Der Briefwechsel zwischen Stefan George und Ernst Morwitz erschließt neue Facetten des Dichters und seines Kreises. Sichtbar wird eine ebenbürtige Freundschafts- und Liebesbeziehung zwischen George und dem jungen jüdischen Juristen, der in der Weimarer Republik zu einem hochrangigen Richter aufstieg. Die Briefe zeigen, dass durch Morwitz Jugend und Pädagogik im George-Kreis eine wachsende Bedeutung neben Dichtung und Wissenschaft zukam.
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 20.02.2020Herr! Ich ehre Sie, ich ehre Ihre Werke
Der Dichter schreibt an den Meister: Zum ersten Mal ist der erhaltene Briefwechsel von Stefan George und Ernst Morwitz vollständig nachzulesen
Ein Schatz ist gehoben worden, der lange in der New York Public Library verschlossen war: Stefan Georges Briefe an seinen Geliebten und Freund Ernst Morwitz. Zusammen mit Briefen, die Morwitz von 1905 bis 1933 an den Dichter geschrieben hat und die im Stefan George Archiv seit langem zugänglich waren, sind nun beide Briefcorpora in einem stattlichen Band vereint, herausgegeben von Ute Oelmann und Carola Groppe.
Sie haben in der Zeit, die seit der "Entdeckung" der George-Briefe im Jahr 2012 vergangen ist, mit der Edition eine großartige Leistung erbracht. Eine Fülle neuer Erkenntnisse wird erschlossen über die Person Georges, seinen Kreis und die Rolle, die Ernst Morwitz darin gespielt hat. Weit umfassender als in Briefwechseln Georges mit anderen, ihm ebenfalls Nahestehenden, wird hier die Entstehung und Entwicklung des Kreises zum "Staat", als welcher er vom Dichter selbst und dessen Jüngern überhöht wurde, erkennbar. Insofern kann man von diesem Band zu Recht als einem "Staatsbuch" des George-Kreises sprechen.
Es umfasst 320 Briefe, Postkarten und Notizen Georges sowie 225 Briefe und andere Schriftstücke, darunter auch zahlreiche Gedichte, von Ernst Morwitz. Aus manchen Textzusammenhängen der Briefe ist zu schließen, dass es sowohl von George wie von Morwitz noch mehr Schreiben gegeben haben muss, die nicht überliefert sind. Die Briefe Georges haben ihre besondere Geschichte: Morwitz sah sich als Jude 1938 zur Emigration in die Vereinigten Staaten gezwungen. Seinen Briefschatz hatte er vor der Ausreise seinem Zögling und Freund, dem Schweden Sven-Erik Bergh (1912 bis 2008), anvertraut, dem er das Konvolut per Diplomatenpost von Berlin nach Stockholm übersenden ließ. Von dort erhielt Morwitz in seinem Exilort Durham, North Carolina, die Briefe unversehrt zurück. Er vermachte sie dem Kurator für griechische und römische Kunst am New Yorker Metropolitan Museum, Dietrich von Bothmer (1918 bis 2009), der ihm seit den dreißiger Jahren verbunden war. Dieser übergab die Briefe der New York Public Library mit einer manche George-Forscher beunruhigenden Sperrfrist, die zum Glück im Jahr 2012 aufgehoben worden ist.
Einzigartig an diesem Nachlass ist das von Morwitz verfasste "Briefbuch" im Folioformat, in dem er die Briefe Georges auf der rechten Seite abgeschrieben, auf der linken Seite kommentiert und erläutert, oft auch zu datieren versucht hat. Zusätzlich finden sich dort kulturelle und soziale Informationen und Geschichten, Gedanken über die Welt, Philosophie und Literatur wie auch Einzelheiten zu Georges Lebensstil und Klatsch aus seinem Umkreis. Manche Kommentare und Datierungshinweise sind sehr nützlich, manche Bemerkungen führen jedoch in die Irre oder sind schlicht falsch. Wohl deshalb scheinen die Herausgeberinnen das Briefbuch nur mit Zurückhaltung ausgewertet zu haben, manchmal zu Unrecht dort, wo sie Morwitz' Ausführungen besser vertraut und damit Fehler bei der Datierung der Briefe oder bei der Identifizierung von Personen vermieden hätten. Jedenfalls sind die vierhundert eng beschriebenen Seiten des Briefbuchs eine Fundgrube für künftige kritische Morwitz-Biographen oder Arbeiter und Arbeiterinnen auf der Dauerbaustelle der George-Forschung.
Ernst Morwitz wurde am 13. September 1887 in Danzig als Sohn jüdischer Eltern geboren. Der Vater war Makler von Grundstücks- und Geldgeschäften. Der junge Morwitz besuchte ein altsprachliches Gymnasium in Danzig. Nach dem Tod des Vaters im Jahr 1902 bezog er in Charlottenburg bei Berlin das humanistische Kaiserin-Augusta-Gymnasium, an dem er 1906 das Abitur bestand. Er studierte Jura in Freiburg, Berlin und Heidelberg. Nach den juristischen Examina wurde er im Juli 1914 in Heidelberg promoviert. Im Ersten Weltkrieg diente er als freiwilliger Krankenpfleger an der Front in Flandern. Nach 1918 machte er am obersten preußischen Gericht Karriere. Seine Stellung als Kammergerichtsrat verlor er 1935 auf Grund der antisemitischen Bestimmungen des "Reichsbürgergesetzes". Kurz vor dem Novemberpogrom 1938 gelang ihm die Ausreise in die Vereinigten Staaten. Dort war Morwitz von 1939 an zunächst an der Duke University in Durham, North Carolina, seit 1942 dann als Sprachlehrer an der University of North Carolina in Chapel Hill tätig. 1947 wurde er amerikanischer Staatsbürger. Die Bundesrepublik Deutschland ernannte ihn im Zuge der "Wiedergutmachung" 1952 rückwirkend zum Jahr 1940 zum Senatspräsidenten des Kammergerichts. Dadurch materiell abgesichert, konnte er 1956 seine Lehrtätigkeit aufgeben, 1957 nach New York ziehen und von da an nicht nur regelmäßig in den Sommermonaten Europa besuchen, sondern auch seine bedeutenden Kommentare zum Werk Stefan Georges verfassen und veröffentlichen. Morwitz starb 1971 im schweizerischen Muralto, im selben Krankenhaus wie sein Freund und geliebter Meister George.
Die Beziehung und damit der Briefwechsel zwischen beiden begann 1905, als der sechzehnjährige Gymnasiast dem siebenunddreißigjährigen Dichter ein eigenes Gedicht zur Begutachtung schickte, begleitet von einem Brief, der so begann: "Herr! Ich ehre Sie, ich ehre Ihre Werke, ich ehr' die Dichter, die auch Sie verehren. Sie sind mein Vorbild, Sie und Meister Verhaeren. . . ." George antwortete "in freundlicher geneigtheit" mit der Bitte um weitere Lyrikproben. Drei Monate später - George redete Morwitz inzwischen mit "lieber Dichter" an und Morwitz George mit "mein Meister" - wurde der Schüler von George in das Atelier Melchior Lechters bestellt, auf Herkunft und Charakter geprüft - und für gut befunden. Es entsteht, zunächst brieflich, eine zunehmende Vertrautheit, aus den folgenden Begegnungen eine stürmische Liebe, die sich in späteren Jahren zur unerschütterlichen Freundschaft wandelt. Im Kreis galt er als "der große Ernst" oder "Groß-Inquisitor", Letzteres wegen seines Urteilsvermögens in Bezug auf Menschen und dichterische Produktionen.
Natürlich steht die Liebes- und Freundschaftsbeziehung von George zu Morwitz im Vordergrund dieses Briefwechsels. Dessen Bedeutung liegt aber auch darin, dass hier für George wichtige Beziehungen zu anderen Personen des Kreises schärfer gezeichnet werden. Von Mitte der zwanziger Jahre an, als Morwitz aus dem Zentrum des Kreises mehr und mehr an den Rand gedrängt wird, bekommen die Briefe zunehmend geschäftlichen Charakter. George nimmt immer öfter die juristischen Kenntnisse und lebenspraktischen Fähigkeiten seines Freundes in Anspruch. So erledigt dieser weitgehend die Steuerangelegenheiten des Dichters. Morwitz berät ihn auch mit großer Geduld in den zähen Verhandlungen mit dem Verleger Georg Bondi (1865 bis 1935), dem George misstraut. Die Briefe der dreißiger Jahre drehen sich vor allem um die Errichtung einer Stiftung, in die George die Rechte an seinen Werken und am Nachlass einbringen will. Auch hierbei steht Morwitz ihm juristisch zur Seite, zusammen mit dem späteren Erben Robert Boehringer.
Als Besonderheit der hier veröffentlichten Briefe Georges heben die Herausgeberinnen den Unterschied zu den bekannten, knappen, formal strengen Briefen etwa in den Korrespondenzen mit Friedrich Gundolf, Friedrich Wolters oder Karl und Hanna Wolfskehl hervor. Sie diagnostizieren eine für George ungewöhnliche Emotionalisierung, Poetisierung und Verinnerlichung der Briefsprache, die sich auch in der Form und im Schriftduktus widerspiegeln.
In jüngerer Zeit ist auf fragwürdige Weise von den neu bekanntgewordenen Sexualpraktiken und Vergewaltigungen im Kreis des Amsterdamer Castrum Peregrini auf die Rolle des "pädagogischen Eros" im George-Kreis rückgeschlossen worden. Der "Gründungsmythos" des Castrum Peregrini war die Fiktion, eine authentische Nachfolgegemeinschaft des George-Kreises zu sein. Vor diesem Hintergrund sind die breiten Ausführungen der Herausgeberinnen zu Freundschaft, Liebe, Eros, Pädophilie, Pädagogik und zu vermuteter, aber nicht belegbarer sexualisierter Gewalt im George-Kreis zu sehen. Ob diese kritische tour d'horizon durch die Problemfelder Entscheidendes, Neues und über Vermutungen Hinausgehendes zum Thema Sexualität im George-Kreis hergibt und manches Gemunkel in dieser Hinsicht zum Verstummen bringen wird, muss sich zeigen.
Das Buch ist das Resultat mühevoller Arbeit, die die beiden Herausgeberinnen mit Bravour geleistet haben, trotz einiger sinnentstellender Fehler. Dass der Verlag einem derart wichtigen Buch einen so schäbig gedruckten Bildteil beigibt, ist unverzeihlich. Es ändert aber nichts an der Bewunderung, die dieses Buch verdient, und an dem Vergnügen, das sein Studium bereitet.
ECKHART GRÜNEWALD
Ute Oelmann, Carola Groppe (Hrsg.): "Stefan George - Ernst Morwitz". Briefwechsel (1905-1933).
Walter de Gruyter, Berlin 2019. 628 S., Abb., geb., 99,95 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Der Dichter schreibt an den Meister: Zum ersten Mal ist der erhaltene Briefwechsel von Stefan George und Ernst Morwitz vollständig nachzulesen
Ein Schatz ist gehoben worden, der lange in der New York Public Library verschlossen war: Stefan Georges Briefe an seinen Geliebten und Freund Ernst Morwitz. Zusammen mit Briefen, die Morwitz von 1905 bis 1933 an den Dichter geschrieben hat und die im Stefan George Archiv seit langem zugänglich waren, sind nun beide Briefcorpora in einem stattlichen Band vereint, herausgegeben von Ute Oelmann und Carola Groppe.
Sie haben in der Zeit, die seit der "Entdeckung" der George-Briefe im Jahr 2012 vergangen ist, mit der Edition eine großartige Leistung erbracht. Eine Fülle neuer Erkenntnisse wird erschlossen über die Person Georges, seinen Kreis und die Rolle, die Ernst Morwitz darin gespielt hat. Weit umfassender als in Briefwechseln Georges mit anderen, ihm ebenfalls Nahestehenden, wird hier die Entstehung und Entwicklung des Kreises zum "Staat", als welcher er vom Dichter selbst und dessen Jüngern überhöht wurde, erkennbar. Insofern kann man von diesem Band zu Recht als einem "Staatsbuch" des George-Kreises sprechen.
Es umfasst 320 Briefe, Postkarten und Notizen Georges sowie 225 Briefe und andere Schriftstücke, darunter auch zahlreiche Gedichte, von Ernst Morwitz. Aus manchen Textzusammenhängen der Briefe ist zu schließen, dass es sowohl von George wie von Morwitz noch mehr Schreiben gegeben haben muss, die nicht überliefert sind. Die Briefe Georges haben ihre besondere Geschichte: Morwitz sah sich als Jude 1938 zur Emigration in die Vereinigten Staaten gezwungen. Seinen Briefschatz hatte er vor der Ausreise seinem Zögling und Freund, dem Schweden Sven-Erik Bergh (1912 bis 2008), anvertraut, dem er das Konvolut per Diplomatenpost von Berlin nach Stockholm übersenden ließ. Von dort erhielt Morwitz in seinem Exilort Durham, North Carolina, die Briefe unversehrt zurück. Er vermachte sie dem Kurator für griechische und römische Kunst am New Yorker Metropolitan Museum, Dietrich von Bothmer (1918 bis 2009), der ihm seit den dreißiger Jahren verbunden war. Dieser übergab die Briefe der New York Public Library mit einer manche George-Forscher beunruhigenden Sperrfrist, die zum Glück im Jahr 2012 aufgehoben worden ist.
Einzigartig an diesem Nachlass ist das von Morwitz verfasste "Briefbuch" im Folioformat, in dem er die Briefe Georges auf der rechten Seite abgeschrieben, auf der linken Seite kommentiert und erläutert, oft auch zu datieren versucht hat. Zusätzlich finden sich dort kulturelle und soziale Informationen und Geschichten, Gedanken über die Welt, Philosophie und Literatur wie auch Einzelheiten zu Georges Lebensstil und Klatsch aus seinem Umkreis. Manche Kommentare und Datierungshinweise sind sehr nützlich, manche Bemerkungen führen jedoch in die Irre oder sind schlicht falsch. Wohl deshalb scheinen die Herausgeberinnen das Briefbuch nur mit Zurückhaltung ausgewertet zu haben, manchmal zu Unrecht dort, wo sie Morwitz' Ausführungen besser vertraut und damit Fehler bei der Datierung der Briefe oder bei der Identifizierung von Personen vermieden hätten. Jedenfalls sind die vierhundert eng beschriebenen Seiten des Briefbuchs eine Fundgrube für künftige kritische Morwitz-Biographen oder Arbeiter und Arbeiterinnen auf der Dauerbaustelle der George-Forschung.
Ernst Morwitz wurde am 13. September 1887 in Danzig als Sohn jüdischer Eltern geboren. Der Vater war Makler von Grundstücks- und Geldgeschäften. Der junge Morwitz besuchte ein altsprachliches Gymnasium in Danzig. Nach dem Tod des Vaters im Jahr 1902 bezog er in Charlottenburg bei Berlin das humanistische Kaiserin-Augusta-Gymnasium, an dem er 1906 das Abitur bestand. Er studierte Jura in Freiburg, Berlin und Heidelberg. Nach den juristischen Examina wurde er im Juli 1914 in Heidelberg promoviert. Im Ersten Weltkrieg diente er als freiwilliger Krankenpfleger an der Front in Flandern. Nach 1918 machte er am obersten preußischen Gericht Karriere. Seine Stellung als Kammergerichtsrat verlor er 1935 auf Grund der antisemitischen Bestimmungen des "Reichsbürgergesetzes". Kurz vor dem Novemberpogrom 1938 gelang ihm die Ausreise in die Vereinigten Staaten. Dort war Morwitz von 1939 an zunächst an der Duke University in Durham, North Carolina, seit 1942 dann als Sprachlehrer an der University of North Carolina in Chapel Hill tätig. 1947 wurde er amerikanischer Staatsbürger. Die Bundesrepublik Deutschland ernannte ihn im Zuge der "Wiedergutmachung" 1952 rückwirkend zum Jahr 1940 zum Senatspräsidenten des Kammergerichts. Dadurch materiell abgesichert, konnte er 1956 seine Lehrtätigkeit aufgeben, 1957 nach New York ziehen und von da an nicht nur regelmäßig in den Sommermonaten Europa besuchen, sondern auch seine bedeutenden Kommentare zum Werk Stefan Georges verfassen und veröffentlichen. Morwitz starb 1971 im schweizerischen Muralto, im selben Krankenhaus wie sein Freund und geliebter Meister George.
Die Beziehung und damit der Briefwechsel zwischen beiden begann 1905, als der sechzehnjährige Gymnasiast dem siebenunddreißigjährigen Dichter ein eigenes Gedicht zur Begutachtung schickte, begleitet von einem Brief, der so begann: "Herr! Ich ehre Sie, ich ehre Ihre Werke, ich ehr' die Dichter, die auch Sie verehren. Sie sind mein Vorbild, Sie und Meister Verhaeren. . . ." George antwortete "in freundlicher geneigtheit" mit der Bitte um weitere Lyrikproben. Drei Monate später - George redete Morwitz inzwischen mit "lieber Dichter" an und Morwitz George mit "mein Meister" - wurde der Schüler von George in das Atelier Melchior Lechters bestellt, auf Herkunft und Charakter geprüft - und für gut befunden. Es entsteht, zunächst brieflich, eine zunehmende Vertrautheit, aus den folgenden Begegnungen eine stürmische Liebe, die sich in späteren Jahren zur unerschütterlichen Freundschaft wandelt. Im Kreis galt er als "der große Ernst" oder "Groß-Inquisitor", Letzteres wegen seines Urteilsvermögens in Bezug auf Menschen und dichterische Produktionen.
Natürlich steht die Liebes- und Freundschaftsbeziehung von George zu Morwitz im Vordergrund dieses Briefwechsels. Dessen Bedeutung liegt aber auch darin, dass hier für George wichtige Beziehungen zu anderen Personen des Kreises schärfer gezeichnet werden. Von Mitte der zwanziger Jahre an, als Morwitz aus dem Zentrum des Kreises mehr und mehr an den Rand gedrängt wird, bekommen die Briefe zunehmend geschäftlichen Charakter. George nimmt immer öfter die juristischen Kenntnisse und lebenspraktischen Fähigkeiten seines Freundes in Anspruch. So erledigt dieser weitgehend die Steuerangelegenheiten des Dichters. Morwitz berät ihn auch mit großer Geduld in den zähen Verhandlungen mit dem Verleger Georg Bondi (1865 bis 1935), dem George misstraut. Die Briefe der dreißiger Jahre drehen sich vor allem um die Errichtung einer Stiftung, in die George die Rechte an seinen Werken und am Nachlass einbringen will. Auch hierbei steht Morwitz ihm juristisch zur Seite, zusammen mit dem späteren Erben Robert Boehringer.
Als Besonderheit der hier veröffentlichten Briefe Georges heben die Herausgeberinnen den Unterschied zu den bekannten, knappen, formal strengen Briefen etwa in den Korrespondenzen mit Friedrich Gundolf, Friedrich Wolters oder Karl und Hanna Wolfskehl hervor. Sie diagnostizieren eine für George ungewöhnliche Emotionalisierung, Poetisierung und Verinnerlichung der Briefsprache, die sich auch in der Form und im Schriftduktus widerspiegeln.
In jüngerer Zeit ist auf fragwürdige Weise von den neu bekanntgewordenen Sexualpraktiken und Vergewaltigungen im Kreis des Amsterdamer Castrum Peregrini auf die Rolle des "pädagogischen Eros" im George-Kreis rückgeschlossen worden. Der "Gründungsmythos" des Castrum Peregrini war die Fiktion, eine authentische Nachfolgegemeinschaft des George-Kreises zu sein. Vor diesem Hintergrund sind die breiten Ausführungen der Herausgeberinnen zu Freundschaft, Liebe, Eros, Pädophilie, Pädagogik und zu vermuteter, aber nicht belegbarer sexualisierter Gewalt im George-Kreis zu sehen. Ob diese kritische tour d'horizon durch die Problemfelder Entscheidendes, Neues und über Vermutungen Hinausgehendes zum Thema Sexualität im George-Kreis hergibt und manches Gemunkel in dieser Hinsicht zum Verstummen bringen wird, muss sich zeigen.
Das Buch ist das Resultat mühevoller Arbeit, die die beiden Herausgeberinnen mit Bravour geleistet haben, trotz einiger sinnentstellender Fehler. Dass der Verlag einem derart wichtigen Buch einen so schäbig gedruckten Bildteil beigibt, ist unverzeihlich. Es ändert aber nichts an der Bewunderung, die dieses Buch verdient, und an dem Vergnügen, das sein Studium bereitet.
ECKHART GRÜNEWALD
Ute Oelmann, Carola Groppe (Hrsg.): "Stefan George - Ernst Morwitz". Briefwechsel (1905-1933).
Walter de Gruyter, Berlin 2019. 628 S., Abb., geb., 99,95 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
"Sie [Ute Oelmann und Carola Groppe] haben in der Zeit, dei seit der "Entdeckung" der George-Briefe im Jahr 2012 vergangen ist, mit der Edition eine großartige Leistung erbracht."
Eckhart Grünewald in: FAZ (20.02.2020), 10
Eckhart Grünewald in: FAZ (20.02.2020), 10