Wer war, wer ist Stefan Zweig? Ulrich Weinzierl, ein Kenner der Literaturgeschichte des 20. Jahrhunderts, zeigt den melancholischen Zeitzeugen der "Welt von Gestern" ganz privat: Wie schaffte es Friderike Maria von Winternitz, aus dem passionierten Junggesellen einen Ehemann zu machen? War der Verfasser der Novelle "Verwirrung der Gefühle" in Wahrheit ein verklemmter Homosexueller, und was war das "brennende" Geheimnis seines Lebens? Lauter heikle Fragen und der Versuch einer Antwort. Eine intime Biografie des Schriftstellers und "Psychologen aus Leidenschaft", eine Geschichte seiner Freundschaften - von Sigmund Freud bis Klaus Mann - und eine Geschichte des Verrats.
Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
Lothar Müller folgt Ulrich Weinzierl zunächst mit Spannung, wenn dieser das Gerücht umkreist und schließlich bestätigt, Stefan Zweig sei Exhibitionist gewesen. Zur Spannung trägt laut Müller bei, dass der Autor mit seinen Quellen eher detektivisch erzählend denn philologisch verfährt und dass er den Exhibitionismus nicht isoliert, sondern als Teil der sexuellen Biografie Stefan Zweigs betrachtet. Wenn Weinzierl Zweigs Selbstmord "suggestiv" an den Endpunkt dieser Entwicklung stellt, möchte der Rezensent dem Autor allerdings nicht folgen.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 24.09.2015Prachtentfaltung eines Pfaus
Ulrich Weinzierl kommt Stefan Zweigs "brennendem Geheimnis" auf die Schliche. Aber dem Detektiv unterlaufen auch Ermittlungsfehler.
Stefan Zweigs Erzählungen, die biographischen Essays sowie seine Autobiographie "Die Welt von gestern" erfreuen sich noch immer weltweiter Beliebtheit. Der "New Yorker" erwies ihm siebzig Jahre nach seinem Suizid im brasilianischen Exil 2012 daher die Ehre eines langen Essays unter dem bezeichnenden Titel "The Escape Artist". Da wurde der Mythos des eleganten und distanzierten typischen Wieners durch den der fragilen, gequälten Seele ersetzt. Ein Buch, das die Lüftung der Geheimnisse dieses literarischen Eskapisten verspricht, darf auf viele neugierige Leser in aller Welt hoffen.
Ulrich Weinzierl, der vielfach ausgewiesene Kenner der Wiener Moderne, legt seine biographische Abhandlung wie eine Kriminalgeschichte mit suspense an, die den Leser auf falsche Fährten führt und beträchtlich auf die Folter spannt. Ermittlungsarbeit betreibt Weinzierl aber schon in den Szenen der Ehe Zweigs mit seiner ersten Frau Friderike, geschiedene von Winternitz, die ihn nicht nur mit List und Tücke an sich band, sondern sich als verbliebene Witwe mit allen Mitteln der Zensur und der Fälschung die Deutungshoheit über Zweigs Leben sicherte. Sie war es, die ihn einen "Allversteher" nannte. Wie er die grauenvoll pathetischen Texte seiner intriganten Angetrauten nicht nur aushielt, sondern auch noch lobte, bestätigt die ihm nachgesagte Großzügigkeit. Zweig erscheint hier als ein aktiver sexueller Freigeist, was aber zwischen den Eheleuten so wenig ein Geheimnis war wie in der Literatur über den Dichter.
Im Mittelteil des Buchs geht es um "Verwirrung der Gefühle". Weinzierl geht den Gerüchten nach, dass der Mann, der die Frauen liebte, besonders die jungen, eigentlich schwul gewesen sei. Dabei kommt allerlei mehr oder weniger Interessantes über Zweigs verständnisvolle Freundschaft mit homosexuellen Männern wie Klaus Mann heraus. Über einige Lappalien gleichgeschlechtlicher Praxis im Freien hinaus erscheint eine ausgeprägte homosexuelle Veranlagung Zweigs aber abwegig. Die "Gilde" der Homosexuellen seiner Zeit war ihm, Weinzierl zufolge, sogar eher "ziemlich zuwider". Von einem brennenden Geheimnis ist jedenfalls in dieser Beziehung und nach fast zwei Dritteln des Buches immer noch keine Rede.
Dann naht das Finale. Zunächst mit der Vernehmung einer längst bekannten Briefstelle Thomas Manns von 1954, die dem Romancier nach wie vor keine Ehre macht. "Der weltberühmteste deutsche Schriftsteller der jüngst vergangenen Zeit, Stefan Zweig, soll Exhibitionist gewesen sein. Mir hat er es nicht gestanden, aber in der Intimität weiß man es ... Höchst sonderbar! Ich gestehe, daß gerade vor dieser Passion mein Verständnis halt macht, während es sonst ziemlich weit reicht." Weinzierl zufolge könnte das Gerücht über Klaus Mann an den Vater gekommen sein. Dass Zweig sich wirklich exhibitionistisch betätigte, wurde aber von dem Psychiater Thomas Haenel, Verfasser einer Studie zu Zweigs Seelenleben, als unglaubwürdig abgetan. Für die Biographen Donald Prater und Oliver Matuschek waren eher die Erinnerungen Benno Geigers von 1958 die Quelle des Verdachts, den aber beide mit Hinweis auf Geigers Unzuverlässigkeit für unbegründet hielten.
Die Auflösung erinnert an Edgar Allan Poes Geschichte vom entwendeten Brief. Der "Beweis", so Weinzierl in der Rolle des Detektivs Dupin, liege offen zutage. Er sei aber bisher übersehen respektive überlesen worden. Es handele sich nämlich gleich um die erste erhaltene Eintragung von Zweigs Tagebuch vom 10. September 1912: "Dann spazieren, Liechtenstein, schaup. Das Object zu jung noch ohne tieferes Interesse, mehr frappiert als schon an richtiger psychologischer Stelle erfaßt." Die Abkürzung löst Weinzierl zu der merkwürdigen Bildung "Schauprangertum" auf. Das sei die vom Dichter erfundene Bezeichnung für seine exhibitionistische Neigung. Das frappiert zunächst den Leser, doch leistet sich der Detektiv hier einen Doppelfehler. Der Begriff stammt nämlich gar nicht von Zweig, sondern findet sich nur in den Memoiren seines charakterlosen Freundes Benno Geiger, dem in der Zweig-Biographie von Oliver Matuschek "blühende Phantasie" bescheinigt wird. Auch Weinzierl "attestiert ihm betrübliches Niveau", um trotzdem auf ihn hereinzufallen.
Weinzierl zitiert später einen Brief Zweigs an ebenjenen Geiger, scheint aber den Unterschied in der Begriffsverwendung nicht zu bemerken. In dem Schreiben entschuldigt sich Zweig für Zeitmangel, ihm seien "vier Stunden Arbeit nicht vier Stunden sondern drei Stunden Träumerei eine halbe Stunde Schaugepränge und eine halbe Stunde Arbeit". Damit stellt der Dichter seinen Exhibitionismus wie selbstverständlich in den Zusammenhang seiner Kreativität. "Schaugepränge" aber hat Zweig schon gar nicht erfunden. Das Wort ist in der Literaturgeschichte reichlich belegt und bezeichnet die öffentliche Prachtentfaltung des Staates und des Militärs, aber auch das Prunken mit weiblichen Reizen.
Wie erklärt sich dann aber "schaup."? Weinzierl ignoriert in seiner Auflösung der Tagebuchnotiz die Kleinschreibung und erwägt folglich nicht, dass es sich um die Abkürzung eines Verbs oder Adjektivs handeln könnte. Analog zu dem von Zweig gebrauchten Substantiv wäre also "schauprangen" oder "schauprangend" gemeint. Auch das wäre keine Erfindung von Zweig. Johann Heinrich Voss hat die Bildung in seiner Horaz-Übersetzung bezeichnenderweise für die Prachtentfaltung des Pfaus geprägt.
Weinzierls kleiner Patzer hat Folgen für die Deutung. So zitiert er einen Interpreten, der den Begriff "Schauprangertum" als "Selbstbestrafung durch öffentliche Erniedrigung" übersetzt, Weinzierl sieht das andersherum, bleibt aber beim Bild des Prangers. "Nicht er stand am Pranger, das Mädchen, die junge Frau war sozusagen an den Pfahl gefesselt, gezwungen zu schauen." Dann aber kommt der phantasievolle detektivische Deuter plötzlich zu einer ganz anderen Bewertung. "Er fühlte sich ohne seinen Willen moralisch beschmutzt, empfand sich als hilflos und unfrei seinem ,Es' gegenüber. Damit verbunden: eine starke Selbstentwertungstendenz. Und wer sein Leben nicht zu achten und zu lieben imstande ist, wirft es leichter weg."
Es sind nur wenige Stellen, die eine Einschätzung erlauben. Sie deuten aber darauf hin, dass Zweig den Exhibitionismus als phallische Prachtentfaltung und als lustvoll empfundenes Risiko, im Fall des "Gelingens" als "Amüsement" der besonderen Art betrachtete. Ob das einem allgemeinen Bild des Exhibitionisten entspricht, ist sehr fraglich. Eine weitreichende Wirkung von Zweigs Exhibitionismus bis hin zum gemeinsamen Suizid mit seiner zweiten Frau lässt sich aus den Quellen nicht belegen. Ob die Neigung als eine Art Reifestörung vorübergehend war, wie es im jugendlichen Exhibitionismus der Fall ist, bleibt ungeklärt. Die wenigen Stellen lassen keine sicheren Rückschlüsse auf Zweigs Erleben und Verhalten nach 1915 zu.
Die Bezüge, die Weinzierl zu Zweigs Werken herstellt, beruhen meist auf vager Ähnlichkeit. In der Novelle "Phantastische Nacht" von 1922 habe Zweig "psychisch wie literarisch" das traumatische Erlebnis verarbeitet, dass er 1913 ertappt worden war, wenngleich ohne Konsequenzen. In der Erzählung wird ein Wiener Gentleman von einer kindhaften Prostituierten in die Falle gelockt, woraufhin ihm zwei verwilderte Burschen zweihundert Kronen Schweigegeld abknöpfen. Exhibitionismus kommt darin wie überhaupt im Werk Zweigs nicht vor, und der Schlusssatz bezeichnet nur das psychologische Einfühlungsvermögen, das die Leser Zweigs von je rühmen. "Und wer einmal den Menschen in sich begriffen, der begreift alle Menschen."
Obwohl Weinzierl meint, dass sich "an der schmuddeligen Aura des Exhibitionismus nicht allzu viel geändert" hat, gibt er sich redlich Mühe, auf Zweigs Andenken möglichst wenig kommen zu lassen. Die aufwendig recherchierte Studie krankt aber, abgesehen von dem kleinen philologischen Schnitzer, am unaufhebbaren Widerspruch, dass er die falschen Freunde Zweigs der Taktlosigkeit bezichtigt, weil sie ihn an Mann oder Hofmannsthal verrieten, der deshalb eine "bis zu körperlichem Widerwillen reichende Abneigung gegen Zweig" entwickelte. Besonders taktvoll aber verfährt der Detektiv Weinzierl eben auch nicht.
Dem Interesse am Werk Zweigs wird die Enthüllung so wenig schaden, wie der Nachweis der Päderastie Stefan Georges Andenken geschadet hat. Gerade die psychologisch gewitzten Leser Zweigs werden vermutlich genügend Toleranz für den Allversteher aufbringen, ohne den unzweifelhaften sexuellen Terror des Exhibitionismus verharmlosen zu wollen.
FRIEDMAR APEL
Ulrich Weinzierl: "Stefan Zweigs brennendes Geheimnis".
Zsolnay Verlag, Wien 2015. 288 S., geb., 19,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Ulrich Weinzierl kommt Stefan Zweigs "brennendem Geheimnis" auf die Schliche. Aber dem Detektiv unterlaufen auch Ermittlungsfehler.
Stefan Zweigs Erzählungen, die biographischen Essays sowie seine Autobiographie "Die Welt von gestern" erfreuen sich noch immer weltweiter Beliebtheit. Der "New Yorker" erwies ihm siebzig Jahre nach seinem Suizid im brasilianischen Exil 2012 daher die Ehre eines langen Essays unter dem bezeichnenden Titel "The Escape Artist". Da wurde der Mythos des eleganten und distanzierten typischen Wieners durch den der fragilen, gequälten Seele ersetzt. Ein Buch, das die Lüftung der Geheimnisse dieses literarischen Eskapisten verspricht, darf auf viele neugierige Leser in aller Welt hoffen.
Ulrich Weinzierl, der vielfach ausgewiesene Kenner der Wiener Moderne, legt seine biographische Abhandlung wie eine Kriminalgeschichte mit suspense an, die den Leser auf falsche Fährten führt und beträchtlich auf die Folter spannt. Ermittlungsarbeit betreibt Weinzierl aber schon in den Szenen der Ehe Zweigs mit seiner ersten Frau Friderike, geschiedene von Winternitz, die ihn nicht nur mit List und Tücke an sich band, sondern sich als verbliebene Witwe mit allen Mitteln der Zensur und der Fälschung die Deutungshoheit über Zweigs Leben sicherte. Sie war es, die ihn einen "Allversteher" nannte. Wie er die grauenvoll pathetischen Texte seiner intriganten Angetrauten nicht nur aushielt, sondern auch noch lobte, bestätigt die ihm nachgesagte Großzügigkeit. Zweig erscheint hier als ein aktiver sexueller Freigeist, was aber zwischen den Eheleuten so wenig ein Geheimnis war wie in der Literatur über den Dichter.
Im Mittelteil des Buchs geht es um "Verwirrung der Gefühle". Weinzierl geht den Gerüchten nach, dass der Mann, der die Frauen liebte, besonders die jungen, eigentlich schwul gewesen sei. Dabei kommt allerlei mehr oder weniger Interessantes über Zweigs verständnisvolle Freundschaft mit homosexuellen Männern wie Klaus Mann heraus. Über einige Lappalien gleichgeschlechtlicher Praxis im Freien hinaus erscheint eine ausgeprägte homosexuelle Veranlagung Zweigs aber abwegig. Die "Gilde" der Homosexuellen seiner Zeit war ihm, Weinzierl zufolge, sogar eher "ziemlich zuwider". Von einem brennenden Geheimnis ist jedenfalls in dieser Beziehung und nach fast zwei Dritteln des Buches immer noch keine Rede.
Dann naht das Finale. Zunächst mit der Vernehmung einer längst bekannten Briefstelle Thomas Manns von 1954, die dem Romancier nach wie vor keine Ehre macht. "Der weltberühmteste deutsche Schriftsteller der jüngst vergangenen Zeit, Stefan Zweig, soll Exhibitionist gewesen sein. Mir hat er es nicht gestanden, aber in der Intimität weiß man es ... Höchst sonderbar! Ich gestehe, daß gerade vor dieser Passion mein Verständnis halt macht, während es sonst ziemlich weit reicht." Weinzierl zufolge könnte das Gerücht über Klaus Mann an den Vater gekommen sein. Dass Zweig sich wirklich exhibitionistisch betätigte, wurde aber von dem Psychiater Thomas Haenel, Verfasser einer Studie zu Zweigs Seelenleben, als unglaubwürdig abgetan. Für die Biographen Donald Prater und Oliver Matuschek waren eher die Erinnerungen Benno Geigers von 1958 die Quelle des Verdachts, den aber beide mit Hinweis auf Geigers Unzuverlässigkeit für unbegründet hielten.
Die Auflösung erinnert an Edgar Allan Poes Geschichte vom entwendeten Brief. Der "Beweis", so Weinzierl in der Rolle des Detektivs Dupin, liege offen zutage. Er sei aber bisher übersehen respektive überlesen worden. Es handele sich nämlich gleich um die erste erhaltene Eintragung von Zweigs Tagebuch vom 10. September 1912: "Dann spazieren, Liechtenstein, schaup. Das Object zu jung noch ohne tieferes Interesse, mehr frappiert als schon an richtiger psychologischer Stelle erfaßt." Die Abkürzung löst Weinzierl zu der merkwürdigen Bildung "Schauprangertum" auf. Das sei die vom Dichter erfundene Bezeichnung für seine exhibitionistische Neigung. Das frappiert zunächst den Leser, doch leistet sich der Detektiv hier einen Doppelfehler. Der Begriff stammt nämlich gar nicht von Zweig, sondern findet sich nur in den Memoiren seines charakterlosen Freundes Benno Geiger, dem in der Zweig-Biographie von Oliver Matuschek "blühende Phantasie" bescheinigt wird. Auch Weinzierl "attestiert ihm betrübliches Niveau", um trotzdem auf ihn hereinzufallen.
Weinzierl zitiert später einen Brief Zweigs an ebenjenen Geiger, scheint aber den Unterschied in der Begriffsverwendung nicht zu bemerken. In dem Schreiben entschuldigt sich Zweig für Zeitmangel, ihm seien "vier Stunden Arbeit nicht vier Stunden sondern drei Stunden Träumerei eine halbe Stunde Schaugepränge und eine halbe Stunde Arbeit". Damit stellt der Dichter seinen Exhibitionismus wie selbstverständlich in den Zusammenhang seiner Kreativität. "Schaugepränge" aber hat Zweig schon gar nicht erfunden. Das Wort ist in der Literaturgeschichte reichlich belegt und bezeichnet die öffentliche Prachtentfaltung des Staates und des Militärs, aber auch das Prunken mit weiblichen Reizen.
Wie erklärt sich dann aber "schaup."? Weinzierl ignoriert in seiner Auflösung der Tagebuchnotiz die Kleinschreibung und erwägt folglich nicht, dass es sich um die Abkürzung eines Verbs oder Adjektivs handeln könnte. Analog zu dem von Zweig gebrauchten Substantiv wäre also "schauprangen" oder "schauprangend" gemeint. Auch das wäre keine Erfindung von Zweig. Johann Heinrich Voss hat die Bildung in seiner Horaz-Übersetzung bezeichnenderweise für die Prachtentfaltung des Pfaus geprägt.
Weinzierls kleiner Patzer hat Folgen für die Deutung. So zitiert er einen Interpreten, der den Begriff "Schauprangertum" als "Selbstbestrafung durch öffentliche Erniedrigung" übersetzt, Weinzierl sieht das andersherum, bleibt aber beim Bild des Prangers. "Nicht er stand am Pranger, das Mädchen, die junge Frau war sozusagen an den Pfahl gefesselt, gezwungen zu schauen." Dann aber kommt der phantasievolle detektivische Deuter plötzlich zu einer ganz anderen Bewertung. "Er fühlte sich ohne seinen Willen moralisch beschmutzt, empfand sich als hilflos und unfrei seinem ,Es' gegenüber. Damit verbunden: eine starke Selbstentwertungstendenz. Und wer sein Leben nicht zu achten und zu lieben imstande ist, wirft es leichter weg."
Es sind nur wenige Stellen, die eine Einschätzung erlauben. Sie deuten aber darauf hin, dass Zweig den Exhibitionismus als phallische Prachtentfaltung und als lustvoll empfundenes Risiko, im Fall des "Gelingens" als "Amüsement" der besonderen Art betrachtete. Ob das einem allgemeinen Bild des Exhibitionisten entspricht, ist sehr fraglich. Eine weitreichende Wirkung von Zweigs Exhibitionismus bis hin zum gemeinsamen Suizid mit seiner zweiten Frau lässt sich aus den Quellen nicht belegen. Ob die Neigung als eine Art Reifestörung vorübergehend war, wie es im jugendlichen Exhibitionismus der Fall ist, bleibt ungeklärt. Die wenigen Stellen lassen keine sicheren Rückschlüsse auf Zweigs Erleben und Verhalten nach 1915 zu.
Die Bezüge, die Weinzierl zu Zweigs Werken herstellt, beruhen meist auf vager Ähnlichkeit. In der Novelle "Phantastische Nacht" von 1922 habe Zweig "psychisch wie literarisch" das traumatische Erlebnis verarbeitet, dass er 1913 ertappt worden war, wenngleich ohne Konsequenzen. In der Erzählung wird ein Wiener Gentleman von einer kindhaften Prostituierten in die Falle gelockt, woraufhin ihm zwei verwilderte Burschen zweihundert Kronen Schweigegeld abknöpfen. Exhibitionismus kommt darin wie überhaupt im Werk Zweigs nicht vor, und der Schlusssatz bezeichnet nur das psychologische Einfühlungsvermögen, das die Leser Zweigs von je rühmen. "Und wer einmal den Menschen in sich begriffen, der begreift alle Menschen."
Obwohl Weinzierl meint, dass sich "an der schmuddeligen Aura des Exhibitionismus nicht allzu viel geändert" hat, gibt er sich redlich Mühe, auf Zweigs Andenken möglichst wenig kommen zu lassen. Die aufwendig recherchierte Studie krankt aber, abgesehen von dem kleinen philologischen Schnitzer, am unaufhebbaren Widerspruch, dass er die falschen Freunde Zweigs der Taktlosigkeit bezichtigt, weil sie ihn an Mann oder Hofmannsthal verrieten, der deshalb eine "bis zu körperlichem Widerwillen reichende Abneigung gegen Zweig" entwickelte. Besonders taktvoll aber verfährt der Detektiv Weinzierl eben auch nicht.
Dem Interesse am Werk Zweigs wird die Enthüllung so wenig schaden, wie der Nachweis der Päderastie Stefan Georges Andenken geschadet hat. Gerade die psychologisch gewitzten Leser Zweigs werden vermutlich genügend Toleranz für den Allversteher aufbringen, ohne den unzweifelhaften sexuellen Terror des Exhibitionismus verharmlosen zu wollen.
FRIEDMAR APEL
Ulrich Weinzierl: "Stefan Zweigs brennendes Geheimnis".
Zsolnay Verlag, Wien 2015. 288 S., geb., 19,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 05.10.2015Öfter mal an
die frische Luft
Ulrich Weinzierl erkundet das
brennende sexuelle Geheimnis Stefan Zweigs
VON LOTHAR MÜLLER
Eine eigentümliche Spannung durchzieht Stefan Zweigs Erinnerungsbuch „Die Welt von gestern“, das in seinen letzten Lebensjahren entstand und 1944 erschien, zwei Jahre, nachdem der Autor gemeinsam mit seiner zweiten Frau Lotte im brasilianischen Exil seinem Leben ein Ende gesetzt hatte. „Die Welt der Sicherheit“, so lautet Zweigs Formel für seine Wiener Herkunftswelt, das längst zerfallene „Traumschloss“ der Epoche vor dem Ersten Weltkrieg. Aber nicht nur im Rückblick, und nicht nur aus politisch-historischen Gründen erweist sich die „Welt der Sicherheit“ als Illusion ihrer Bewohner. Sie ist von dunklen Gefahrenzonen durchzogen, von einem allgegenwärtigen „Gefühl der inneren Unsicherheit“, und das Zentrum dieser Unsicherheit ist die Sexualität.
Ihr widmet Zweig das Kapitel „Eros Matutinus“ (morgendlicher, erwachender Eros). Es diagnostiziert das 19. Jahrhundert mit einem Schlüsselbegriff Sigmund Freuds als Zeitalter der „Verdrängung“, dessen Tabuisierung der „natürlichen Triebe“ zur Vergiftung des Unterbewusstseins durch Doppelmoral und monströse Allgegenwart der Prostitution geführt habe: „in dieser ungesund stickigen, mit parfümierter Schwüle durchsättigten Luft sind wir aufgewachsen“.
Als dieses Kind einer Epoche, deren Sexualmoral mit ihr zugrunde ging, kommt Stefan Zweig in „Die Welt von gestern“ kaum vor. Durch die Emanzipation der Frau, die Freud’sche Psychoanalyse, den Sport und die Verselbständigung der Jugend habe sich „innerhalb eines einzigen Menschenalters“ eine „totale Verwandlung in den Beziehungen der Geschlechter zueinander“ vollzogen. Aber wie dieser Umbruch sein Leben prägte, spart sein Lebensbericht durchgängig aus. Konsequent verzichten die „Erinnerungen eines Europäers“ auf jede Annäherung des autobiografischen Schreibens an die Geheimnisse des eigenen Lebens, an das Modell von Rousseaus „Confessions“.
Ulrich Weinzierl, langjähriger Wien-Korrespondent der FAZund später der Welt, ausgewiesener Kenner der literarischen Moderne in Österreich, Biograf Hugo von Hofmannsthals und Herausgeber des Bandes „Stefan Zweig – Triumph und Tragik. Aufsätze, Tagebuchnotizen, Briefe“ (1992), wurde im Jahr 2012 um einen Aufsatz über die „Welt von gestern“ gebeten. Je mehr er in diesem Epochenporträt las, „desto stärker zog mich Zweigs verschwiegene Existenz in ihren Bann“. So steht es im Nachwort zur Studie „Stefan Zweigs brennendes Geheimnis“, die an die Stelle des erbetenen Aufsatzes trat.
Weinzierls Ausgangspunkt ist ein Gerücht, das nach seinem Tod über Stefan Zweig kursierte und auch von Thomas Mann Anfang 1954 in einem Brief an den Berliner Arzt Paul Orlowski kolportiert wurde: „Der weltberühmteste deutsche Schriftsteller der jüngst vergangenen Zeit, Stefan Zweig, soll Exhibitionist gewesen sein. Mir hat er es nicht gestanden, aber in der Intimität weiß man es, und er soll auch schwere Unannehmlichkeiten davon gehabt haben. Höchst sonderbar!“ Es gelingt Weinzierl am Ende, das Gerücht zu bestätigen. Aber in der Dramaturgie seiner Studie ist das nur die spektakuläre Schlusspointe. Der Exhibitionismus soll nicht als isoliertes Faktum, sondern als das gefährlichste, am sorgfältigsten gehütete Geheimnis in der weit ausgedehnten erotisch-sexuellen Biografie Stefan Zweigs erscheinen.
Weinzierl hat dabei eine Verbündete: die Zweig-Philologie. Sie hat in den vergangenen Jahrzehnten die Retuschen und Auslassungen in den Büchern von Zweigs erster Ehefrau Friderike kenntlich gemacht , dem biografischen Porträt „Stefan Zweig. Wie ich ihn erlebte“ (1948) und dem Band „Stefan Zweig – Friderike Zweig: Briefwechsel 1912-1942“ (1951). Aus den Streichungen traten viele Details sowie Zweigs Sekretärin und zweite Ehefrau Lotte Altmann wieder hervor, deren Briefwechsel mit Zweig der Zweig-Biograf Oliver Matuschek 2013 herausgab. Seit 2005 ist die vierbändige Auswahlausgabe von Zweigs Korrespondenz abgeschlossen, seit 1984 gibt es eine Ausgabe seiner Tagebücher. Darauf fußt Weinzierl und erweitert die Quellenbasis gelegentlich durch eigene Archivstudien. Aber er schreibt nicht als Philologe, sondern als Erzähler. Der Lebendigkeit seiner Darstellung der Zähmung des notorischen Junggesellen Zweig durch Friderike von Winternitz, die er als verheiratete Frau kennenlernt, bis hin zum „Rosenkrieg“ und zur anschließenden Scheidung wird durch die herzliche Abneigung begünstigt, die Weinzierl der ersten Ehefrau Zweigs entgegenbringt.
Im gelegentlich detektivromanhaften Erzählgestus steckt eine systematische Absicht. Weinzierl spürt zunächst dem heterosexuellen Liebesleben seines Helden nach, seinem unbändigen „Sexualappetit“, den immer neuen Gelegenheitsliebschaften, dem Abenteuer mit der Französin Marcelle 1914 in Paris, während die Liaison mit Friderike von Winternitz immer festere Formen annimmt, und er schüttelt den Kopf über die Nachsicht, mit der Zweig die hitzig-kitschigen erotischen Passagen in den Romanen seiner Geliebten erträgt und gar zum Druck befördert.
Es folgt die Überprüfung des Verdachtes, Stefan Zweig sei ein verkappter Homosexueller gewesen, der sich vor allem an die Novelle „Verwirrung der Gefühle“ geheftet hat. Weinzierl dementiert diesen Verdacht, den er wie einen Stein ins Wasser in das Literatenmilieu wirft, in dem Zweig verkehrt. Im Blick auf die konzentrischen Kreise, die sich um den Stein bilden, zeichnet er ein nuanciertes Gruppenporträt der Homosexuellen (und ihrer Lebensrisiken) in Zweigs Umkreis. Mehr noch als ihr detektivisches Fazit sind diese konzentrischen Kreise der Ertrag dieser Studie. Das gilt auch für ihre Pointe, die Bestätigung des Gerüchts, Stefan Zweig sei Exhibitionist gewesen. Aktenkundig wurde es durch die Erinnerungen von Benno Geiger, einem Freund Zweigs aus der Vorkriegszeit, der in seinen 1958 erschienenen „Memorie di un Veneziano“ (Erinnerungen eines Venezianers) schrieb, Zweig habe für seine stets verheimlichte Neigung den Deckbegriff „Schauprangertum“ benutzt.
Weinzierl zählt Geiger, der derzeit in Italien als hochvernetzter europäischer Intellektueller wiederentdeckt wird, zu den falschen Freunden Zweigs. Aber er findet im ersten Eintrag des 1912 neu begonnenen Tagebuchs von Zweig seinen Verdacht durch die Verwendung einer Abkürzung des auffälligen Begriffs bestätigt: „Dann spazieren, Liechtenstein, schaup. Das Object zu jung noch ohne tieferes Interesse, mehr frappiert als schon an richtiger psychologischer Stelle erfaßt. Dies eigentlich weniger aufreizend, aber mehr gefährlich und wäre zu meiden.“
Weinzierl kann mehrere solcher Tagebuchstellen aus den Jahren nach 1912 bringen. Sie sind das Gegenüber der „Blickinjektionen“, als die im Dezember 1912 der Junggeselle Zweig seine Fähigkeit bezeichnete, Frauen durch Blicke zu verführen. Weinzierl schildert die Verachtung des Exhibitionismus (und, mit Blick auf Adolf Loos und Peter Altenberg, im Kontrast die zeitgenössische Nachsicht gegenüber dem Sex mit Minderjährigen) sowie die Gesetzeslage, um die Gefahr zu verdeutlichen, in die Zweig sich begab. Leider schießt Weinzierl im Bemühen, den punktuell dingfest gemachten verschwiegenen Exhibitionismus ins Zentrum der Existenz Zweigs zu rücken, übers Ziel hinaus. Er widersteht der Versuchung nicht, die aus dem „brennenden Geheimnis“ resultierende „Selbstentwertungstendenz“ zum Selbstmord des Exilanten im Februar 1942 in Beziehung zu setzen: „Wer sein Leben nicht zu achten und zu lieben imstande ist, wirft es leichter weg.“ Das ist suggestiv, aber mehr nicht.
Näher gelegen hätte eine ausführlichere Ausdeutung der in einem Brief an Oskar Maurus Fontana von 1926/27 enthaltenen Selbstdeutung Zweigs: „ich habe kein Gefühl für Grenzen im Erotischen“. Hier ist der Bezug zur „Welt von gestern“ mit Händen zu greifen: Die Befreiung von der Sexualmoral der Herkunftswelt konnte in den Zwang umschlagen, alles ausprobieren zu müssen.
Ulrich Weinzierl: Stefan Zweigs brennendes Geheimnis. Paul Zsolnay Verlag, Wien 2015. 288 Seiten, 19,90 Euro.
Detektivisch spürt Weinzierl dem
„Sexualappetit“ Zweigs nach
„Ich habe kein Gefühl für Grenzen
im Erotischen“, schrieb Zweig
Eine Pose der Sicherheit – Stefan Zweig auf der Terrasse seines Hauses am Kapuzinerberg, um 1933.
Foto: SZ Photo
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die frische Luft
Ulrich Weinzierl erkundet das
brennende sexuelle Geheimnis Stefan Zweigs
VON LOTHAR MÜLLER
Eine eigentümliche Spannung durchzieht Stefan Zweigs Erinnerungsbuch „Die Welt von gestern“, das in seinen letzten Lebensjahren entstand und 1944 erschien, zwei Jahre, nachdem der Autor gemeinsam mit seiner zweiten Frau Lotte im brasilianischen Exil seinem Leben ein Ende gesetzt hatte. „Die Welt der Sicherheit“, so lautet Zweigs Formel für seine Wiener Herkunftswelt, das längst zerfallene „Traumschloss“ der Epoche vor dem Ersten Weltkrieg. Aber nicht nur im Rückblick, und nicht nur aus politisch-historischen Gründen erweist sich die „Welt der Sicherheit“ als Illusion ihrer Bewohner. Sie ist von dunklen Gefahrenzonen durchzogen, von einem allgegenwärtigen „Gefühl der inneren Unsicherheit“, und das Zentrum dieser Unsicherheit ist die Sexualität.
Ihr widmet Zweig das Kapitel „Eros Matutinus“ (morgendlicher, erwachender Eros). Es diagnostiziert das 19. Jahrhundert mit einem Schlüsselbegriff Sigmund Freuds als Zeitalter der „Verdrängung“, dessen Tabuisierung der „natürlichen Triebe“ zur Vergiftung des Unterbewusstseins durch Doppelmoral und monströse Allgegenwart der Prostitution geführt habe: „in dieser ungesund stickigen, mit parfümierter Schwüle durchsättigten Luft sind wir aufgewachsen“.
Als dieses Kind einer Epoche, deren Sexualmoral mit ihr zugrunde ging, kommt Stefan Zweig in „Die Welt von gestern“ kaum vor. Durch die Emanzipation der Frau, die Freud’sche Psychoanalyse, den Sport und die Verselbständigung der Jugend habe sich „innerhalb eines einzigen Menschenalters“ eine „totale Verwandlung in den Beziehungen der Geschlechter zueinander“ vollzogen. Aber wie dieser Umbruch sein Leben prägte, spart sein Lebensbericht durchgängig aus. Konsequent verzichten die „Erinnerungen eines Europäers“ auf jede Annäherung des autobiografischen Schreibens an die Geheimnisse des eigenen Lebens, an das Modell von Rousseaus „Confessions“.
Ulrich Weinzierl, langjähriger Wien-Korrespondent der FAZund später der Welt, ausgewiesener Kenner der literarischen Moderne in Österreich, Biograf Hugo von Hofmannsthals und Herausgeber des Bandes „Stefan Zweig – Triumph und Tragik. Aufsätze, Tagebuchnotizen, Briefe“ (1992), wurde im Jahr 2012 um einen Aufsatz über die „Welt von gestern“ gebeten. Je mehr er in diesem Epochenporträt las, „desto stärker zog mich Zweigs verschwiegene Existenz in ihren Bann“. So steht es im Nachwort zur Studie „Stefan Zweigs brennendes Geheimnis“, die an die Stelle des erbetenen Aufsatzes trat.
Weinzierls Ausgangspunkt ist ein Gerücht, das nach seinem Tod über Stefan Zweig kursierte und auch von Thomas Mann Anfang 1954 in einem Brief an den Berliner Arzt Paul Orlowski kolportiert wurde: „Der weltberühmteste deutsche Schriftsteller der jüngst vergangenen Zeit, Stefan Zweig, soll Exhibitionist gewesen sein. Mir hat er es nicht gestanden, aber in der Intimität weiß man es, und er soll auch schwere Unannehmlichkeiten davon gehabt haben. Höchst sonderbar!“ Es gelingt Weinzierl am Ende, das Gerücht zu bestätigen. Aber in der Dramaturgie seiner Studie ist das nur die spektakuläre Schlusspointe. Der Exhibitionismus soll nicht als isoliertes Faktum, sondern als das gefährlichste, am sorgfältigsten gehütete Geheimnis in der weit ausgedehnten erotisch-sexuellen Biografie Stefan Zweigs erscheinen.
Weinzierl hat dabei eine Verbündete: die Zweig-Philologie. Sie hat in den vergangenen Jahrzehnten die Retuschen und Auslassungen in den Büchern von Zweigs erster Ehefrau Friderike kenntlich gemacht , dem biografischen Porträt „Stefan Zweig. Wie ich ihn erlebte“ (1948) und dem Band „Stefan Zweig – Friderike Zweig: Briefwechsel 1912-1942“ (1951). Aus den Streichungen traten viele Details sowie Zweigs Sekretärin und zweite Ehefrau Lotte Altmann wieder hervor, deren Briefwechsel mit Zweig der Zweig-Biograf Oliver Matuschek 2013 herausgab. Seit 2005 ist die vierbändige Auswahlausgabe von Zweigs Korrespondenz abgeschlossen, seit 1984 gibt es eine Ausgabe seiner Tagebücher. Darauf fußt Weinzierl und erweitert die Quellenbasis gelegentlich durch eigene Archivstudien. Aber er schreibt nicht als Philologe, sondern als Erzähler. Der Lebendigkeit seiner Darstellung der Zähmung des notorischen Junggesellen Zweig durch Friderike von Winternitz, die er als verheiratete Frau kennenlernt, bis hin zum „Rosenkrieg“ und zur anschließenden Scheidung wird durch die herzliche Abneigung begünstigt, die Weinzierl der ersten Ehefrau Zweigs entgegenbringt.
Im gelegentlich detektivromanhaften Erzählgestus steckt eine systematische Absicht. Weinzierl spürt zunächst dem heterosexuellen Liebesleben seines Helden nach, seinem unbändigen „Sexualappetit“, den immer neuen Gelegenheitsliebschaften, dem Abenteuer mit der Französin Marcelle 1914 in Paris, während die Liaison mit Friderike von Winternitz immer festere Formen annimmt, und er schüttelt den Kopf über die Nachsicht, mit der Zweig die hitzig-kitschigen erotischen Passagen in den Romanen seiner Geliebten erträgt und gar zum Druck befördert.
Es folgt die Überprüfung des Verdachtes, Stefan Zweig sei ein verkappter Homosexueller gewesen, der sich vor allem an die Novelle „Verwirrung der Gefühle“ geheftet hat. Weinzierl dementiert diesen Verdacht, den er wie einen Stein ins Wasser in das Literatenmilieu wirft, in dem Zweig verkehrt. Im Blick auf die konzentrischen Kreise, die sich um den Stein bilden, zeichnet er ein nuanciertes Gruppenporträt der Homosexuellen (und ihrer Lebensrisiken) in Zweigs Umkreis. Mehr noch als ihr detektivisches Fazit sind diese konzentrischen Kreise der Ertrag dieser Studie. Das gilt auch für ihre Pointe, die Bestätigung des Gerüchts, Stefan Zweig sei Exhibitionist gewesen. Aktenkundig wurde es durch die Erinnerungen von Benno Geiger, einem Freund Zweigs aus der Vorkriegszeit, der in seinen 1958 erschienenen „Memorie di un Veneziano“ (Erinnerungen eines Venezianers) schrieb, Zweig habe für seine stets verheimlichte Neigung den Deckbegriff „Schauprangertum“ benutzt.
Weinzierl zählt Geiger, der derzeit in Italien als hochvernetzter europäischer Intellektueller wiederentdeckt wird, zu den falschen Freunden Zweigs. Aber er findet im ersten Eintrag des 1912 neu begonnenen Tagebuchs von Zweig seinen Verdacht durch die Verwendung einer Abkürzung des auffälligen Begriffs bestätigt: „Dann spazieren, Liechtenstein, schaup. Das Object zu jung noch ohne tieferes Interesse, mehr frappiert als schon an richtiger psychologischer Stelle erfaßt. Dies eigentlich weniger aufreizend, aber mehr gefährlich und wäre zu meiden.“
Weinzierl kann mehrere solcher Tagebuchstellen aus den Jahren nach 1912 bringen. Sie sind das Gegenüber der „Blickinjektionen“, als die im Dezember 1912 der Junggeselle Zweig seine Fähigkeit bezeichnete, Frauen durch Blicke zu verführen. Weinzierl schildert die Verachtung des Exhibitionismus (und, mit Blick auf Adolf Loos und Peter Altenberg, im Kontrast die zeitgenössische Nachsicht gegenüber dem Sex mit Minderjährigen) sowie die Gesetzeslage, um die Gefahr zu verdeutlichen, in die Zweig sich begab. Leider schießt Weinzierl im Bemühen, den punktuell dingfest gemachten verschwiegenen Exhibitionismus ins Zentrum der Existenz Zweigs zu rücken, übers Ziel hinaus. Er widersteht der Versuchung nicht, die aus dem „brennenden Geheimnis“ resultierende „Selbstentwertungstendenz“ zum Selbstmord des Exilanten im Februar 1942 in Beziehung zu setzen: „Wer sein Leben nicht zu achten und zu lieben imstande ist, wirft es leichter weg.“ Das ist suggestiv, aber mehr nicht.
Näher gelegen hätte eine ausführlichere Ausdeutung der in einem Brief an Oskar Maurus Fontana von 1926/27 enthaltenen Selbstdeutung Zweigs: „ich habe kein Gefühl für Grenzen im Erotischen“. Hier ist der Bezug zur „Welt von gestern“ mit Händen zu greifen: Die Befreiung von der Sexualmoral der Herkunftswelt konnte in den Zwang umschlagen, alles ausprobieren zu müssen.
Ulrich Weinzierl: Stefan Zweigs brennendes Geheimnis. Paul Zsolnay Verlag, Wien 2015. 288 Seiten, 19,90 Euro.
Detektivisch spürt Weinzierl dem
„Sexualappetit“ Zweigs nach
„Ich habe kein Gefühl für Grenzen
im Erotischen“, schrieb Zweig
Eine Pose der Sicherheit – Stefan Zweig auf der Terrasse seines Hauses am Kapuzinerberg, um 1933.
Foto: SZ Photo
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"Ulrich Weinzierl öffnet mit seiner akribischen Recherche dem Zweig-Leser eine überraschende und etwas schockierende Welt." Volker Weidermann, Der Spiegel, 19.09.15
"Lesenswert ist diese Studie, die der Person Zweig unerfreuliche Facetten hinzufügt, sein Werk aber um nichts schmälert." Stefan Gmünder, Der Standard, 30.09.15
"Ein gelehrter und glänzend geschriebener Figurenreigen, eine fulminante Studie." Andreas Isenschmid, DIE ZEIT, 01.10.15
"Lesenswert ist diese Studie, die der Person Zweig unerfreuliche Facetten hinzufügt, sein Werk aber um nichts schmälert." Stefan Gmünder, Der Standard, 30.09.15
"Ein gelehrter und glänzend geschriebener Figurenreigen, eine fulminante Studie." Andreas Isenschmid, DIE ZEIT, 01.10.15