Jeffrey Jerome Cohens Stein erinnert uns daran, dass das, was oft als die lebloseste aller Substanzen betrachtet wird, in ihrer eigenen Zeitlichkeit unruhig und in Bewegung ist. In der Literatur findet der Mediävist unerwartete Verbündete für das Ansinnen, mit der Dauer der Steine auch die Welt in anderen als nur den menschlichen Kategorien zu verstehen. Die mittelalterlichen Autor_innen etwa wussten, dass Steine als Feuerbälle aus dem Himmel fallen, aus dem unterirdischen Liebesspiel der Elemente hervorgehen, aus Flussbetten purzeln, die im Paradies entspringen, und mit den Steinmetzen, die aus ihnen die Welt errichten, eine enge Partnerschaft eingehen. Cohens Buch ist ein gewichtiger Beitrag zu einer neuen Theorie des Ökologischen und zugleich ein leichtfüßiger, so gelehrter wie persönlicher Bericht von der Vertrautheit und der Fremdheit, die Menschen und Steine verbinden.
Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Rezensent Maximilian Gillessen staunt über die Menge an Chroniken und Ritterromanen, aus denen der Mediävist Jeffrey Jerome Cohen schöpft, um Steine mit magischen Kräften ans Licht zu bringen. Dem Leser präsentiert der Autor laut Gillessen allerdings noch viel mehr, wenn er Theorien von Latour und Harman miteinander kollidieren lässt, vieles davon zwar überholt und von Cohen "eher matt" referiert, doch am Ende dieser Anstrengung steht die "Wiederverzauberung" der Welt, beteuert der Rezensent, dem das Buch insgesamt mehr wie ein Lapidarium bunter Steine vorkommt als eine wissenschaftsgeschichtliche Abhandlung.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 10.03.2023Im Lapidarium
Da pocht das Lithische: Jeffrey J. Cohen mischt mittelalterliche Texte über Steine mit rezenten Theorien über nichtmenschliche Akteure auf
Wann immer wir nach einem Bild für das Feste, Bleibende, Unumstößliche suchen, geraten wir fast zwangsläufig auf Fels und Gestein. Es ist der Stoff des Gesetzes und der Erinnerung, des Ruhmes und der Letztbegründung. Wegen ihrer Härte und Duldsamkeit gelten Steine jedoch zugleich als das Dumpfe und Träge schlechthin: als tote Materie, die formender Hände harrt.
Das ist nicht immer der Fall gewesen. In den mittelalterlichen Chroniken, Ritterromanen und Lapidarien, die der amerikanische Mediävist Jeffrey Jerome Cohen mit großer Kennerschaft und Begeisterung vor seinen Lesern ausbreitet, wimmelt es nur so von Steinen, die über eine Vielzahl magischer und therapeutischer Kräfte verfügen: Sie heilen Abszesse, schützen vor Hexerei und bösen Geistern, machen eloquent, beschleunigen die Geburt, prüfen Treue oder Jungfräulichkeit. Von manchen kostbaren Exemplaren hieß es, sie stammten aus dem Paradies, von anderen, sie müssten den Mägen wilder Tiere entrissen werden. Der Philosoph Albertus Magnus zögerte gar, den mineralischen Formen, die er in Steinbrüchen gesehen hatte, jedes Leben abzusprechen.
Cohen bezeichnet sein Buch als ein "Gedankenexperiment". Im Geiste der von ihm präsentierten Autoren will er "in der profansten aller Substanzen Lebendigkeit erkennen". Zu diesem Zweck lässt er zwei auf den ersten Blick heterogene Textkorpora wie Kontinentalplatten aufeinanderprallen: Werke, die vorwiegend aus dem spätmittelalterlichen Britannien stammen, treffen bei ihm auf eine schier unüberschaubare Menge von Theorietexten neueren Datums.
Alles, was zur Entstehungszeit des 2015 im Original erschienenen Buches in der akademischen Welt Rang und Namen hatte, wird von Cohen in der Einleitung aufgeboten: Die Palette reicht von der "Akteur-Netzwerk-Theorie" eines Bruno Latour über diverse Spielarten des "spekulativen Realismus" bis zur "objektorientierten Ontologie" eines Graham Harman und dem vitalistischen Materialismus einer Jane Bennett. Vieles davon wirkt heute schon wieder passé und bleibt in Cohens Referat eher matt. Was alle diese Theorien verbindet, ist der Wunsch, endlich zu den Dingen selbst vorzudringen. Sosehr sie auch dem Poststrukturalismus widersprechen, der ja gerade die Zeichenhaftigkeit der Welt betonte, so sehr ähneln sie ihm hinsichtlich des Misstrauens, das sie gegen das menschliche Subjekt hegen.
Allen Dingen und nichtmenschlichen Wesen soll nun eine "Handlungsmacht" - eine "agency" - zukommen: Der Stein, den wir am Strand aufheben, hat vielleicht uns gewählt. So ist auch das Vokabular, das derartige Theorien entfalten, betont harmonisch: Fast auf jeder Seite seines Buches beschreibt Cohen das Stein-Mensch-Verhältnis als Bündnis, Gefährtenschaft, Teilhabe, Großzügigkeit und, warum nicht, sogar als Liebe.
Eine solche Auffassung der Dinge mündet, positiv gewendet, in eine Wiederverzauberung der Welt. Gegen die Naturbeherrschung der instrumentellen Vernunft, die alles Seiende auf einen Bestand reduziert, betont Cohen die Eigenwilligkeit der steinernen Materie. In einer bewussten "Vermengung" liest er die Autoren des Mittelalters als Vorläufer zeitgenössischer Theoriebildung - eine Beziehung, die freilich umkehrbar ist und Anlass zur Frage geben könnte, wie viel Mystik im vermeintlich neuen Materialismus steckt.
Eine wissenschaftsgeschichtliche Abhandlung, die den möglichen epistemischen Bruch zwischen mittelalterlicher und neuzeitlicher Weltauffassung am Beispiel der Mineralogie thematisiert, darf man von Cohen also nicht erwarten. "Ein Schwindelgefühl", so versichert er, "ist vom Buch intendiert" und "entsteht nicht versehentlich aus seinem rhetorischen Exzess heraus." Die Themen wechseln einander ab wie bunte Steine in einem wundersamen Lapidarium, und von Stonehenge zu "Star Trek", von der Sintflut zum Atomendlager ist es oft nur ein Sprung.
Zwischen all diesen literarischen, theoretischen und selbst autobiographischen Sedimenten erscheinen bisweilen Ungetüme, denen auch die tapferen Übersetzer keinen rechten Schliff zu geben vermochten: "Als Schönheitsversprechen und Unschärferelation in einem summiert sich die Kraft von Stein zu einer Art Magie, einer ontologischen Zersetzung. Das Lithische pocht voller Dynamismus und begünstigt eine breitere Weltbezogenheit." Wie präzise und anschaulich schreibt Cohen dagegen, wenn er sich den Texten selbst zuwendet. Auch wer nie zuvor von Isidor de Sevilla, Geoffrey of Monmouth, Marie de France oder Jean de Mandeville gehört hat, wird die Welt der Steine dank Cohens einfühlsamer Darstellung rasch durch ihre Augen sehen. MAXIMILIAN GILLESSEN
Jeffrey Jerome Cohen: "Stein". Ökologie des Nichthumanen.
Aus dem Englischen von Till Bardoux und Nikola Basler. August Verlag, Berlin 2022.
480 S., geb., 38,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Da pocht das Lithische: Jeffrey J. Cohen mischt mittelalterliche Texte über Steine mit rezenten Theorien über nichtmenschliche Akteure auf
Wann immer wir nach einem Bild für das Feste, Bleibende, Unumstößliche suchen, geraten wir fast zwangsläufig auf Fels und Gestein. Es ist der Stoff des Gesetzes und der Erinnerung, des Ruhmes und der Letztbegründung. Wegen ihrer Härte und Duldsamkeit gelten Steine jedoch zugleich als das Dumpfe und Träge schlechthin: als tote Materie, die formender Hände harrt.
Das ist nicht immer der Fall gewesen. In den mittelalterlichen Chroniken, Ritterromanen und Lapidarien, die der amerikanische Mediävist Jeffrey Jerome Cohen mit großer Kennerschaft und Begeisterung vor seinen Lesern ausbreitet, wimmelt es nur so von Steinen, die über eine Vielzahl magischer und therapeutischer Kräfte verfügen: Sie heilen Abszesse, schützen vor Hexerei und bösen Geistern, machen eloquent, beschleunigen die Geburt, prüfen Treue oder Jungfräulichkeit. Von manchen kostbaren Exemplaren hieß es, sie stammten aus dem Paradies, von anderen, sie müssten den Mägen wilder Tiere entrissen werden. Der Philosoph Albertus Magnus zögerte gar, den mineralischen Formen, die er in Steinbrüchen gesehen hatte, jedes Leben abzusprechen.
Cohen bezeichnet sein Buch als ein "Gedankenexperiment". Im Geiste der von ihm präsentierten Autoren will er "in der profansten aller Substanzen Lebendigkeit erkennen". Zu diesem Zweck lässt er zwei auf den ersten Blick heterogene Textkorpora wie Kontinentalplatten aufeinanderprallen: Werke, die vorwiegend aus dem spätmittelalterlichen Britannien stammen, treffen bei ihm auf eine schier unüberschaubare Menge von Theorietexten neueren Datums.
Alles, was zur Entstehungszeit des 2015 im Original erschienenen Buches in der akademischen Welt Rang und Namen hatte, wird von Cohen in der Einleitung aufgeboten: Die Palette reicht von der "Akteur-Netzwerk-Theorie" eines Bruno Latour über diverse Spielarten des "spekulativen Realismus" bis zur "objektorientierten Ontologie" eines Graham Harman und dem vitalistischen Materialismus einer Jane Bennett. Vieles davon wirkt heute schon wieder passé und bleibt in Cohens Referat eher matt. Was alle diese Theorien verbindet, ist der Wunsch, endlich zu den Dingen selbst vorzudringen. Sosehr sie auch dem Poststrukturalismus widersprechen, der ja gerade die Zeichenhaftigkeit der Welt betonte, so sehr ähneln sie ihm hinsichtlich des Misstrauens, das sie gegen das menschliche Subjekt hegen.
Allen Dingen und nichtmenschlichen Wesen soll nun eine "Handlungsmacht" - eine "agency" - zukommen: Der Stein, den wir am Strand aufheben, hat vielleicht uns gewählt. So ist auch das Vokabular, das derartige Theorien entfalten, betont harmonisch: Fast auf jeder Seite seines Buches beschreibt Cohen das Stein-Mensch-Verhältnis als Bündnis, Gefährtenschaft, Teilhabe, Großzügigkeit und, warum nicht, sogar als Liebe.
Eine solche Auffassung der Dinge mündet, positiv gewendet, in eine Wiederverzauberung der Welt. Gegen die Naturbeherrschung der instrumentellen Vernunft, die alles Seiende auf einen Bestand reduziert, betont Cohen die Eigenwilligkeit der steinernen Materie. In einer bewussten "Vermengung" liest er die Autoren des Mittelalters als Vorläufer zeitgenössischer Theoriebildung - eine Beziehung, die freilich umkehrbar ist und Anlass zur Frage geben könnte, wie viel Mystik im vermeintlich neuen Materialismus steckt.
Eine wissenschaftsgeschichtliche Abhandlung, die den möglichen epistemischen Bruch zwischen mittelalterlicher und neuzeitlicher Weltauffassung am Beispiel der Mineralogie thematisiert, darf man von Cohen also nicht erwarten. "Ein Schwindelgefühl", so versichert er, "ist vom Buch intendiert" und "entsteht nicht versehentlich aus seinem rhetorischen Exzess heraus." Die Themen wechseln einander ab wie bunte Steine in einem wundersamen Lapidarium, und von Stonehenge zu "Star Trek", von der Sintflut zum Atomendlager ist es oft nur ein Sprung.
Zwischen all diesen literarischen, theoretischen und selbst autobiographischen Sedimenten erscheinen bisweilen Ungetüme, denen auch die tapferen Übersetzer keinen rechten Schliff zu geben vermochten: "Als Schönheitsversprechen und Unschärferelation in einem summiert sich die Kraft von Stein zu einer Art Magie, einer ontologischen Zersetzung. Das Lithische pocht voller Dynamismus und begünstigt eine breitere Weltbezogenheit." Wie präzise und anschaulich schreibt Cohen dagegen, wenn er sich den Texten selbst zuwendet. Auch wer nie zuvor von Isidor de Sevilla, Geoffrey of Monmouth, Marie de France oder Jean de Mandeville gehört hat, wird die Welt der Steine dank Cohens einfühlsamer Darstellung rasch durch ihre Augen sehen. MAXIMILIAN GILLESSEN
Jeffrey Jerome Cohen: "Stein". Ökologie des Nichthumanen.
Aus dem Englischen von Till Bardoux und Nikola Basler. August Verlag, Berlin 2022.
480 S., geb., 38,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main