch die Musik irgendwo da drinnen hört." (ORF, 5.7.1997)
"... nicht nur für Filmenthusiasten, sondern auch für Musikliebhaber interessant ..." (Neue Musikzeitung 2/99)