Dieser Familienroman wurde gefeiert als der «wahrscheinlich beste amerikanische Roman» seit Franzens «Korrekturen». Die fesselnde Geschichte über Liebe, Zusammenhalt und Depression war unter anderem nominiert für den Pulitzer-Preis und den National Book Award. John und Margaret sind ein Paar mit glänzenden Aussichten. Doch als John während einer manisch-depressiven Episode in eine Londoner Klinik eingewiesen wird, steht die junge Amerikanerin Margaret vor einer Entscheidung: an ihm festzuhalten, ungeachtet der Schmerzen, die das Leben an seiner Seite ihr bringen könnte. Oder den Weg ohne ihn zu gehen. Was folgt, ist der ergreifende Roman einer Familie über zwei Generationen, der das Leben feiert, weil er um seine Zerbrechlichkeit weiß.
Depressionen sind für Hasletts neuenglische Mittelstandsfamilie keine bloße Sto¨rung des Zusammenlebens, sondern Existenzgrund und Erkenntnisinstrument, ein Höllenfeuer, in dem weiche Gefühle gehärtet und zerfallende Familien zusammengeschmiedet werden. Wie der achtundvierzigjährige New Yorker Autor die subtile Psychodynamik einer traumatisierten Familie u¨ber fast fünfzig Jahre hinweg in all ihren Farbnuancen und historischen Facetten nachzeichnet, ohne dabei ihre Komik zu vernachla¨ssigen oder die Leser runterzuziehen - das ist große Erzählkunst. Der Roman deprimiert nicht. Er bewegt und ru¨hrt und ermutigt vielmehr dazu, das Ungeheuer mit Liebe und Verständnis zu bändigen. Der Vater und sein Kind fallen in den Brunnen des Todes, aber man kann daraus immer noch das klare Wasser von Trost und Sinn schöpfen. Martin Halter FAZ.NET
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 26.01.2018Das Ungeheuer sitzt mit am Tisch
Toxisches Paradox: In Adam Hasletts neuem Roman „Stellt euch vor, ich bin fort“ kämpfen
die Figuren verzweifelt um den Bestand ihrer Familie – von der sie ruiniert werden
VON CHRISTOPH SCHRÖDER
Kurz vor Weihnachten treffen sie alle zusammen im Haus von Margaret: Michael und Alec, die beiden Söhne, und Celia, Margarets Tochter. Celia hat Paul mitgebracht, ihren Freund. Schon beim Essen im Restaurant kommt es zu Spannungen: Das Essen ist Margaret zu teuer, obwohl sie selbst es gar nicht bezahlen muss. Als dann die Rechnung kommt, wird Alecs Kreditkarte zurückgewiesen. Später sitzen sie am Abend im Wohnzimmer zusammen, tauschen die eine oder andere kleine Gehässigkeit aus. Den einen ist es zu warm im Haus, den anderen zu kalt. Und irgendwann, kurz bevor man zu Bett geht, sagt Paul den entscheidenden Satz: „Ihr seid alle verrückt.“ Und wahrscheinlich hat er damit sogar recht.
Adam Haslett unternimmt in seinem zweiten, in den USA hoch gelobten Roman einen ambitionierten Versuch. Er benutzt das Muster des klassischen Familienromans, um eben dieses Muster in seiner Struktur zu durchkreuzen und auszuhöhlen. Gleichzeitig baut Haslett einen erzählerischen Bogen über fünf Jahrzehnte hinweg auf und hat durchaus den Anspruch, Zeitgeschichte und gesellschaftliche Entwicklungen zu transportieren.
Im Zentrum allerdings steht eine Krankheit. John und Margaret lernen sich zu Beginn der 1960er-Jahre in London auf einer Party kennen. Sie ist Amerikanerin, er stammt aus einer englischen Familie, in der Konventionen über allem stehen. Die beiden verlieben sich ineinander und beschließen zu heiraten. Als Margaret nach einem kurzen Aufenthalt in den USA zurück nach England kommt, ist John zunächst nicht aufzufinden. Johns Mutter klärt Margaret darüber auf, dass John an einer schweren Depression leide und sich in einer Klinik aufhalte. „Höchst unerfreulich“, so nennt die Mutter die Erkrankung ihres Sohnes. Margaret trifft dennoch die schwerwiegende Entscheidung, John zu heiraten; die beiden bekommen drei Kinder: Michael, Celia und Alec.
Das ist die Vorgeschichte der eigentlichen Handlung, die Adam Haslett in zersplitterten Rückblenden aus Margarets Erinnerung heraus erzählt. Überhaupt leidet „Stellt euch vor, ich bin fort“ keinesfalls an einem Mangel an technischer Versiertheit und kompositorischer Raffinesse. Haslett erzählt aus fünf Perspektiven, variiert permanent die Distanz zu seinen Figuren; kommt ihnen wechselweise sehr nahe, um sich im darauf folgenden Kapitel herauszuzoomen und das Geschehen aus der Vogelperspektive zu kommentieren. Das wirkt stellenweise fast ein wenig zu kalkuliert, ist aber immer dann effektiv, wenn es Haslett gelingt, die Depression als Daseinsurgrund aller seiner Figuren darzustellen, ohne dabei plakativ zu werden.
Dass die Geschichte mit einem katastrophischen Ereignis endet, weiß man von Beginn an, denn der Roman beginnt damit, dass Alec verzweifelt durch den Schnee rennt, auf der Suche nach Hilfe. Es muss etwas mit Michael passiert sein. Doch unmittelbar danach breitet Haslett die Schilderung eines Familienurlaubs in den 1970er-Jahren aus: Der Aufbruch der fünfköpfigen Familie mit dem dazugehörigen Chaos, das komplizierte Binnenverhältnis der Geschwister, die Neckereien, das Ankommen im Ferienhaus in Neu-England. Und dazwischen eingestreut kleine Anzeichen, die sich erst im Nachhinein als Warnsignale deuten lassen. Johns Antriebslosigkeit. Seine Unfähigkeit, in bestimmten Situationen adäquat zu reagieren. Seine Weigerung, Konflikte anzunehmen. Seine berufliche Unstetigkeit, die dazu führt, dass die Familie zwischen England und Boston pendeln muss und auch geografisch keinen Halt findet.
Die Depression hat die gesamte Familie im Griff. Sie hat sich hineingebohrt in das Denken, Empfinden und Handeln aller. Die entscheidenden Ereignisse, auch das ist immer wieder klug und geschickt in Szene gesetzt, werden mit der größtmöglichen Beiläufigkeit erzählt. „Stellt euch vor, ich bin fort“, sagt John bei einem Bootsausflug zu Celia und Alec, überlässt ihnen das Ruder und stellt sich schlafend. Nicht allzu lange darauf wird John wirklich fort sein, und seine Familie muss mit dem Trauma des Verschwindens zurechtkommen.
So überzeugend der Roman im Kern gedacht ist, so weitschweifig und redundant wird er allerdings immer dann, wenn es darum geht, die Lebenswege von Michael, Alec und Celia durch die Jahrzehnte hinweg zu begleiten. Während Haslett zu Margaret stets in einer angenehmen, fast schwebenden Halbdistanz bleibt, walzt er die Alltagsprobleme der drei Kinder in aller Ausführlichkeit und auch ohne Furcht vor Stereotypen aus. Eine Neigung, die sich schon in seinem Debüt „Union Atlantic“ bemerkbar machte.
Das Ungeheuer, so heißt im Roman die Depression, hat Celia und Alec zwar nicht angefallen, doch sind beide weit entfernt von einer gradlinigen Biografie. Celia flieht an die Westküste und arbeitet mit gestrauchelten Jugendlichen, Alec steht als Reporter im Printjournalismus auf unsicheren Beinen. Michael schließlich entwickelt sich zu einem lebensuntüchtigen Musiknerd, der das Leid aller Opfer von Kolonialismus und Rassismus auf sich zu nehmen bereit ist. In ihm kondensiert sich das dunkle, pathologische Familienerbe. In all seiner Verquastheit und Diskursverliebtheit mag er authentisch gezeichnet sein – doch ist leider sein verqueres Gedankenuniversum oft auch eine ziemlich langweilige Lektüre.
„Stellt euch vor, ich bin fort“ ist die Literatur gewordene Vorführung einer paradoxen Zwangslage, ein Roman, der von Menschen erzählt, die verzweifelt um die Aufrechterhaltung der Institution Familie kämpfen, obwohl es eben diese Institution ist, die sie auffrisst. Es ist das Buch einer toxischen Verwandtschaft, eines zersetzenden Giftes mit einem, auch das muss gesagt werden, leicht süßlich parfümierten Ausgang.
Der Musiknerd Michael ist in
seiner Diskursverliebtheit
ziemlich anstrengend
Adam Haslett: Stellt euch vor, ich bin fort. Roman. Aus dem Englischen von Dirk van Gunsteren. Rowohlt Verlag, Reinbek 2018. 462 Seiten, 22,95 Euro. E-Book 19,99 Euro.
Zwischen Boston und England pendelt die Familie in Adam Hasletts Roman. Überall lauert die Depression. Hier, im alten Boston, legen die Straßen nah: Ihr müsst die Laufrichtung ändern.
Foto: mauritius images
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Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Toxisches Paradox: In Adam Hasletts neuem Roman „Stellt euch vor, ich bin fort“ kämpfen
die Figuren verzweifelt um den Bestand ihrer Familie – von der sie ruiniert werden
VON CHRISTOPH SCHRÖDER
Kurz vor Weihnachten treffen sie alle zusammen im Haus von Margaret: Michael und Alec, die beiden Söhne, und Celia, Margarets Tochter. Celia hat Paul mitgebracht, ihren Freund. Schon beim Essen im Restaurant kommt es zu Spannungen: Das Essen ist Margaret zu teuer, obwohl sie selbst es gar nicht bezahlen muss. Als dann die Rechnung kommt, wird Alecs Kreditkarte zurückgewiesen. Später sitzen sie am Abend im Wohnzimmer zusammen, tauschen die eine oder andere kleine Gehässigkeit aus. Den einen ist es zu warm im Haus, den anderen zu kalt. Und irgendwann, kurz bevor man zu Bett geht, sagt Paul den entscheidenden Satz: „Ihr seid alle verrückt.“ Und wahrscheinlich hat er damit sogar recht.
Adam Haslett unternimmt in seinem zweiten, in den USA hoch gelobten Roman einen ambitionierten Versuch. Er benutzt das Muster des klassischen Familienromans, um eben dieses Muster in seiner Struktur zu durchkreuzen und auszuhöhlen. Gleichzeitig baut Haslett einen erzählerischen Bogen über fünf Jahrzehnte hinweg auf und hat durchaus den Anspruch, Zeitgeschichte und gesellschaftliche Entwicklungen zu transportieren.
Im Zentrum allerdings steht eine Krankheit. John und Margaret lernen sich zu Beginn der 1960er-Jahre in London auf einer Party kennen. Sie ist Amerikanerin, er stammt aus einer englischen Familie, in der Konventionen über allem stehen. Die beiden verlieben sich ineinander und beschließen zu heiraten. Als Margaret nach einem kurzen Aufenthalt in den USA zurück nach England kommt, ist John zunächst nicht aufzufinden. Johns Mutter klärt Margaret darüber auf, dass John an einer schweren Depression leide und sich in einer Klinik aufhalte. „Höchst unerfreulich“, so nennt die Mutter die Erkrankung ihres Sohnes. Margaret trifft dennoch die schwerwiegende Entscheidung, John zu heiraten; die beiden bekommen drei Kinder: Michael, Celia und Alec.
Das ist die Vorgeschichte der eigentlichen Handlung, die Adam Haslett in zersplitterten Rückblenden aus Margarets Erinnerung heraus erzählt. Überhaupt leidet „Stellt euch vor, ich bin fort“ keinesfalls an einem Mangel an technischer Versiertheit und kompositorischer Raffinesse. Haslett erzählt aus fünf Perspektiven, variiert permanent die Distanz zu seinen Figuren; kommt ihnen wechselweise sehr nahe, um sich im darauf folgenden Kapitel herauszuzoomen und das Geschehen aus der Vogelperspektive zu kommentieren. Das wirkt stellenweise fast ein wenig zu kalkuliert, ist aber immer dann effektiv, wenn es Haslett gelingt, die Depression als Daseinsurgrund aller seiner Figuren darzustellen, ohne dabei plakativ zu werden.
Dass die Geschichte mit einem katastrophischen Ereignis endet, weiß man von Beginn an, denn der Roman beginnt damit, dass Alec verzweifelt durch den Schnee rennt, auf der Suche nach Hilfe. Es muss etwas mit Michael passiert sein. Doch unmittelbar danach breitet Haslett die Schilderung eines Familienurlaubs in den 1970er-Jahren aus: Der Aufbruch der fünfköpfigen Familie mit dem dazugehörigen Chaos, das komplizierte Binnenverhältnis der Geschwister, die Neckereien, das Ankommen im Ferienhaus in Neu-England. Und dazwischen eingestreut kleine Anzeichen, die sich erst im Nachhinein als Warnsignale deuten lassen. Johns Antriebslosigkeit. Seine Unfähigkeit, in bestimmten Situationen adäquat zu reagieren. Seine Weigerung, Konflikte anzunehmen. Seine berufliche Unstetigkeit, die dazu führt, dass die Familie zwischen England und Boston pendeln muss und auch geografisch keinen Halt findet.
Die Depression hat die gesamte Familie im Griff. Sie hat sich hineingebohrt in das Denken, Empfinden und Handeln aller. Die entscheidenden Ereignisse, auch das ist immer wieder klug und geschickt in Szene gesetzt, werden mit der größtmöglichen Beiläufigkeit erzählt. „Stellt euch vor, ich bin fort“, sagt John bei einem Bootsausflug zu Celia und Alec, überlässt ihnen das Ruder und stellt sich schlafend. Nicht allzu lange darauf wird John wirklich fort sein, und seine Familie muss mit dem Trauma des Verschwindens zurechtkommen.
So überzeugend der Roman im Kern gedacht ist, so weitschweifig und redundant wird er allerdings immer dann, wenn es darum geht, die Lebenswege von Michael, Alec und Celia durch die Jahrzehnte hinweg zu begleiten. Während Haslett zu Margaret stets in einer angenehmen, fast schwebenden Halbdistanz bleibt, walzt er die Alltagsprobleme der drei Kinder in aller Ausführlichkeit und auch ohne Furcht vor Stereotypen aus. Eine Neigung, die sich schon in seinem Debüt „Union Atlantic“ bemerkbar machte.
Das Ungeheuer, so heißt im Roman die Depression, hat Celia und Alec zwar nicht angefallen, doch sind beide weit entfernt von einer gradlinigen Biografie. Celia flieht an die Westküste und arbeitet mit gestrauchelten Jugendlichen, Alec steht als Reporter im Printjournalismus auf unsicheren Beinen. Michael schließlich entwickelt sich zu einem lebensuntüchtigen Musiknerd, der das Leid aller Opfer von Kolonialismus und Rassismus auf sich zu nehmen bereit ist. In ihm kondensiert sich das dunkle, pathologische Familienerbe. In all seiner Verquastheit und Diskursverliebtheit mag er authentisch gezeichnet sein – doch ist leider sein verqueres Gedankenuniversum oft auch eine ziemlich langweilige Lektüre.
„Stellt euch vor, ich bin fort“ ist die Literatur gewordene Vorführung einer paradoxen Zwangslage, ein Roman, der von Menschen erzählt, die verzweifelt um die Aufrechterhaltung der Institution Familie kämpfen, obwohl es eben diese Institution ist, die sie auffrisst. Es ist das Buch einer toxischen Verwandtschaft, eines zersetzenden Giftes mit einem, auch das muss gesagt werden, leicht süßlich parfümierten Ausgang.
Der Musiknerd Michael ist in
seiner Diskursverliebtheit
ziemlich anstrengend
Adam Haslett: Stellt euch vor, ich bin fort. Roman. Aus dem Englischen von Dirk van Gunsteren. Rowohlt Verlag, Reinbek 2018. 462 Seiten, 22,95 Euro. E-Book 19,99 Euro.
Zwischen Boston und England pendelt die Familie in Adam Hasletts Roman. Überall lauert die Depression. Hier, im alten Boston, legen die Straßen nah: Ihr müsst die Laufrichtung ändern.
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 28.02.2018Verzweifelt komisch, grotesk phantastisch
Elend zieht es immer zum Elend: Adam Hasletts bewegender Familienliebesroman "Stellt euch vor, ich bin fort".
Depression ist ein schlummerndes Ungeheuer, das die Seele von innen her auffrisst. Um den "Lebensdieb" in Schach zu halten, hat John immer nach Sinn gesucht. Nicht nach dem großen, transzendenten "Sinn per se", sondern nach den kleinen Sinnpartikeln, die beim Überleben helfen. "Doch das reicht nicht, wenn das Ungeheuer seinen Rüssel in deinen Hinterkopf gebohrt hat und das Licht, das durch deine Augen fällt, fortsaugt ins Nichts. Und darum sehne ich mich wie ein Krüppel nach etwas, was für die anderen so selbstverständlich ist, dass sie es gar nicht bemerken: nach einem ganz alltäglichen Sinn. Stattdessen habe ich Worte. Das Ungeheuer raubt mir die Worte nicht. Es raubt mir vielleicht das Sprechen, aber nicht die Worte im Kopf, denn die sind seine Helfer. Eine Armee aus winzigen, unsichtbaren Toten, die ihre winzigen, flirrenden Sicheln schwingen und auf das Fleisch des Geistes einhacken." Sie zermürben John mit ihrem tödlichen Gestichel, mit gebetsmühlenartig wiederholten Selbstvorwürfen, Zweifeln, Ängsten, bis er eines Tages geht, obwohl es ihm das Herz zerreißt.
"Stellt euch vor, ich bin fort" (im Original lakonischer: "Imagine me gone") war eines der Spiele, die John mit seinen Kindern spielte, eine Art Überlebenstraining, etwa wenn er sich beim Bootsausflug plötzlich tot stellte. Jetzt ist er wirklich fort, für immer, und seine Frau und die drei Kinder müssen ohne ihren Kapitän durch schwere See navigieren. Adam Haslett war vierzehn, als sein depressiver Vater sich das Leben nahm. In seinem zweiten, sehr persönlichen Roman erzählt er jetzt, wie eine Familie am Suizid des Vaters fast zerbricht und dann doch die Reihen umso fester schließt. Das Trauma lässt sich weder verdrängen noch wegtherapieren. Der tote Vater lebt in allem und allen weiter, in ihren Gedanken, Partnern, Kindern, in ihrem Gefühl, bei lebendigem Leibe tot zu sein, und in ihrem Lebenshunger, in ihren Schuldkomplexen, ihrer panischen Angst, verlassen zu werden, im lähmenden Bewusstsein des Ungenügens. Depression kann eine genetische Disposition sein, aber sie kann auch gelindert oder sogar geheilt werden durch Verständnis und Liebe: "Wir sind keine Individuen. Die Lebenden suchen uns ebenso heim wie die Toten."
Margaret hat ihren Mann nicht immer verstanden, aber bis zuletzt geliebt. John war Engländer, eine Figur wie von Henry James: sensibel, leise, ein wenig kühl und unbeholfen; so konnte er das Ungeheuer in sich lange hinter Melancholie, Einsamkeit und höflichen Konventionen verbergen. Margaret wusste, auf was sie sich einließ, aber erst seit John nicht mehr da ist, weiß sie, was ihr fehlt. Das Leben muss weitergehen, schon um der Kinder willen, und so hält die Bibliothekarin die Rest-Familie zusammen mit gluckenhafter Mutterliebe, amerikanischem Optimismus und einer Portion weltfremder Betulichkeit. Alle glücklichen Familien sind einander ähnlich, jede unglückliche Familie ist unglücklich auf ihre Weise. Haslett erzählt die Geschichte der Hinterbliebenen aus vier verschiedenen Perspektiven, mal ganz nah, mal aus der Vogelperspektive. Jedes Familienmitglied hat eine eigene Stimme, ein anderes Schicksal, alle sind durch gemeinsame Erinnerungen aneinander gebunden auf Gedeih und Verderb.
Celia war immer die Vernünftige in der Familie, und selbst Mutters Sorgen- und Lieblingskind Alec kommt erstaunlich heil aus dem Schlamassel heraus. Schwul (wie Haslett), exhibitionistisch, psychisch labil, prekär beschäftigt als Journalist, scheint er am Tod des Vaters zu zerbrechen, aber dann begegnet er Seth und wird, zu seiner eigenen Verblüffung, von ihm getragen und gehalten. Michael, der älteste Sohn, hat das schlechteste Los gezogen. Schon als Kind hochbegabt und schwer gestört, vergrub er sich an der Universität immer tiefer in einer manisch-depressiven Parallelwelt. Mit verzweifelter Komik, grotesken Phantasien und Gedankengut von Frantz Fanon bis Lacan verkämpft er sich für unterdrückte Minderheiten in aller Welt, um seine Schuld und die der weißen Heteromänner überhaupt zu sühnen. Michael weiß alles über Dubsteb, Acid House und Donna Summers Discomusik, aber er hat kein Glück bei den Frauen und kann nicht einmal tanzen. Er fühlt sich für die Verbrechen aller Sklavenhalter schuldig, aber seine Promotion über generationsübergreifende Traumata in der afroamerikanischen Musik bleibt Fragment, und seine Beziehungen mit schwarzen Frauen und lesbischen Borderlinerinnen scheitern regelmäßig an seiner exzessiven Hingabe (und einem Popdiskursgeschwafel, das auch dem Leser manchmal zu viel wird). Selbst Michaels Albträume sind postkolonial und politisch korrekt: "Elend will Elend" sagt eine anonyme Alkoholikerin achselzuckend über seine obsessive Selbstversklavung.
Schwarze Musik ist für Michael "rückwärtsgewandter Schmerz", und dank diesem "Wunder einer Analogie" (Proust) fühlt er sich als Teil einer größeren Geschichte. "Die Menschen wollen nicht so geliebt werden, wie ich sie liebe", aber er will auch nicht der werden, den sie gerne hätten. Michael schluckt Clonazepam, Fluvoxamin und Nefazodon, um seine Familie und seine Therapeuten zu beruhigen, aber das Störfeuer in seinem Kopf hört nicht auf. Seine Mutter und seine Geschwister kümmern sich liebevoll um ihn, aber seine Selbstzerstörung ist weder auf- noch auszuhalten.
"Stellt euch vor, ich bin fort", für den Pulitzerpreis und den National Book Award nominiert, wurde schon mit Jonathan Franzens "Korrekturen" und Hanya Yanagiharas "Leben" verglichen. Aber Franzen und Yanagihara erzählen von außen, in psychologisch-realistischer Manier von den Spätfolgen frühkindlicher Traumata und kollektiver Erbsünden, während Adam Haslett in seinem Familienliebesroman ganz von innen her schreibt und auch andere Erzählformen - Briefe, therapeutische Protokolle, lyrische Einschübe - benutzt. Depressionen sind für Hasletts neuenglische Mittelstandsfamilie keine bloße Störung des Zusammenlebens, sondern Existenzgrund und Erkenntnisinstrument, ein Höllenfeuer, in dem weiche Gefühle gehärtet und zerfallende Familien zusammengeschmiedet werden.
Wie der achtundvierzigjährige New Yorker Autor die subtile Psychodynamik einer traumatisierten Familie über fast fünfzig Jahre hinweg in all ihren Farbnuancen und historischen Facetten nachzeichnet, ohne dabei ihre Komik zu vernachlässigen oder die Leser runterzuziehen - das ist große Erzählkunst. Es geht um Depression als Erb- und Familienkrankheit. Aber der Roman deprimiert nicht. Er bewegt und rührt und ermutigt vielmehr dazu, das Ungeheuer mit Liebe und Verständnis zu bändigen. Der Vater und sein Kind fallen in den Brunnen des Todes, aber man kann daraus immer noch das klare Wasser von Trost und Sinn schöpfen.
MARTIN HALTER
Adam Haslett: "Stellt euch vor, ich bin fort". Roman.
Aus dem Englischen von Dirk van Gunsteren. Rowohlt Verlag, Hamburg 2018. 462 S., geb., 22,95 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Elend zieht es immer zum Elend: Adam Hasletts bewegender Familienliebesroman "Stellt euch vor, ich bin fort".
Depression ist ein schlummerndes Ungeheuer, das die Seele von innen her auffrisst. Um den "Lebensdieb" in Schach zu halten, hat John immer nach Sinn gesucht. Nicht nach dem großen, transzendenten "Sinn per se", sondern nach den kleinen Sinnpartikeln, die beim Überleben helfen. "Doch das reicht nicht, wenn das Ungeheuer seinen Rüssel in deinen Hinterkopf gebohrt hat und das Licht, das durch deine Augen fällt, fortsaugt ins Nichts. Und darum sehne ich mich wie ein Krüppel nach etwas, was für die anderen so selbstverständlich ist, dass sie es gar nicht bemerken: nach einem ganz alltäglichen Sinn. Stattdessen habe ich Worte. Das Ungeheuer raubt mir die Worte nicht. Es raubt mir vielleicht das Sprechen, aber nicht die Worte im Kopf, denn die sind seine Helfer. Eine Armee aus winzigen, unsichtbaren Toten, die ihre winzigen, flirrenden Sicheln schwingen und auf das Fleisch des Geistes einhacken." Sie zermürben John mit ihrem tödlichen Gestichel, mit gebetsmühlenartig wiederholten Selbstvorwürfen, Zweifeln, Ängsten, bis er eines Tages geht, obwohl es ihm das Herz zerreißt.
"Stellt euch vor, ich bin fort" (im Original lakonischer: "Imagine me gone") war eines der Spiele, die John mit seinen Kindern spielte, eine Art Überlebenstraining, etwa wenn er sich beim Bootsausflug plötzlich tot stellte. Jetzt ist er wirklich fort, für immer, und seine Frau und die drei Kinder müssen ohne ihren Kapitän durch schwere See navigieren. Adam Haslett war vierzehn, als sein depressiver Vater sich das Leben nahm. In seinem zweiten, sehr persönlichen Roman erzählt er jetzt, wie eine Familie am Suizid des Vaters fast zerbricht und dann doch die Reihen umso fester schließt. Das Trauma lässt sich weder verdrängen noch wegtherapieren. Der tote Vater lebt in allem und allen weiter, in ihren Gedanken, Partnern, Kindern, in ihrem Gefühl, bei lebendigem Leibe tot zu sein, und in ihrem Lebenshunger, in ihren Schuldkomplexen, ihrer panischen Angst, verlassen zu werden, im lähmenden Bewusstsein des Ungenügens. Depression kann eine genetische Disposition sein, aber sie kann auch gelindert oder sogar geheilt werden durch Verständnis und Liebe: "Wir sind keine Individuen. Die Lebenden suchen uns ebenso heim wie die Toten."
Margaret hat ihren Mann nicht immer verstanden, aber bis zuletzt geliebt. John war Engländer, eine Figur wie von Henry James: sensibel, leise, ein wenig kühl und unbeholfen; so konnte er das Ungeheuer in sich lange hinter Melancholie, Einsamkeit und höflichen Konventionen verbergen. Margaret wusste, auf was sie sich einließ, aber erst seit John nicht mehr da ist, weiß sie, was ihr fehlt. Das Leben muss weitergehen, schon um der Kinder willen, und so hält die Bibliothekarin die Rest-Familie zusammen mit gluckenhafter Mutterliebe, amerikanischem Optimismus und einer Portion weltfremder Betulichkeit. Alle glücklichen Familien sind einander ähnlich, jede unglückliche Familie ist unglücklich auf ihre Weise. Haslett erzählt die Geschichte der Hinterbliebenen aus vier verschiedenen Perspektiven, mal ganz nah, mal aus der Vogelperspektive. Jedes Familienmitglied hat eine eigene Stimme, ein anderes Schicksal, alle sind durch gemeinsame Erinnerungen aneinander gebunden auf Gedeih und Verderb.
Celia war immer die Vernünftige in der Familie, und selbst Mutters Sorgen- und Lieblingskind Alec kommt erstaunlich heil aus dem Schlamassel heraus. Schwul (wie Haslett), exhibitionistisch, psychisch labil, prekär beschäftigt als Journalist, scheint er am Tod des Vaters zu zerbrechen, aber dann begegnet er Seth und wird, zu seiner eigenen Verblüffung, von ihm getragen und gehalten. Michael, der älteste Sohn, hat das schlechteste Los gezogen. Schon als Kind hochbegabt und schwer gestört, vergrub er sich an der Universität immer tiefer in einer manisch-depressiven Parallelwelt. Mit verzweifelter Komik, grotesken Phantasien und Gedankengut von Frantz Fanon bis Lacan verkämpft er sich für unterdrückte Minderheiten in aller Welt, um seine Schuld und die der weißen Heteromänner überhaupt zu sühnen. Michael weiß alles über Dubsteb, Acid House und Donna Summers Discomusik, aber er hat kein Glück bei den Frauen und kann nicht einmal tanzen. Er fühlt sich für die Verbrechen aller Sklavenhalter schuldig, aber seine Promotion über generationsübergreifende Traumata in der afroamerikanischen Musik bleibt Fragment, und seine Beziehungen mit schwarzen Frauen und lesbischen Borderlinerinnen scheitern regelmäßig an seiner exzessiven Hingabe (und einem Popdiskursgeschwafel, das auch dem Leser manchmal zu viel wird). Selbst Michaels Albträume sind postkolonial und politisch korrekt: "Elend will Elend" sagt eine anonyme Alkoholikerin achselzuckend über seine obsessive Selbstversklavung.
Schwarze Musik ist für Michael "rückwärtsgewandter Schmerz", und dank diesem "Wunder einer Analogie" (Proust) fühlt er sich als Teil einer größeren Geschichte. "Die Menschen wollen nicht so geliebt werden, wie ich sie liebe", aber er will auch nicht der werden, den sie gerne hätten. Michael schluckt Clonazepam, Fluvoxamin und Nefazodon, um seine Familie und seine Therapeuten zu beruhigen, aber das Störfeuer in seinem Kopf hört nicht auf. Seine Mutter und seine Geschwister kümmern sich liebevoll um ihn, aber seine Selbstzerstörung ist weder auf- noch auszuhalten.
"Stellt euch vor, ich bin fort", für den Pulitzerpreis und den National Book Award nominiert, wurde schon mit Jonathan Franzens "Korrekturen" und Hanya Yanagiharas "Leben" verglichen. Aber Franzen und Yanagihara erzählen von außen, in psychologisch-realistischer Manier von den Spätfolgen frühkindlicher Traumata und kollektiver Erbsünden, während Adam Haslett in seinem Familienliebesroman ganz von innen her schreibt und auch andere Erzählformen - Briefe, therapeutische Protokolle, lyrische Einschübe - benutzt. Depressionen sind für Hasletts neuenglische Mittelstandsfamilie keine bloße Störung des Zusammenlebens, sondern Existenzgrund und Erkenntnisinstrument, ein Höllenfeuer, in dem weiche Gefühle gehärtet und zerfallende Familien zusammengeschmiedet werden.
Wie der achtundvierzigjährige New Yorker Autor die subtile Psychodynamik einer traumatisierten Familie über fast fünfzig Jahre hinweg in all ihren Farbnuancen und historischen Facetten nachzeichnet, ohne dabei ihre Komik zu vernachlässigen oder die Leser runterzuziehen - das ist große Erzählkunst. Es geht um Depression als Erb- und Familienkrankheit. Aber der Roman deprimiert nicht. Er bewegt und rührt und ermutigt vielmehr dazu, das Ungeheuer mit Liebe und Verständnis zu bändigen. Der Vater und sein Kind fallen in den Brunnen des Todes, aber man kann daraus immer noch das klare Wasser von Trost und Sinn schöpfen.
MARTIN HALTER
Adam Haslett: "Stellt euch vor, ich bin fort". Roman.
Aus dem Englischen von Dirk van Gunsteren. Rowohlt Verlag, Hamburg 2018. 462 S., geb., 22,95 [Euro].
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Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
Obwohl Rezensent Christoph Schröder durchaus wohlwollende Worte für den zweiten Roman Adam Hasletts übrig hat und zwar nicht zu knapp, macht seine Rezension keine große Lust auf die Lektüre. Da ist dieses eine Wort, das jedes Lob übertönt, all das erzählerische Geschick, die Authentizität, das interessante Konzept - "langweilig". Aus wechselnden Perspektiven erzählt Haslett in "Stellt euch vor, ich bin fort" von einer Familie, die zerrüttet wird durch Depressionen, eine Familie die sich abmüht, die Verbindungen unter ihren Mitgliedern aufrecht zu erhalten, obwohl es gerade diese Verbindungen sind, die sie vergiften, lesen wir. Der Aufbau der Geschichte ist klug und plausibel, auch entwickelt der Roman an einigen Stellen eine erstaunliche Sogkraft, insbesondere dann, wenn aus der Sicht der Großmutter erzählt wird, sol Schröder. Wenn es jedoch um die Lebenswege der Enkelkinder geht, driftet Haslett in Klischees und langatmige Beschreibungen ab, was leider wenig Freude bereitet, schließt der abwägende Rezensent.
© Perlentaucher Medien GmbH
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