Als Kind verbringt Jonas Blaum ein Jahr in Saudi-Arabien - der Vater, ein Mediziner, verfolgt in Riad seine eigenwilligen Vorstellungen von Heilung. Den Deutschen fällt es nicht leicht, sich den ungewohnten Landessitten anzupassen, und als eines Tages das jüngste Kind der Blaums spurlos verschwindet und wenig später verstört und sprachlos wiederauftaucht, kehrt die Familie überstürzt nach Deutschland zurück.
Im Sommer 2014 reist Jonas Blaum, mittlerweile selbst Arzt, suchtkrank und von Zweifeln geplagt, erneut in den Nahen Osten, diesmal nach Amman. Dort wird ihm ein Junge in die Obhut gegeben, der ihn an den größten Verlust seines Lebens erinnert. Blaum kann dem Kind nicht helfen, und als er den Jungen bei einem Aufenthalt in Jerusalem verliert, ergibt sich für den Arzt ein beängstigender Verdacht.
In bedrängenden Bildern erzählt Svenja Leiber von einer individuellen Katastrophe und der einer ganzen Region. Der Wettlauf um das Leben eines Kindes wird dabei zum Sinnbild für einen doppelten Kampf: gegen die Erstarrung des Einzelnen im Korsett gesellschaftlicher Zuschreibungen, gegen die Macht symbolischer Ordnungen und überalterter Systeme.
Im Sommer 2014 reist Jonas Blaum, mittlerweile selbst Arzt, suchtkrank und von Zweifeln geplagt, erneut in den Nahen Osten, diesmal nach Amman. Dort wird ihm ein Junge in die Obhut gegeben, der ihn an den größten Verlust seines Lebens erinnert. Blaum kann dem Kind nicht helfen, und als er den Jungen bei einem Aufenthalt in Jerusalem verliert, ergibt sich für den Arzt ein beängstigender Verdacht.
In bedrängenden Bildern erzählt Svenja Leiber von einer individuellen Katastrophe und der einer ganzen Region. Der Wettlauf um das Leben eines Kindes wird dabei zum Sinnbild für einen doppelten Kampf: gegen die Erstarrung des Einzelnen im Korsett gesellschaftlicher Zuschreibungen, gegen die Macht symbolischer Ordnungen und überalterter Systeme.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 17.04.2018Eine Idee macht noch kein Höhlengleichnis
Ein unheimlicher Alter, ein stummer Tomboy, ein schmerzsüchtiger Arzt: Den Figuren im Roman "Staub" beschert Svenja Leiber einen dialektischen Tornado.
Staub ist ein ergiebiges literarisches Motiv. Denn aus dem Staub kommen wir, und zu Staub werden wir, und staubig geht die Welt zugrunde. In Staub kann man außerdem alles Mögliche hineinzeichnen: die Menschheitsgeschichte, die Religionsgeschichte, die modernen Konflikte zwischen autoritären Wüstenstaaten und dem auf sandigen Füßen stehenden Liberalismus des Westens. Svenja Leibers Roman ist ein großer Wirbelsturm, der durch die Wüste des dialektischen Denkens fegt. Kleinste Partikel der größten Fragen werden darin in neue Zusammenhänge gewirbelt. Und zwar in Saudi-Arabien, Jordanien, dem Westjordanland und Berlin, das schließlich auch auf Sand gebaut ist.
Zentrale Figur des Romans ist der deutsche Arzt Jonas Blaum. Als Kind hat er in Riad gelebt wie auch die Autorin selbst. Der Vater sollte dort ein Krankenhaus aufbauen. Bald schon findet die Familie sich aber in einem goldenen Käfig wieder, der niemanden froh macht. Dafür jeden unfroh auf seine Weise. Das Unfrohsein gipfelt in der Geschichte von Jonas' kleiner Schwester Semjon, die lieber ein Junge sein wollte und auch selbstbewusst so auftrat. Bis Semjon eines Tages spurlos in der Wüste verschwindet. Bei der unverhofften Rückkehr des Kindes ist es verstummt. Mehr wird nicht erzählt. Wie überhaupt wenig erzählt wird in "Staub", einem Roman, dessen Mitteilungsprinzip in der beredten Auslassung liegt. Einmal, viel später, heißt es, Semjon habe eine "Kategorienflucht" begangen. Gemeint ist: Die Zuweisung zu einem Geschlecht, poststrukturalistischen feministischen Lesarten zufolge eine gewaltsame Zurichtung des Körpers, wird von dem Kind zurückgewiesen. Semjon entzieht sich den herkömmlichen sozialen Kategorien, indem sie das Reden einstellt.
Die These ist steil. Aber der Erzählantrieb stark genug, um sie an die Romanoberfläche zu befördern. Als Jonas Blaum von einem ehemaligen Kommilitonen nach Amman gelockt wird, häufen sich die antiidentitären Symbolakte. Ein Kind namens Alim leidet an einer seltsamen Generkrankung, die den Alterungsprozess dramatisch beschleunigt. Trotz gerontologischer Expertise ist auch Jonas nicht in der Lage, das Kind eines Sufimeisters zu retten. Der edle Gnom begibt sich wie ehedem Semjon auf die Flucht. Er brennt in Israel, wo er in ein Krankenhaus gebracht werden soll, mit einem auf Seelenwanderung spezialisierten jüdischen Mädchen durch. Der Showdown nahe der Qumranhölen im heutigen Westjordanland verweist schließlich auf die großen Vereinigungs- wie auch Trennungsprozesse unserer Kulturgeschichte. "Im Niemandsland, am Jordan, dessen Existenz ja sogar, wenn man an seinem Ufer steht, wenig bis gar nicht glaubwürdig erscheint, ja, am Jordan liegt ein Mann auf der Suche." Kann es nun, so suggeriert der Roman, ausgerechnet an diesem Ort Heilung, Versöhnung, Verschmelzung geben?
Zurück zu den Spielarten der symbolischen Formen: Da ist also auf der einen Seite das Kind, das sein Geschlecht ablegen wollte und in der falschen Haut lebte. Dieses Kind wird gespiegelt in dem zum Sterben verdammten Kind-Greis Alim. Ein unheimlicher Alter also, ein stummer Tomboy, ein schmerzsüchtiger Arzt, ein Sufi, ein paar Frauen, nach denen Jonas Blaum sich in unterschiedlicher Dringlichkeit sehnt - das Personal dieses zerebralen Romans verweigert sich nicht nur der realistischen Erzählweise, sondern es begeht selbst Kategorienflucht. Binäre Codes sind der Autorin von "Staub" verdächtig, somit also auch ihren Figuren. Morgenland und Abendland, Mann und Frau, alt und jung, Schulmedizin und Brauchtum, Aufklärung und Frömmigkeit - die Pole werden ausgerichtet, damit man über sie ins Grübeln kommt. Aber worüber soll man in einem Roman grübeln, der einen in nahezu jedem Satz mit Bildrätseln ("In deinem Bauch nun also eine kleine, nackte Weltformel"), verarmten Handlungssträngen (Was wurde aus Semjon?) und Judith-Butler-Sufismus ("auf Identität verzichten") in die Enge treibt?
Es schwirrt einem der Kopf. So gern man sich inspirieren lassen möchte: Eine Idee macht noch kein Höhlengleichnis. Eine Theorie noch keine Romanhandlung. Kann man einem kleinen Mädchen, das lieber ein Junge wäre, wirkliche "Kategorienflucht" unterstellen? Wie glaubwürdig ist es, dass der Bruder Semjons Verstummen zum Anlass seiner Lebensmüdigkeit macht? Zumal über die Familiensituation kaum ein Wort verloren wird. Der Konflikt, der Jonas Blaum vor sich her- und ihn in die Selbstzerstörung treibt, bleibt derart unterbetont, dass die Einfühlung in diese Erzählerfigur nicht gelingen will.
Das ist schade, denn "Staub" hat durchaus etwas zu bieten. Was ist Identität, wenn sie nichts als ein elendiges Konstrukt ist? Dies ist eine der großen Fragen, die auch die postmoderne Theoriebildung umgetrieben hat. Eine Frage, die alle religiösen, nationalen, kulturellen Abgrenzungen begründet, die der Roman stellt, ohne eine Antwort darauf zu finden.
So zerfließt alles in der Prätention tiefer Bedeutsamkeit. Die Verwerfung ist ebenso wahrscheinlich wie die Auferstehung. Weltfriede ebenso wahrscheinlich wie Weltkrieg. Man steht am Ende seltsam von dieser klugen Autorin verlassen in der Wüste, fragt sich, was für ein Buch man da gelesen hat. Sein bleischwerer Inhalt zerrinnt einem wie Sand zwischen den Fingern.
KATHARINA TEUTSCH
Svenja Leiber: "Staub". Roman.
Suhrkamp Verlag, Berlin 2018.
247 S., geb. 22,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Ein unheimlicher Alter, ein stummer Tomboy, ein schmerzsüchtiger Arzt: Den Figuren im Roman "Staub" beschert Svenja Leiber einen dialektischen Tornado.
Staub ist ein ergiebiges literarisches Motiv. Denn aus dem Staub kommen wir, und zu Staub werden wir, und staubig geht die Welt zugrunde. In Staub kann man außerdem alles Mögliche hineinzeichnen: die Menschheitsgeschichte, die Religionsgeschichte, die modernen Konflikte zwischen autoritären Wüstenstaaten und dem auf sandigen Füßen stehenden Liberalismus des Westens. Svenja Leibers Roman ist ein großer Wirbelsturm, der durch die Wüste des dialektischen Denkens fegt. Kleinste Partikel der größten Fragen werden darin in neue Zusammenhänge gewirbelt. Und zwar in Saudi-Arabien, Jordanien, dem Westjordanland und Berlin, das schließlich auch auf Sand gebaut ist.
Zentrale Figur des Romans ist der deutsche Arzt Jonas Blaum. Als Kind hat er in Riad gelebt wie auch die Autorin selbst. Der Vater sollte dort ein Krankenhaus aufbauen. Bald schon findet die Familie sich aber in einem goldenen Käfig wieder, der niemanden froh macht. Dafür jeden unfroh auf seine Weise. Das Unfrohsein gipfelt in der Geschichte von Jonas' kleiner Schwester Semjon, die lieber ein Junge sein wollte und auch selbstbewusst so auftrat. Bis Semjon eines Tages spurlos in der Wüste verschwindet. Bei der unverhofften Rückkehr des Kindes ist es verstummt. Mehr wird nicht erzählt. Wie überhaupt wenig erzählt wird in "Staub", einem Roman, dessen Mitteilungsprinzip in der beredten Auslassung liegt. Einmal, viel später, heißt es, Semjon habe eine "Kategorienflucht" begangen. Gemeint ist: Die Zuweisung zu einem Geschlecht, poststrukturalistischen feministischen Lesarten zufolge eine gewaltsame Zurichtung des Körpers, wird von dem Kind zurückgewiesen. Semjon entzieht sich den herkömmlichen sozialen Kategorien, indem sie das Reden einstellt.
Die These ist steil. Aber der Erzählantrieb stark genug, um sie an die Romanoberfläche zu befördern. Als Jonas Blaum von einem ehemaligen Kommilitonen nach Amman gelockt wird, häufen sich die antiidentitären Symbolakte. Ein Kind namens Alim leidet an einer seltsamen Generkrankung, die den Alterungsprozess dramatisch beschleunigt. Trotz gerontologischer Expertise ist auch Jonas nicht in der Lage, das Kind eines Sufimeisters zu retten. Der edle Gnom begibt sich wie ehedem Semjon auf die Flucht. Er brennt in Israel, wo er in ein Krankenhaus gebracht werden soll, mit einem auf Seelenwanderung spezialisierten jüdischen Mädchen durch. Der Showdown nahe der Qumranhölen im heutigen Westjordanland verweist schließlich auf die großen Vereinigungs- wie auch Trennungsprozesse unserer Kulturgeschichte. "Im Niemandsland, am Jordan, dessen Existenz ja sogar, wenn man an seinem Ufer steht, wenig bis gar nicht glaubwürdig erscheint, ja, am Jordan liegt ein Mann auf der Suche." Kann es nun, so suggeriert der Roman, ausgerechnet an diesem Ort Heilung, Versöhnung, Verschmelzung geben?
Zurück zu den Spielarten der symbolischen Formen: Da ist also auf der einen Seite das Kind, das sein Geschlecht ablegen wollte und in der falschen Haut lebte. Dieses Kind wird gespiegelt in dem zum Sterben verdammten Kind-Greis Alim. Ein unheimlicher Alter also, ein stummer Tomboy, ein schmerzsüchtiger Arzt, ein Sufi, ein paar Frauen, nach denen Jonas Blaum sich in unterschiedlicher Dringlichkeit sehnt - das Personal dieses zerebralen Romans verweigert sich nicht nur der realistischen Erzählweise, sondern es begeht selbst Kategorienflucht. Binäre Codes sind der Autorin von "Staub" verdächtig, somit also auch ihren Figuren. Morgenland und Abendland, Mann und Frau, alt und jung, Schulmedizin und Brauchtum, Aufklärung und Frömmigkeit - die Pole werden ausgerichtet, damit man über sie ins Grübeln kommt. Aber worüber soll man in einem Roman grübeln, der einen in nahezu jedem Satz mit Bildrätseln ("In deinem Bauch nun also eine kleine, nackte Weltformel"), verarmten Handlungssträngen (Was wurde aus Semjon?) und Judith-Butler-Sufismus ("auf Identität verzichten") in die Enge treibt?
Es schwirrt einem der Kopf. So gern man sich inspirieren lassen möchte: Eine Idee macht noch kein Höhlengleichnis. Eine Theorie noch keine Romanhandlung. Kann man einem kleinen Mädchen, das lieber ein Junge wäre, wirkliche "Kategorienflucht" unterstellen? Wie glaubwürdig ist es, dass der Bruder Semjons Verstummen zum Anlass seiner Lebensmüdigkeit macht? Zumal über die Familiensituation kaum ein Wort verloren wird. Der Konflikt, der Jonas Blaum vor sich her- und ihn in die Selbstzerstörung treibt, bleibt derart unterbetont, dass die Einfühlung in diese Erzählerfigur nicht gelingen will.
Das ist schade, denn "Staub" hat durchaus etwas zu bieten. Was ist Identität, wenn sie nichts als ein elendiges Konstrukt ist? Dies ist eine der großen Fragen, die auch die postmoderne Theoriebildung umgetrieben hat. Eine Frage, die alle religiösen, nationalen, kulturellen Abgrenzungen begründet, die der Roman stellt, ohne eine Antwort darauf zu finden.
So zerfließt alles in der Prätention tiefer Bedeutsamkeit. Die Verwerfung ist ebenso wahrscheinlich wie die Auferstehung. Weltfriede ebenso wahrscheinlich wie Weltkrieg. Man steht am Ende seltsam von dieser klugen Autorin verlassen in der Wüste, fragt sich, was für ein Buch man da gelesen hat. Sein bleischwerer Inhalt zerrinnt einem wie Sand zwischen den Fingern.
KATHARINA TEUTSCH
Svenja Leiber: "Staub". Roman.
Suhrkamp Verlag, Berlin 2018.
247 S., geb. 22,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
»Svenja Leibers Roman ist ein großer Wirbelsturm, der durch die Wüste des dialektischen Denkens fegt.« Katharina Teutsch Frankfurter Allgemeine Zeitung 20180417