Stella, die frustrierte Ehefrau eines Londoner Psychiaters, verliebt sich in Edgar, einen Patienten ihres Mannes. Edgar ist Bildhauer und hat vor Jahren seiner Frau in krankhafter Eifersucht den Kopf abgeschnitten - nachdem er zuvor eine Büste des Kopfes angefertigt hatte. Die Liebe zwischen Edgar und Stella gedeiht, bis Edgar beginnt Stellas Kopf zu modellieren.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 15.12.1997Der nächste, bitte!
Patrick McGrath zitiert Madame Bovary in seine Romanklinik
Stella, die schöne Frau des Psychiaters Max Raphael, langweilt sich mit ihrem philiströsen und sexuell inaktiven Gatten, dem stellvertretenden Direktor einer psychiatrischen Anstalt südlich von London, bis sie den Patienten Edgar Stark kennenlernt, einen Bildhauer, der seine Frau aufgrund wahnhafter Eifersucht ermordet und gräßlich verstümmelt hat. Zwischen ihm und Stella entwickelt sich eine Affäre, die von ihrer Seite alle Anzeichen sexueller Hörigkeit trägt.
Als Edgar eines Tages aus der Anstalt flieht, folgt Stella ihm wenig später in seinen Londoner Unterschlupf und kann mit ihm nun endlich einem ungehemmten Sexualleben frönen, bis ihr dasselbe Schicksal droht wie Edgars Frau. Doch ihr gelingt die Flucht, und sie wird von ihrem beleidigten Gatten wiederaufgenommen. Er ist wegen der Affäre seiner Frau jedoch für die Klinik untragbar geworden und muß in einer gottverlassenen Gegend in Nordwales eine neue Existenz aufbauen. Stella wird dort am Tod ihres einzigen Kindes Charly schuldig. Der Sohn ertrinkt bei einem Ausflug, ohne daß die Mutter eingreift, da sie in psychischer Verwirrung ihre Haßgefühle gegenüber ihrem Mann auf das gemeinsame Kind überträgt ("ein klassischer Medea-Komplex") und zugleich in dem um sein Leben ringenden Charly den Geliebten sieht, dessen Tod sie von ihrer sexuellen Obsession befreien soll. Ist so etwas möglich? McGrath scheint es zu wissen; er hat sich für seinen Roman eingehend psychiatrisch beraten lassen.
Schließlich landet Stella als Patientin in der gleichen Klinik, deren stellvertretende Direktorsgattin sie einst war und in die auch Edgar inzwischen wieder eingeliefert worden ist, ohne daß beide sich zu sehen bekommen. Obwohl sich eine Idylle anbahnt - der neue Direktor der Klinik und Ich-Erzähler des Romans bietet ihr eine Art Josefsehe an -, geht Stella in ungebrochener Leidenschaft für den unerreichbar gewordenen Edgar in den Freitod.
Der im Jahre 1950 als Sohn eines prominenten Gerichtspsychiaters geborene und seit 1981 in New York lebende Patrick McGrath legt in seinem neuen Roman eine modern-psychiatrische Version von "Madame Bovary" vor. Gerade dieses offenkundige Vorbild demonstriert jedoch den unermeßlichen Abstand zwischen einem großen Romancier, der als Erzähler hinter das Eigenleben seiner Gestalten zurücktritt, und einem Autor, der seinen Figuren keinen Moment erlaubt, sich von seinem wertenden Gängelband zu entfernen, der den Ich-Erzähler jede Regung der Figuren und dazu noch seine eigenen psychoanalytisch-psychiatrisch kommentieren läßt. Da bleibt nichts dunkel, nichts mehrdeutig - ein Buch ohne Doppelbödigkeit, sehr vergleichbar Pat Barkers Roman "Regeneration", der (unter dem Titel "Niemandsland") gleichfalls in diesem Jahr auf den deutschen Buchmarkt gelangt ist und ebenfalls in einer psychiatrischen Klinik spielt.
Der Romancier wird zum Kliniker, der nicht mehr Leben erzählen, sondern Fälle analysieren will - und das in einem (durch die holprige deutsche Übersetzung noch weiter ausgedünnten) literaturfernen Jargon, der immer gleiche Aktionsklischees transportiert. Ständig "genehmigt" man sich einen Drink, putzt sich die Brille, und legt sich, wenn man Probleme hat, in die Badewanne. Trotz aller Bemühung um psychologische Evidenz bleibt die geradlinige Ich-Erzählhaltung von den Einsichten moderner Romanästhetik unberührt. Nur der Stoff, nicht die Struktur dieses Romans stammt aus dem zwanzigsten Jahrhundert.
Liebe und Eros sind bei McGrath gänzlich auf Sexualität reduziert. Die permanente Schilderung sich versteifender Penisse und des Befingerns der Geschlechtsteile ist so phantasielos, daß nicht einmal ein pornographisch ambitionierter Leser auf seine Kosten käme. Aber auch fast alle anderen menschlichen Regungen werden zu Grimassen herabgestimmt. Man weint nicht mehr, sondern wird von Krämpfen geschüttelt, und es wird kaum mehr gelacht und gelächelt, sondern nur noch gegrinst. Irgendwelche intellektuellen Bedürfnisse außerhalb des psychologisierenden Räsonnements scheinen der Ich-Erzähler und die meist der Oberschicht angehörenden Personen des Romans kaum zu haben - ohne daß dies Anlaß der Trauer oder Kritik wäre. Selbst das Künstlertum erscheint nur als versetzte Sexualpraktik. DIETER BORCHMEYER
Patrick McGrath: "Stella". Roman. Aus dem Englischen übersetzt von Brigitte Walitzek. Berlin Verlag, Berlin 1997. 333 S., geb., 38,- DM
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Patrick McGrath zitiert Madame Bovary in seine Romanklinik
Stella, die schöne Frau des Psychiaters Max Raphael, langweilt sich mit ihrem philiströsen und sexuell inaktiven Gatten, dem stellvertretenden Direktor einer psychiatrischen Anstalt südlich von London, bis sie den Patienten Edgar Stark kennenlernt, einen Bildhauer, der seine Frau aufgrund wahnhafter Eifersucht ermordet und gräßlich verstümmelt hat. Zwischen ihm und Stella entwickelt sich eine Affäre, die von ihrer Seite alle Anzeichen sexueller Hörigkeit trägt.
Als Edgar eines Tages aus der Anstalt flieht, folgt Stella ihm wenig später in seinen Londoner Unterschlupf und kann mit ihm nun endlich einem ungehemmten Sexualleben frönen, bis ihr dasselbe Schicksal droht wie Edgars Frau. Doch ihr gelingt die Flucht, und sie wird von ihrem beleidigten Gatten wiederaufgenommen. Er ist wegen der Affäre seiner Frau jedoch für die Klinik untragbar geworden und muß in einer gottverlassenen Gegend in Nordwales eine neue Existenz aufbauen. Stella wird dort am Tod ihres einzigen Kindes Charly schuldig. Der Sohn ertrinkt bei einem Ausflug, ohne daß die Mutter eingreift, da sie in psychischer Verwirrung ihre Haßgefühle gegenüber ihrem Mann auf das gemeinsame Kind überträgt ("ein klassischer Medea-Komplex") und zugleich in dem um sein Leben ringenden Charly den Geliebten sieht, dessen Tod sie von ihrer sexuellen Obsession befreien soll. Ist so etwas möglich? McGrath scheint es zu wissen; er hat sich für seinen Roman eingehend psychiatrisch beraten lassen.
Schließlich landet Stella als Patientin in der gleichen Klinik, deren stellvertretende Direktorsgattin sie einst war und in die auch Edgar inzwischen wieder eingeliefert worden ist, ohne daß beide sich zu sehen bekommen. Obwohl sich eine Idylle anbahnt - der neue Direktor der Klinik und Ich-Erzähler des Romans bietet ihr eine Art Josefsehe an -, geht Stella in ungebrochener Leidenschaft für den unerreichbar gewordenen Edgar in den Freitod.
Der im Jahre 1950 als Sohn eines prominenten Gerichtspsychiaters geborene und seit 1981 in New York lebende Patrick McGrath legt in seinem neuen Roman eine modern-psychiatrische Version von "Madame Bovary" vor. Gerade dieses offenkundige Vorbild demonstriert jedoch den unermeßlichen Abstand zwischen einem großen Romancier, der als Erzähler hinter das Eigenleben seiner Gestalten zurücktritt, und einem Autor, der seinen Figuren keinen Moment erlaubt, sich von seinem wertenden Gängelband zu entfernen, der den Ich-Erzähler jede Regung der Figuren und dazu noch seine eigenen psychoanalytisch-psychiatrisch kommentieren läßt. Da bleibt nichts dunkel, nichts mehrdeutig - ein Buch ohne Doppelbödigkeit, sehr vergleichbar Pat Barkers Roman "Regeneration", der (unter dem Titel "Niemandsland") gleichfalls in diesem Jahr auf den deutschen Buchmarkt gelangt ist und ebenfalls in einer psychiatrischen Klinik spielt.
Der Romancier wird zum Kliniker, der nicht mehr Leben erzählen, sondern Fälle analysieren will - und das in einem (durch die holprige deutsche Übersetzung noch weiter ausgedünnten) literaturfernen Jargon, der immer gleiche Aktionsklischees transportiert. Ständig "genehmigt" man sich einen Drink, putzt sich die Brille, und legt sich, wenn man Probleme hat, in die Badewanne. Trotz aller Bemühung um psychologische Evidenz bleibt die geradlinige Ich-Erzählhaltung von den Einsichten moderner Romanästhetik unberührt. Nur der Stoff, nicht die Struktur dieses Romans stammt aus dem zwanzigsten Jahrhundert.
Liebe und Eros sind bei McGrath gänzlich auf Sexualität reduziert. Die permanente Schilderung sich versteifender Penisse und des Befingerns der Geschlechtsteile ist so phantasielos, daß nicht einmal ein pornographisch ambitionierter Leser auf seine Kosten käme. Aber auch fast alle anderen menschlichen Regungen werden zu Grimassen herabgestimmt. Man weint nicht mehr, sondern wird von Krämpfen geschüttelt, und es wird kaum mehr gelacht und gelächelt, sondern nur noch gegrinst. Irgendwelche intellektuellen Bedürfnisse außerhalb des psychologisierenden Räsonnements scheinen der Ich-Erzähler und die meist der Oberschicht angehörenden Personen des Romans kaum zu haben - ohne daß dies Anlaß der Trauer oder Kritik wäre. Selbst das Künstlertum erscheint nur als versetzte Sexualpraktik. DIETER BORCHMEYER
Patrick McGrath: "Stella". Roman. Aus dem Englischen übersetzt von Brigitte Walitzek. Berlin Verlag, Berlin 1997. 333 S., geb., 38,- DM
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