Wie verhält sich das, was wir von der Schönheit des Steins sehen, zu dem, was wir über den Stein sagen, denken und schreiben? Wird das Gesagte vom Gesehenen gestützt, unterbrochen oder unterminiert? In seinem reich illustrierten Essay Stein widmet sich Sallis diesen Fragen im Anschluß an klassische ästhetische Theorien. Er geht auf die diversen Gestalten ein, die der Stein annehmen kann, und auf die Schauplätze seines Vorkommens: Stein begegnet uns als ungezähmte Natur des Gebirges, als Obdach gegen die Elemente, in Form von Grabsteinen auf dem jüdischen Friedhof in Prag, in Gestalt griechischer Tempel und gotischer Kathedralen, in der Skulptur und im Drama. Die philosophische Aufmerksamkeit gilt in Stein dem, was Denker wie Hegel und Heidegger über die Schönheit des Steins gesagt haben, desgleichen aber auch den Aufzeichnungen, die sie von ihren Reisen in die Alpen, zu den großen europäischen Kathedralen oder den Tempeln Griechenlands mitgebracht haben. Der Vielzahl der Orte zugewandt, an denen die irdische Schönheit des Steins aufscheint, nähert sich Stein in einer überraschenden Wendung gegen Ende immer mehr der theatralischen Darstellung, dem Theater des Steins in Shakespeares Wintermärchen
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 02.12.2003Undurchsichtige Bröckchen
So viel Masse und Macht war nie: John Sallis bohrt den Tiefen des Steins nach / Von Lorenz Jäger
Platon, Hegel und Heidegger: Sie sind die Denker, die John Sallis in seinen "Diskursen über das Scheinen des Steins" befragt. Der amerikanische Philosoph gehört im weiteren Sinne der phänomenologischen Schule an, er hat in Freiburg geforscht, aber auch am Bochumer Hegel-Archiv und in Tübingen. Seit langem zielen seine Untersuchungen auf eine neue Deutung der antiken Elementenlehre, auf den Begriff der Physis und auf die Kosmologie des platonischen "Timaios". "Phänomen" heißt zunächst und dem Wortsinne nach "das Erscheinende". Auf seinem Weg zu den Steinen will Sallis die traditionellen metaphysischen Kategorien vermeiden, vor allem den allzu naheliegenden Begriff der "Substanz".
Die Grabsteine des Prager Judenfriedhofs sind einer der Ausgangspunkte dieses Buchs. Immer hat man in ihrer Enge etwas Besonderes, durchaus auch Unheimliches sehen wollen. Sallis erzählt die Geschichte dieser Anordnung: Der Raum des Getto-Friedhofs war begrenzt, über die Gräber breitete man Erde, und die Steine, dem Gedenken gewidmet, mußten stets aufs neue versetzt werden. Ein seltsamer Anblick, so Sallis, gegenüber dem Schweigen die angemessene Haltung sei. Wenn es denn ein Wort gibt, das der "schweigenden Bitte der Steine um Gedenken" entspreche, dann sei es "Vorbei". Es führt ihn auf den frühen Heidegger, der in den Vorstufen zu "Sein und Zeit" von "dem Vorbei" gesprochen hatte, bevor er sich für den "Tod" entschloß.
An die Geschichte des Gettos von Prag schließt Sallis politische Überlegungen an, zu Derridas Begriff des "Fremden" und der "Gastfreundschaft", die nicht ganz leicht zu verstehen sind. Einerseits glaubt man das Dogma multikultureller Inklusion in seiner naivsten Form heraushören zu können, wenn etwa von der "Alterität" und der "Differenz" die Rede ist, die zur "Identität" hinzugedacht werden müßten. Solche Sätze haben es meist an sich, daß ihr Spannungsverhältnis zur Freiheit nicht thematisiert wird. Zugleich finden sich bei Sallis weniger Argumente als Andeutungen über den Assimilations-Sog der kapitalistischen Globalisierung und der "westlichen Stadt", der zwangsläufig auf Widerstand treffen werde.
Dem Leitfaden der Hegelschen Ästhetik folgt das dritte Kapitel. Hegels Ausgangspunkt war es, die architektonischen Gebilde als Völkerzentren zu sehen. Das Bauwerk diene als "vereinigender Punkt für eine Nation, als Ort, um welchen sich die Nation versammelt". Diese Bestimmung gilt zunächst für den babylonischen Turmbau. Sein Ziel sei die Manifestation der "Gemeinsamkeit" all derer gewesen, die ihn gemeinsam erbauten. Eine bloß familiale Einheit war damit aufgehoben, eine "abstrakte Einheit aller Völker" markiert den Beginn - wobei es sich noch nicht um den eigentlichen Stein handelte, sondern um gebrannte Ziegel.
Der nächste Schritt waren die indischen Phallussäulen, Symbole der Zeugungskraft. In der Folge dialektischer Aufhebungen, als welche Hegel die Architekturgeschichte anlegte, kam sodann die Reihe an die ägyptischen Obelisken, "Sonnenstrahlen in Stein". Die letzte Aufhebung war für Hegel die gotische Kathedrale, die den Unterschied des Tragenden und des Lastenden tilgte, der für den griechischen Tempel entscheidend gewesen war. An die Stelle des rechten Winkels trat der Übergang, der dem neuen geistigen Gehalt angemessen war: Die Pfeiler, so Hegel, "werden mager, schlank und ragen so hinauf, daß der Blick die ganze Form nicht mit einem Male überschauen kann, sondern umherzuschweifen, emporzufliegen getrieben wird."
Es gehört zu den schönen Funden dieses Buchs, daß Sallis auf Hegels Briefe eingeht, die ein genaues Itinerar seiner Besuche in den großen Domen geben. 1822 reiste er nach Belgien und in die Niederlande, unterwegs besuchte er die Marburger Elisabethkirche - "in reinem gotischen Geschmack" - und den Kölner Dom, wo er sogar eine Messe hörte. Über Aachen, dessen Dom er ebenfalls besuchte, reiste Hegel weiter nach Gent und nach Antwerpen. Eine zweite Reise 1824 nach Wien führte ihn in den Stephansdom, scheint aber eher musikalisch als architektonisch ertragreich gewesen zu sein. Die dritte Reise, nach Paris, gab Hegel Gelegenheit zu einem Besuch der Trierer Konstantinsbasilika und der Kathedrale von Metz.
Auch Heideggers Gedanken über den griechischen Tempel lassen sich in die Geschichte einer Reise verflechten, die er nach langem Zögern im Frühjahr 1962 antrat. Für den Stein empfand der Philosoph eine besondere Sympathie. Er wurde aufgewertet, galt nicht mehr als bloßes Material, das der Wahrheit gegenüber unangemessen bleiben mußte. "Das Tempel-Werk", so Heidegger, "läßt, indem es eine Welt aufstellt, den Stoff nicht verschwinden, sondern allererst hervorkommen, und zwar im Offenen der Welt des Werkes."
Sallis' Buch erschien in den Vereinigten Staaten schon vor neun Jahren. Und der 11. September 2001 konnte in keiner Weise zum bewußten Horizont seiner Gedanken gehören. Dennoch spürt man einen unheimlichen Zusammenklang der wiederkehrenden Motive von Turm und Globalisierung, von Politik und Krieg, und der orakelhafte Ton mancher Stellen scheint nachträglich zu seinem Recht zu kommen. Der Widerstand gegen die Assimilation, so schreibt Sallis einmal, sei "immer heftiger geworden, der Widerstand aus den Tiefen der nichtwestlichen Kulturen (wenn man diesen Ausdruck noch verwenden kann), von dem sich gezeigt hat, daß er sich bis zum offenen Krieg steigern kann". Zwar nicht das World Trade Center, aber der Turm des Chicago überragenden John Hancock Center ist in dem Band abgebildet, der mit Stahl, Glas und Beton den Stein hinter sich gelassen hat, und von den "kolossalen Behausungmaschinen" ist bei Sallis einmal ganz im Sinne von Heideggers Technik-Kritik die Rede.
Wenn künftige Philosophiehistoriker also einmal die blochische Frage nach dem "Vorschein" stellen werden, den die Ereignisse des 11. September warfen, dann wird dieses Buch unter den Beweisstücken sein - neben den "Omens of the Millennium" von Harold Bloom, der sich als einziger nicht scheute, dem puren Datum des Jahrtausendwechsels reale katastropische Potentiale zuzutrauen.
Zwei Lücken gibt es in diesem Buch. Die eine betrifft, in einem so völlig philosophisch angelegten Buch nicht überraschend, den weitgehenden Ausfall der Dichtung. Nur die Versteinerungsbilder von Shakespeares "Wintermärchen" werden im Schlußkapitel interpretiert. Goethes mineralogische Studien, die in den "Wilhelm Meister" hineinspielen, wären wohl einer Deutung wert gewesen. Aber Sallis hat, anders als der Franzose Gaston Bachelard, der in den fünfziger Jahren in einer Reihe von Monographien die Psychoanalyse der vier Elemente betrieb, auf weitere literarische Zeugnisse verzichtet.
Die zweite Leerstelle ist wesentlicher, sie betrifft die Kristalle. Der Stein ist für Sallis ja nicht nur das Dauernde, das Schwere und das Harte, sondern vor allem das schlechthin Opake, die Erde in ihrer dichtesten, undurchsichtigen Form. Oder, mit Heidegger gesprochen: das "Dumpfe" und "Massige". Offenbar denkt Sallis von der Hochmoderne her, die eine schmucklose Ästhetik des Steins nahelegte, in der schon die Farbigkeit der griechischen Statuen ein unlösbares Problem darstellen mußte. Aber der Stein selbst "steigert" im klaren Kristall sein Verhältnis zum Licht wie zur Idee: Er verbindet sich mit dem Licht nicht nur an der Oberfläche, und der Idee nähert er sich in seiner gesetzlichen Bildung. So ist das Scheinen und Erscheinen des Kristalls, ja schon des Halbedelsteins, ein anderes als das des Granits, das der philosophischen Betrachtung erst recht bedürfte.
Die Steine des neuen Jerusalem, die die biblische Offenbarung am Ende namentlich aufzählt - Jaspis und Saphir, Chalzedon und Smaragd und weitere - gehören offenbar einer anderen Ordnung an als der funktionale Stein des Bauens. "Und die Stadt bedarf keiner Sonne noch des Mondes, daß sie ihr scheinen; denn die Herrlichkeit Gottes erleuchtet sie, und ihre Leuchte ist das Lamm." Was Johannes hier beschreibt, findet sich als Programm christlicher Herrschaft im Schmuck der in der Wiener Hofburg verwahrten Reichskrone wieder. John Sallis hat ein Buch geschrieben, das den Tiefen des Steins nachgeht. Auf eine Philosophie seiner Höhe müssen wir weiter warten.
John Sallis: "Stein". Aus dem Englischen von Heinz Jatho. Wilhelm Fink Verlag, München 2003. 157 S., Abb., br., 19,90 [Euro].
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So viel Masse und Macht war nie: John Sallis bohrt den Tiefen des Steins nach / Von Lorenz Jäger
Platon, Hegel und Heidegger: Sie sind die Denker, die John Sallis in seinen "Diskursen über das Scheinen des Steins" befragt. Der amerikanische Philosoph gehört im weiteren Sinne der phänomenologischen Schule an, er hat in Freiburg geforscht, aber auch am Bochumer Hegel-Archiv und in Tübingen. Seit langem zielen seine Untersuchungen auf eine neue Deutung der antiken Elementenlehre, auf den Begriff der Physis und auf die Kosmologie des platonischen "Timaios". "Phänomen" heißt zunächst und dem Wortsinne nach "das Erscheinende". Auf seinem Weg zu den Steinen will Sallis die traditionellen metaphysischen Kategorien vermeiden, vor allem den allzu naheliegenden Begriff der "Substanz".
Die Grabsteine des Prager Judenfriedhofs sind einer der Ausgangspunkte dieses Buchs. Immer hat man in ihrer Enge etwas Besonderes, durchaus auch Unheimliches sehen wollen. Sallis erzählt die Geschichte dieser Anordnung: Der Raum des Getto-Friedhofs war begrenzt, über die Gräber breitete man Erde, und die Steine, dem Gedenken gewidmet, mußten stets aufs neue versetzt werden. Ein seltsamer Anblick, so Sallis, gegenüber dem Schweigen die angemessene Haltung sei. Wenn es denn ein Wort gibt, das der "schweigenden Bitte der Steine um Gedenken" entspreche, dann sei es "Vorbei". Es führt ihn auf den frühen Heidegger, der in den Vorstufen zu "Sein und Zeit" von "dem Vorbei" gesprochen hatte, bevor er sich für den "Tod" entschloß.
An die Geschichte des Gettos von Prag schließt Sallis politische Überlegungen an, zu Derridas Begriff des "Fremden" und der "Gastfreundschaft", die nicht ganz leicht zu verstehen sind. Einerseits glaubt man das Dogma multikultureller Inklusion in seiner naivsten Form heraushören zu können, wenn etwa von der "Alterität" und der "Differenz" die Rede ist, die zur "Identität" hinzugedacht werden müßten. Solche Sätze haben es meist an sich, daß ihr Spannungsverhältnis zur Freiheit nicht thematisiert wird. Zugleich finden sich bei Sallis weniger Argumente als Andeutungen über den Assimilations-Sog der kapitalistischen Globalisierung und der "westlichen Stadt", der zwangsläufig auf Widerstand treffen werde.
Dem Leitfaden der Hegelschen Ästhetik folgt das dritte Kapitel. Hegels Ausgangspunkt war es, die architektonischen Gebilde als Völkerzentren zu sehen. Das Bauwerk diene als "vereinigender Punkt für eine Nation, als Ort, um welchen sich die Nation versammelt". Diese Bestimmung gilt zunächst für den babylonischen Turmbau. Sein Ziel sei die Manifestation der "Gemeinsamkeit" all derer gewesen, die ihn gemeinsam erbauten. Eine bloß familiale Einheit war damit aufgehoben, eine "abstrakte Einheit aller Völker" markiert den Beginn - wobei es sich noch nicht um den eigentlichen Stein handelte, sondern um gebrannte Ziegel.
Der nächste Schritt waren die indischen Phallussäulen, Symbole der Zeugungskraft. In der Folge dialektischer Aufhebungen, als welche Hegel die Architekturgeschichte anlegte, kam sodann die Reihe an die ägyptischen Obelisken, "Sonnenstrahlen in Stein". Die letzte Aufhebung war für Hegel die gotische Kathedrale, die den Unterschied des Tragenden und des Lastenden tilgte, der für den griechischen Tempel entscheidend gewesen war. An die Stelle des rechten Winkels trat der Übergang, der dem neuen geistigen Gehalt angemessen war: Die Pfeiler, so Hegel, "werden mager, schlank und ragen so hinauf, daß der Blick die ganze Form nicht mit einem Male überschauen kann, sondern umherzuschweifen, emporzufliegen getrieben wird."
Es gehört zu den schönen Funden dieses Buchs, daß Sallis auf Hegels Briefe eingeht, die ein genaues Itinerar seiner Besuche in den großen Domen geben. 1822 reiste er nach Belgien und in die Niederlande, unterwegs besuchte er die Marburger Elisabethkirche - "in reinem gotischen Geschmack" - und den Kölner Dom, wo er sogar eine Messe hörte. Über Aachen, dessen Dom er ebenfalls besuchte, reiste Hegel weiter nach Gent und nach Antwerpen. Eine zweite Reise 1824 nach Wien führte ihn in den Stephansdom, scheint aber eher musikalisch als architektonisch ertragreich gewesen zu sein. Die dritte Reise, nach Paris, gab Hegel Gelegenheit zu einem Besuch der Trierer Konstantinsbasilika und der Kathedrale von Metz.
Auch Heideggers Gedanken über den griechischen Tempel lassen sich in die Geschichte einer Reise verflechten, die er nach langem Zögern im Frühjahr 1962 antrat. Für den Stein empfand der Philosoph eine besondere Sympathie. Er wurde aufgewertet, galt nicht mehr als bloßes Material, das der Wahrheit gegenüber unangemessen bleiben mußte. "Das Tempel-Werk", so Heidegger, "läßt, indem es eine Welt aufstellt, den Stoff nicht verschwinden, sondern allererst hervorkommen, und zwar im Offenen der Welt des Werkes."
Sallis' Buch erschien in den Vereinigten Staaten schon vor neun Jahren. Und der 11. September 2001 konnte in keiner Weise zum bewußten Horizont seiner Gedanken gehören. Dennoch spürt man einen unheimlichen Zusammenklang der wiederkehrenden Motive von Turm und Globalisierung, von Politik und Krieg, und der orakelhafte Ton mancher Stellen scheint nachträglich zu seinem Recht zu kommen. Der Widerstand gegen die Assimilation, so schreibt Sallis einmal, sei "immer heftiger geworden, der Widerstand aus den Tiefen der nichtwestlichen Kulturen (wenn man diesen Ausdruck noch verwenden kann), von dem sich gezeigt hat, daß er sich bis zum offenen Krieg steigern kann". Zwar nicht das World Trade Center, aber der Turm des Chicago überragenden John Hancock Center ist in dem Band abgebildet, der mit Stahl, Glas und Beton den Stein hinter sich gelassen hat, und von den "kolossalen Behausungmaschinen" ist bei Sallis einmal ganz im Sinne von Heideggers Technik-Kritik die Rede.
Wenn künftige Philosophiehistoriker also einmal die blochische Frage nach dem "Vorschein" stellen werden, den die Ereignisse des 11. September warfen, dann wird dieses Buch unter den Beweisstücken sein - neben den "Omens of the Millennium" von Harold Bloom, der sich als einziger nicht scheute, dem puren Datum des Jahrtausendwechsels reale katastropische Potentiale zuzutrauen.
Zwei Lücken gibt es in diesem Buch. Die eine betrifft, in einem so völlig philosophisch angelegten Buch nicht überraschend, den weitgehenden Ausfall der Dichtung. Nur die Versteinerungsbilder von Shakespeares "Wintermärchen" werden im Schlußkapitel interpretiert. Goethes mineralogische Studien, die in den "Wilhelm Meister" hineinspielen, wären wohl einer Deutung wert gewesen. Aber Sallis hat, anders als der Franzose Gaston Bachelard, der in den fünfziger Jahren in einer Reihe von Monographien die Psychoanalyse der vier Elemente betrieb, auf weitere literarische Zeugnisse verzichtet.
Die zweite Leerstelle ist wesentlicher, sie betrifft die Kristalle. Der Stein ist für Sallis ja nicht nur das Dauernde, das Schwere und das Harte, sondern vor allem das schlechthin Opake, die Erde in ihrer dichtesten, undurchsichtigen Form. Oder, mit Heidegger gesprochen: das "Dumpfe" und "Massige". Offenbar denkt Sallis von der Hochmoderne her, die eine schmucklose Ästhetik des Steins nahelegte, in der schon die Farbigkeit der griechischen Statuen ein unlösbares Problem darstellen mußte. Aber der Stein selbst "steigert" im klaren Kristall sein Verhältnis zum Licht wie zur Idee: Er verbindet sich mit dem Licht nicht nur an der Oberfläche, und der Idee nähert er sich in seiner gesetzlichen Bildung. So ist das Scheinen und Erscheinen des Kristalls, ja schon des Halbedelsteins, ein anderes als das des Granits, das der philosophischen Betrachtung erst recht bedürfte.
Die Steine des neuen Jerusalem, die die biblische Offenbarung am Ende namentlich aufzählt - Jaspis und Saphir, Chalzedon und Smaragd und weitere - gehören offenbar einer anderen Ordnung an als der funktionale Stein des Bauens. "Und die Stadt bedarf keiner Sonne noch des Mondes, daß sie ihr scheinen; denn die Herrlichkeit Gottes erleuchtet sie, und ihre Leuchte ist das Lamm." Was Johannes hier beschreibt, findet sich als Programm christlicher Herrschaft im Schmuck der in der Wiener Hofburg verwahrten Reichskrone wieder. John Sallis hat ein Buch geschrieben, das den Tiefen des Steins nachgeht. Auf eine Philosophie seiner Höhe müssen wir weiter warten.
John Sallis: "Stein". Aus dem Englischen von Heinz Jatho. Wilhelm Fink Verlag, München 2003. 157 S., Abb., br., 19,90 [Euro].
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Dem Stein geht der Philosoph John Sallis auf den Grund, mit schwerstem Geschütz: "Platon, Hegel und Heidegger". Am Stein zerschellt die Metaphysik, das Schweigen der Gräber auf dem Prager Judenfriedhof ist ihm gemäß. Mit einem Umweg über die Begriffe der "Alterität" und der "Differenz" legt Sallis Trittsteine zu Derrida und im dritten Kapitel folgt er, so der Rezensent Lorenz Jäger, "dem Leitfaden der Hegelschen Ästhetik". Es geht um Architektur und "Phallussäulen", Obelisken und Kathedralen. Interessant findet Jäger die Auseinandersetzung mit Hegels Briefen. Zwei "Leerstellen" freilich hat er ausgemacht: Literatur und Dichtung bleiben weitestgehend außen vor. Und, fast noch bedauerlicher: "die Kristalle". Hier hätte sich der Bogen schlagen lassen, meint der Rezensent, vom "Dumpfen" und "Massigen" zum Licht, zur Idee. Dass Sallis darauf verzichtet hat, kann der Rezensent nur bedauern.
© Perlentaucher Medien GmbH
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