Als Protestschrei gegen den Tod ihres Sohnes sprengt eine Mutter den Grabstein ihres Sohnes in die Luft. Der Sohn war während des Militärdienstes ums Leben gekommen, als Opfer eines makabren Rekrutenscherzes. Von da an kennt seine Mutter nur ein Ziel: Gerechtigkeit für ihren Sohn zu erfahren.
Rachelas Sohn Ofer kam durch einen Rekrutenscherz ums Leben ein traditioneller Ritus, der versehentlich in den Tod führte. Die Armee hatte auf dem Grabstein die Standardformulierung "Nr. 2", in Worten: "Gefallen in Erfüllung seiner Pflicht", eingesetzt. Für Rachela drückt sich in diesen anonymen Worten die ganze Verlogenheit des Systems aus, und sie fordert Gerechtigkeit ein, indem sie nachts den Grabstein in die Luft sprengt und gegen eine Statue mit der Inschrift "Ermordet von seinen Vorgesetzten" ersetzt. Dieser gleichermaßen couragierte wie aggressive Akt ist aber erst der Auftakt einer Reihe verzweifelter Versuche, Gerechtigkeit für ihren Sohn zu erlangen. Bei den folgenden Gerichtsverhandlungen geht es ihr weniger darum, durch Trauern und Verzeihen ihren Schmerz zu überwinden, durch juristische Maßnahmen und durch die Verurteilung der angeklagten Offiziere Sühne für das Verbrechen an ihrem Sohn zu erreichen. Vielmehr geht es ihr darum, ihrem (berechtigten) Hass auf da s System freien Lauf zu lassen und für ein Volk Gerechtigkeit zu erfahren für die Untaten einer der geheiligten Institutionen Israels, der israelischen Armee "Zahal". Gurs große Stärke ist es dabei, dass sie sich nicht in einseitigen Schuldzuweisungen ergeht, keineswegs nimmt sie Partei für die hilflos wie obsessiv agierende Mutter. Sie beleuchtet den Fall auch aus den Blickwinkeln des Militärrichters und den unter Rachelas Fanatismus leidenden Angehörigen.
Rachelas Sohn Ofer kam durch einen Rekrutenscherz ums Leben ein traditioneller Ritus, der versehentlich in den Tod führte. Die Armee hatte auf dem Grabstein die Standardformulierung "Nr. 2", in Worten: "Gefallen in Erfüllung seiner Pflicht", eingesetzt. Für Rachela drückt sich in diesen anonymen Worten die ganze Verlogenheit des Systems aus, und sie fordert Gerechtigkeit ein, indem sie nachts den Grabstein in die Luft sprengt und gegen eine Statue mit der Inschrift "Ermordet von seinen Vorgesetzten" ersetzt. Dieser gleichermaßen couragierte wie aggressive Akt ist aber erst der Auftakt einer Reihe verzweifelter Versuche, Gerechtigkeit für ihren Sohn zu erlangen. Bei den folgenden Gerichtsverhandlungen geht es ihr weniger darum, durch Trauern und Verzeihen ihren Schmerz zu überwinden, durch juristische Maßnahmen und durch die Verurteilung der angeklagten Offiziere Sühne für das Verbrechen an ihrem Sohn zu erreichen. Vielmehr geht es ihr darum, ihrem (berechtigten) Hass auf da s System freien Lauf zu lassen und für ein Volk Gerechtigkeit zu erfahren für die Untaten einer der geheiligten Institutionen Israels, der israelischen Armee "Zahal". Gurs große Stärke ist es dabei, dass sie sich nicht in einseitigen Schuldzuweisungen ergeht, keineswegs nimmt sie Partei für die hilflos wie obsessiv agierende Mutter. Sie beleuchtet den Fall auch aus den Blickwinkeln des Militärrichters und den unter Rachelas Fanatismus leidenden Angehörigen.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 03.01.2000Hiob gab es nicht
Batya Gur rüttelt am Fundament des Staates Israel
Wer zum Sinn gelangen will, muss die Paradoxien suchen. Die Väter des Talmud waren zutiefst davon überzeugt, dass nur auf diese Weise das göttliche Wort in menschliche Sprache übersetzt werden könne. Eine der bekanntesten Formeln nennt denjenigen, "der tut, was befohlen ist", größer als den, "der tut, ohne einen Befehl empfangen zu haben". Die talmudische Überlieferung als verbindliche Autorität soll das gläubige und hierdurch geeinte Volk auf dem rechten Weg halten. Auch die Jahrhunderte später entstandene Geheimlehre will das einst Offenbarte bewahren helfen, schließlich meint "Kabbala" wörtlich "Tradition". Diese jedoch ist in der jüdischen Mystik zu einem fragilen Gut geworden. Vorherrschend erscheint den Kabbalisten stattdessen "die Realität des Bösen und das dunkle Grauen, das um alles Lebendige ist".
Tradition zählt zu den Begriffen, die auszusprechen Rachela Avni große Überwindung kostet. Nicht anders ergeht es ihr mit den Vokabeln Sport, Kameradschaft und Luftwaffe. Gewöhnlich ist die zweiundfünfzigjährige Frau nicht um Rhetorik verlegen, doch wenn die verabscheute Gegenwelt derart geballt im Wort erscheint, kollabiert ihr Ausdrucksvermögen. Selbst der Kunst hat die weithin bekannte Bildhauerin abgeschworen. Das frühere Ringen um die Form erscheint ihr müßig, da gesellschaftlich funktionslos. Die letzte vollendete Skulptur zeigt "eine schreitende Gestalt mit langen, dünnen Beinen" und ist Rachela Avnis "marmorner Sohn".
Aus ihren Augen strahlte bisher eine übergroße Neugier, jetzt sind sie nur noch "offen, um die anderen in sie hineinsehen zu lassen". Rachelas Inneres aber ist ebenso wie ihre vernachlässigte Kleidung kein erfreulicher Anblick. Die "schlagartig welk gewordene" Frau empfindet das Leben als eine verlogene, quälende Angelegenheit, in der Schmerz Schmerzen gebiert. Kein Trost scheint dies- oder jenseits des Horizonts in Sicht. Auf Hiobs Duldsamkeit darf angesichts dieser heillosen Zustände sich niemand berufen. Rachela schreit hinaus, dass es die demütige Gestalt aus dem Alten Testament nie gegeben hat.
Fast alle Personen, die Batya Gurs Roman aufbietet, leiden an ihrer Heimat. Richter Rafael Neuberg, der selbst in einer "Schrottkarre" zum Dienst fährt, kann sich über den Verfall des Gerichtsgebäudes nicht mehr wundern, zu allgegenwärtig sind Verwahrlosung und Dreck geworden. Wenn der hundertdreißig Kilo schwere Melancholiker den Eingang und "die Dunkelheit des inneren Bereichs" passiert hat, befindet er sich im Herzen Israels. Dort, zwischen Staatsflagge und defekter Klimaanlage, sitzen die Stützen der Nation zusammen, um das von Rachela diagnostizierte Chaos mit Hilfe von Paragraphen zu verstetigen.
Ehemann Jankale Avni, von Beruf Landwirt, spürt "eine schwere Krankheit" über sich und seine Familie gekommen. Eine Freundin der Avnis spricht von der Dürre, die in ihr Haus eingekehrt sei. Nachtwächter Boris Tabaschnik deutet die fortgesetzte Fremdheit, die er nach der Emigration aus Sankt Petersburg auch in der neuen, jahrelang herbeigesehnten Heimat erfahren muss, resignativ. Sein Befund mutet talmudisch paradox an: "Dies ist ein Land voller Probleme. Alles basiert auf Schmutz, wie überall auf der Welt."
Trotz des grundlegenden Einverständnisses über die Reformbedürftigkeit von Staat und Gesellschaft bleibt Rachela Avni eine Außenseiterin. Ihre Mitbürger haben Techniken entwickelt, die im abgesunkenen Dasein zumindest die private Existenz sichern. Einwanderer Boris bezähmt seine Enttäuschung über die misstrauischen, abweisenden Israelis, indem er auf soziale Kontakte weitgehend verzichtet und allnächtlich Gedichte ins Russische übersetzt. Eines davon träumt vom utopischen "Ort, an dem wir Recht haben" und in dessen Erde keine Blumen gedeihen.
Rafael Neuberg verdankt seinem Beruf die jüdischer Theologie und jüdischer Geschichte völlig konträre Erkenntnis, dass in Israel gerade das Vergessen und nicht das Gedenken zu leben ermöglicht. Während des Prozesses ist es seine Pflicht, von sämtlichen persönlichen Neigungen, von allen individuellen Erfahrungen abzusehen. Er muss "aus der Erinnerung verbannen, was nicht dazugehört". Nur so kann der Richter funktionieren. Auf dieselbe Weise blendet auch der Privatmensch die eigene Biographie aus, die Erinnerung etwa an den peinigenden Militärdienst. Die albtraumhaften "Bilder gemeinschaftlicher Erfahrungen", die den korpulenten Gefreiten nicht zum Widerständler, sondern zum Vielfraß machten, hat der Jurist hinter die Stahltür des Vergessens gescheucht. Seit sich Rachela aber in den Verhandlungen lautstark aus dem Zuschauerraum zu Wort meldet, kann Richter Neuberg "die düstere Stimme" der Vergangenheit nicht länger durch Kaugeräusche übertönen.
Mit der jüdischen Tradition, die der Mann, den es nie gegeben hat, begründete, will Rachela brechen. An die Stelle der allseitigen Bereitschaft, zu tun, was befohlen worden ist, hat ein unduldsamer Widerspruchsgeist zu treten. Damit Erinnerung wieder fruchtbar, damit die Heimat vom Albtraum zum Blumengarten wird, darf Hiob nicht länger das Ideal einer Gesellschaft abgeben, in der "jeden Augenblick schreckliche Dinge passieren". Mit dieser fast kabbalistisch zu nennenden Doppelgesichtigkeit, die Boris als den Widerspruch von innerem und äußerem Leben bezeichnet, geht Rachela den Kampf für eine neue, verdrängungsresistente Tradition an. Eine solche tut Not, zu weit hat sich Israel vom zionistischen Gründungsmythos, wonach "alle Juden füreinander bürgen", entfernt, zu viele junge Männer sind wie Rachelas Sohn Ofer sinnlos gestorben.
Das letztgeborene Kind des Ehepaars Avni verlor auf einem Luftwaffenstützpunkt sein Leben. Dort ist es Brauch, den Abschluss der Übungen mit dem so genannten "Netzroulette" zu feiern. Das makabre Ritual dient dem Zusammenhalt der Gruppe und wird im Beisein von Offizieren durchgeführt. Entgegen der Regel wurde der hierfür ausgewählte Soldat, Ofer Avni, nicht mit Fesseln an dem engmaschigen Netz befestigt. Als das Gerät, mit dem eigentlich Flugzeuge gestoppt werden sollen, binnen Sekunden um sieben Meter in die Höhe schnellte und seine Stahlflügel ausbreitete, wurde Ofer zu Boden geschleudert. Er zerschellte auf der Rollbahn. Mitternacht für Mitternacht besucht nun seine Mutter Ofers Grab, bettet ihren Kopf auf den Gedenkstein und betastet den Humus, "als wolle sie sich in der Erde auflösen".
Die ruhelose Frau gibt sich jedoch nur zu schlafdunkler Zeit der Trauer hin. Tagsüber hat der Hass von ihr Besitz ergriffen, der Hass auf das Militär, der Hass auch auf den Menschen, der sie ein halbes Jahrhundert lang war. Das Leben an der Seite von Jankale, den sie in der zwölften Klasse kennen lernte, gerät mit einem Schlag zum Alibi, zur Ausrede, um ihr "wahres Ich hinter der Fassade des Alltags schlummern lassen" zu können. Der bedingungslose, halb legale Einsatz zugunsten einer Verurteilung des gesamten Offizierstabs und nicht nur der beiden angeklagten Leutnants, der Streit um Ofers neuen Grabstein, auf dem Rachela die Kommandeure Mörder nennt, und auch die anonymen Briefe an Richter Neuberg, die von Verschwörung und Manipulation reden, sollen gesellschaftliches Fanal und individuelle Befreiung in einem sein. Stellvertretend für ganz Israel will Rachela Avni der schuldbeladenen Vergangenheit ins Gesicht blicken.
Die Geschichte ihres Landes kann Rachela mit der eigenen kurzschließen, weil sie beide auf Lügen errichtet glaubt. So etwas wie den Zusammenhalt des Volkes hat es ebenso wenig je gegeben wie die harmonische, gleichberechtigte Ehe mit Jankale. Beide Institutionen verklären mit dem Mythos von der Einigkeit ihren Ursprung aus nackter Gewalt. Zornesausbrüche waren die Waffe, mit der Rachela ihre Interessen durchsetzte, während Jankale auf den äußeren Schein bedacht blieb, die Meinung der Eltern, der Nachbarn oder Arbeitskollegen anführte, um seine Frau erfolgreich von den größten Affronts abzuhalten. Ofers Tod, der Jankale noch schweigsamer werden ließ, hat das Illusionäre dieser Ehe zu Tage gebracht. Rachela sieht sich durch den Verlust aufgefordert, die Unmenschlichkeit der Welt um einer geläuterten Menschheit willen aktionistisch zu überbieten.
Das facettenreiche und bewegende Buch der bisher vor allem mit Kriminalromanen hervorgetretenen Autorin beruht auf einem authentischen Fall. "Stein für Stein" ist jedoch nicht zuletzt deshalb große, welthaltige Literatur, weil es die beiden konkreten Themenfelder, den Zerfall gesellschaftlicher und privater Gemeinschaft im Lande Israel, durch eine dritte Ebene universalisiert. Sämtlichen Konflikten liegt die Frage nach der Verfasstheit des Menschen zugrunde. Rafael Neuberg, Jankale Avni, Boris Tabaschnik begründen unisono den Rückzug ins innere Exil mit der menschlichen Natur, gegen deren Niedertracht zu kämpfen sinnlos sei: Der russische Einwanderer verweist achselzuckend auf die Verbrechen unter Stalin und Breschnew; der Richter zitiert einen juristischen Kommentar, demzufolge die Rechtsprechung den vernünftigen Menschen voraussetzt. Ein solcher aber sei noch nicht geboren, vielmehr eine Fiktion der Gesetze.
Rachela hingegen, die Unerbittlichste von allen, glaubt emphatisch an die sinnstiftende, heroische Tat des Einzelnen, die ein Volk zu wenden vermag. Mit ihrem eigenen Leben will sie sich und ihrem Vaterland die Reformierbarkeit der menschlichen Gattung beweisen. Die verzweifelte Suche nach dem wahren Leben führt sie ins personale Nichts, wo endlich ein Ich entstehen soll. Rachela könnte ihre Hoffnung in den mystischen Schriften des Judentums vorgebildet finden. Wer nämlich auf kabbalistischem Weg den Sinn erreichen will, der muss - nach einem Wort des bereits eingangs zitierten Gershom Scholem - das Beziehungslose begehren, den "Abgrund, der in den Lücken alles Seienden" aufscheint. Von Glück ist nicht die Rede.
ALEXANDER KISSLER
Batya Gur: "Stein für Stein". Roman. Aus dem Hebräischen von Vera Loos und Naomi Nir-Bleimling. Berlin Verlag, Berlin 1999. 320 S., geb., 39,90 DM.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Batya Gur rüttelt am Fundament des Staates Israel
Wer zum Sinn gelangen will, muss die Paradoxien suchen. Die Väter des Talmud waren zutiefst davon überzeugt, dass nur auf diese Weise das göttliche Wort in menschliche Sprache übersetzt werden könne. Eine der bekanntesten Formeln nennt denjenigen, "der tut, was befohlen ist", größer als den, "der tut, ohne einen Befehl empfangen zu haben". Die talmudische Überlieferung als verbindliche Autorität soll das gläubige und hierdurch geeinte Volk auf dem rechten Weg halten. Auch die Jahrhunderte später entstandene Geheimlehre will das einst Offenbarte bewahren helfen, schließlich meint "Kabbala" wörtlich "Tradition". Diese jedoch ist in der jüdischen Mystik zu einem fragilen Gut geworden. Vorherrschend erscheint den Kabbalisten stattdessen "die Realität des Bösen und das dunkle Grauen, das um alles Lebendige ist".
Tradition zählt zu den Begriffen, die auszusprechen Rachela Avni große Überwindung kostet. Nicht anders ergeht es ihr mit den Vokabeln Sport, Kameradschaft und Luftwaffe. Gewöhnlich ist die zweiundfünfzigjährige Frau nicht um Rhetorik verlegen, doch wenn die verabscheute Gegenwelt derart geballt im Wort erscheint, kollabiert ihr Ausdrucksvermögen. Selbst der Kunst hat die weithin bekannte Bildhauerin abgeschworen. Das frühere Ringen um die Form erscheint ihr müßig, da gesellschaftlich funktionslos. Die letzte vollendete Skulptur zeigt "eine schreitende Gestalt mit langen, dünnen Beinen" und ist Rachela Avnis "marmorner Sohn".
Aus ihren Augen strahlte bisher eine übergroße Neugier, jetzt sind sie nur noch "offen, um die anderen in sie hineinsehen zu lassen". Rachelas Inneres aber ist ebenso wie ihre vernachlässigte Kleidung kein erfreulicher Anblick. Die "schlagartig welk gewordene" Frau empfindet das Leben als eine verlogene, quälende Angelegenheit, in der Schmerz Schmerzen gebiert. Kein Trost scheint dies- oder jenseits des Horizonts in Sicht. Auf Hiobs Duldsamkeit darf angesichts dieser heillosen Zustände sich niemand berufen. Rachela schreit hinaus, dass es die demütige Gestalt aus dem Alten Testament nie gegeben hat.
Fast alle Personen, die Batya Gurs Roman aufbietet, leiden an ihrer Heimat. Richter Rafael Neuberg, der selbst in einer "Schrottkarre" zum Dienst fährt, kann sich über den Verfall des Gerichtsgebäudes nicht mehr wundern, zu allgegenwärtig sind Verwahrlosung und Dreck geworden. Wenn der hundertdreißig Kilo schwere Melancholiker den Eingang und "die Dunkelheit des inneren Bereichs" passiert hat, befindet er sich im Herzen Israels. Dort, zwischen Staatsflagge und defekter Klimaanlage, sitzen die Stützen der Nation zusammen, um das von Rachela diagnostizierte Chaos mit Hilfe von Paragraphen zu verstetigen.
Ehemann Jankale Avni, von Beruf Landwirt, spürt "eine schwere Krankheit" über sich und seine Familie gekommen. Eine Freundin der Avnis spricht von der Dürre, die in ihr Haus eingekehrt sei. Nachtwächter Boris Tabaschnik deutet die fortgesetzte Fremdheit, die er nach der Emigration aus Sankt Petersburg auch in der neuen, jahrelang herbeigesehnten Heimat erfahren muss, resignativ. Sein Befund mutet talmudisch paradox an: "Dies ist ein Land voller Probleme. Alles basiert auf Schmutz, wie überall auf der Welt."
Trotz des grundlegenden Einverständnisses über die Reformbedürftigkeit von Staat und Gesellschaft bleibt Rachela Avni eine Außenseiterin. Ihre Mitbürger haben Techniken entwickelt, die im abgesunkenen Dasein zumindest die private Existenz sichern. Einwanderer Boris bezähmt seine Enttäuschung über die misstrauischen, abweisenden Israelis, indem er auf soziale Kontakte weitgehend verzichtet und allnächtlich Gedichte ins Russische übersetzt. Eines davon träumt vom utopischen "Ort, an dem wir Recht haben" und in dessen Erde keine Blumen gedeihen.
Rafael Neuberg verdankt seinem Beruf die jüdischer Theologie und jüdischer Geschichte völlig konträre Erkenntnis, dass in Israel gerade das Vergessen und nicht das Gedenken zu leben ermöglicht. Während des Prozesses ist es seine Pflicht, von sämtlichen persönlichen Neigungen, von allen individuellen Erfahrungen abzusehen. Er muss "aus der Erinnerung verbannen, was nicht dazugehört". Nur so kann der Richter funktionieren. Auf dieselbe Weise blendet auch der Privatmensch die eigene Biographie aus, die Erinnerung etwa an den peinigenden Militärdienst. Die albtraumhaften "Bilder gemeinschaftlicher Erfahrungen", die den korpulenten Gefreiten nicht zum Widerständler, sondern zum Vielfraß machten, hat der Jurist hinter die Stahltür des Vergessens gescheucht. Seit sich Rachela aber in den Verhandlungen lautstark aus dem Zuschauerraum zu Wort meldet, kann Richter Neuberg "die düstere Stimme" der Vergangenheit nicht länger durch Kaugeräusche übertönen.
Mit der jüdischen Tradition, die der Mann, den es nie gegeben hat, begründete, will Rachela brechen. An die Stelle der allseitigen Bereitschaft, zu tun, was befohlen worden ist, hat ein unduldsamer Widerspruchsgeist zu treten. Damit Erinnerung wieder fruchtbar, damit die Heimat vom Albtraum zum Blumengarten wird, darf Hiob nicht länger das Ideal einer Gesellschaft abgeben, in der "jeden Augenblick schreckliche Dinge passieren". Mit dieser fast kabbalistisch zu nennenden Doppelgesichtigkeit, die Boris als den Widerspruch von innerem und äußerem Leben bezeichnet, geht Rachela den Kampf für eine neue, verdrängungsresistente Tradition an. Eine solche tut Not, zu weit hat sich Israel vom zionistischen Gründungsmythos, wonach "alle Juden füreinander bürgen", entfernt, zu viele junge Männer sind wie Rachelas Sohn Ofer sinnlos gestorben.
Das letztgeborene Kind des Ehepaars Avni verlor auf einem Luftwaffenstützpunkt sein Leben. Dort ist es Brauch, den Abschluss der Übungen mit dem so genannten "Netzroulette" zu feiern. Das makabre Ritual dient dem Zusammenhalt der Gruppe und wird im Beisein von Offizieren durchgeführt. Entgegen der Regel wurde der hierfür ausgewählte Soldat, Ofer Avni, nicht mit Fesseln an dem engmaschigen Netz befestigt. Als das Gerät, mit dem eigentlich Flugzeuge gestoppt werden sollen, binnen Sekunden um sieben Meter in die Höhe schnellte und seine Stahlflügel ausbreitete, wurde Ofer zu Boden geschleudert. Er zerschellte auf der Rollbahn. Mitternacht für Mitternacht besucht nun seine Mutter Ofers Grab, bettet ihren Kopf auf den Gedenkstein und betastet den Humus, "als wolle sie sich in der Erde auflösen".
Die ruhelose Frau gibt sich jedoch nur zu schlafdunkler Zeit der Trauer hin. Tagsüber hat der Hass von ihr Besitz ergriffen, der Hass auf das Militär, der Hass auch auf den Menschen, der sie ein halbes Jahrhundert lang war. Das Leben an der Seite von Jankale, den sie in der zwölften Klasse kennen lernte, gerät mit einem Schlag zum Alibi, zur Ausrede, um ihr "wahres Ich hinter der Fassade des Alltags schlummern lassen" zu können. Der bedingungslose, halb legale Einsatz zugunsten einer Verurteilung des gesamten Offizierstabs und nicht nur der beiden angeklagten Leutnants, der Streit um Ofers neuen Grabstein, auf dem Rachela die Kommandeure Mörder nennt, und auch die anonymen Briefe an Richter Neuberg, die von Verschwörung und Manipulation reden, sollen gesellschaftliches Fanal und individuelle Befreiung in einem sein. Stellvertretend für ganz Israel will Rachela Avni der schuldbeladenen Vergangenheit ins Gesicht blicken.
Die Geschichte ihres Landes kann Rachela mit der eigenen kurzschließen, weil sie beide auf Lügen errichtet glaubt. So etwas wie den Zusammenhalt des Volkes hat es ebenso wenig je gegeben wie die harmonische, gleichberechtigte Ehe mit Jankale. Beide Institutionen verklären mit dem Mythos von der Einigkeit ihren Ursprung aus nackter Gewalt. Zornesausbrüche waren die Waffe, mit der Rachela ihre Interessen durchsetzte, während Jankale auf den äußeren Schein bedacht blieb, die Meinung der Eltern, der Nachbarn oder Arbeitskollegen anführte, um seine Frau erfolgreich von den größten Affronts abzuhalten. Ofers Tod, der Jankale noch schweigsamer werden ließ, hat das Illusionäre dieser Ehe zu Tage gebracht. Rachela sieht sich durch den Verlust aufgefordert, die Unmenschlichkeit der Welt um einer geläuterten Menschheit willen aktionistisch zu überbieten.
Das facettenreiche und bewegende Buch der bisher vor allem mit Kriminalromanen hervorgetretenen Autorin beruht auf einem authentischen Fall. "Stein für Stein" ist jedoch nicht zuletzt deshalb große, welthaltige Literatur, weil es die beiden konkreten Themenfelder, den Zerfall gesellschaftlicher und privater Gemeinschaft im Lande Israel, durch eine dritte Ebene universalisiert. Sämtlichen Konflikten liegt die Frage nach der Verfasstheit des Menschen zugrunde. Rafael Neuberg, Jankale Avni, Boris Tabaschnik begründen unisono den Rückzug ins innere Exil mit der menschlichen Natur, gegen deren Niedertracht zu kämpfen sinnlos sei: Der russische Einwanderer verweist achselzuckend auf die Verbrechen unter Stalin und Breschnew; der Richter zitiert einen juristischen Kommentar, demzufolge die Rechtsprechung den vernünftigen Menschen voraussetzt. Ein solcher aber sei noch nicht geboren, vielmehr eine Fiktion der Gesetze.
Rachela hingegen, die Unerbittlichste von allen, glaubt emphatisch an die sinnstiftende, heroische Tat des Einzelnen, die ein Volk zu wenden vermag. Mit ihrem eigenen Leben will sie sich und ihrem Vaterland die Reformierbarkeit der menschlichen Gattung beweisen. Die verzweifelte Suche nach dem wahren Leben führt sie ins personale Nichts, wo endlich ein Ich entstehen soll. Rachela könnte ihre Hoffnung in den mystischen Schriften des Judentums vorgebildet finden. Wer nämlich auf kabbalistischem Weg den Sinn erreichen will, der muss - nach einem Wort des bereits eingangs zitierten Gershom Scholem - das Beziehungslose begehren, den "Abgrund, der in den Lücken alles Seienden" aufscheint. Von Glück ist nicht die Rede.
ALEXANDER KISSLER
Batya Gur: "Stein für Stein". Roman. Aus dem Hebräischen von Vera Loos und Naomi Nir-Bleimling. Berlin Verlag, Berlin 1999. 320 S., geb., 39,90 DM.
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