Autor und Abenteurer, Diplomat und Salonlöwe, Soldat, Liebhaber der Frauen und Liebhaber der Künste: Stendhals Lebensgeschichte ist nicht minder abenteuerlich als seine Romane. Während seiner mondänen Jahre in Frankreich und Italien war der große Romancier der Weltliteratur mehr als Frauenheld denn als Schriftsteller bekannt. Johannes Willms erzählt in seiner Biografie das Schriftstellerleben eines literarischen Außenseiters, für den das Schreiben nur eine und nicht immer die wichtigste Beschäftigung war.
Hinweis: Dieser Artikel kann nur an eine deutsche Lieferadresse ausgeliefert werden.
Hinweis: Dieser Artikel kann nur an eine deutsche Lieferadresse ausgeliefert werden.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 02.05.2010Kein Tier wie wir
Kleiner Mensch, großer Autor: Johannes Willms' Biographie über den Schriftsteller Stendhal
Zwei Jahre vor seinem Tod legt der Autor eine Wunschliste an. "Gott schließt den folgenden Vertrag mit mir: Artikel 1. Kein größerer Schmerz bis ins sehr hohe Alter; dann . . . Tod durch Schlaganfall, im Bett, im Schlaf, ohne seelisches und körperliches Leiden. Jedes Jahr nicht mehr als drei Tage Krankheit." Sein Penis soll "so hart und beweglich wie der Zeigefinger", aber "zwei Zoll länger" und "ad libitum" einsetzbar sein. Der Rest ist Magie: "Der Privilegierte, indem er einen Ring trägt und ihn reibt, wenn er eine Frau erblickt, wird diese dazu bringen, sich leidenschaftlich in ihn zu verlieben . . . Ist der Ring mit Speichel befeuchtet, wird die Angeblickte nur eine liebe und ergebene Freundin werden." Außerdem will "der Privilegierte" hundert Tage im Jahr eine Fremdsprache seiner Wahl sprechen, zwanzigmal die Form eines beliebigen Lebewesens annehmen, Hass mit seinem Zauberring in Sympathie verwandeln können . . . Es folgen noch zwanzig weitere detaillierte Klauseln.
Nichts von alledem hat sich erfüllt - bis auf den Schlaganfall: Am 22. März 1842 streckt er den Verfasser der Liste auf offener Straße nieder, fünf Stunden später stirbt Henri Beyle, genannt Stendhal, in einem Pariser Hotelbett, neunundfünfzig Jahre alt. Aber die Wünsche sind dennoch wahr geworden, nicht in dieser, sondern in einer anderen, aus Buchstaben gewobenen Welt, in der Literatur. Aus dem Mann mit dem Zauberring ist Fabrizio del Dongo geworden, der Held der "Kartause von Parma", dem die Frauen hinterherlaufen, als wäre er die Verkörperung des Eros, und das Sprachwunder hat sich in Julien Sorel materialisiert, dem jungen Provinzler aus "Rot und Schwarz", der aus seinem Dorf im Jura bis in die höchsten Kreise von Paris aufsteigt, weil er es versteht, die Schönen und Mächtigen mit seinem Talent zu bestricken.
Werther, neuester Stand
Es ist, als hätte Stendhal den ganzen Furor seines jungenhaften Herzens, seiner romantischen Verblendungen und sexuellen Allmachtsphantasien in diese - und andere, unveröffentlichte - Romane gesteckt, die er wie in einem Rausch (für die "Kartause" brauchte er nur fünfzig Tage) niederschrieb oder diktierte. Und in denen er, und das ist das Wunder des Stendhalschen Realismus, eben diese Knabenträume von Ruhm, Reichtum und der Gunst der Frauen zugleich nach allen Regeln der Kunst ad absurdum und zum Abgrund führte. Fabrizio del Dongo, der sich schon auf dem Schlachtfeld von Waterloo unsterblich blamiert hat, zieht sich nach dem Scheitern seiner weltlichen Ambitionen ins Kloster zurück. Julien Sorel, der seine frühere Geliebte erschießen wollte, weil sie seinen Karriereplänen im Weg stand, stirbt unter dem Schwert des Henkers. Goethe, der noch als Greis die Erstausgabe von "Rot und Schwarz" in den Händen hielt, hat sofort erkannt, dass hier der "Werther" auf den neuesten Stand gebracht worden war. "Sei ein Mann und folge mir nicht nach." Aber natürlich war auch der Erfinder von Julien und Fabrizio ein Mann, ein Individuum, dessen Existenz nicht in der seiner literarischen Figuren aufgeht. Von dieser Existenz erzählt Johannes Willms' Biographie.
Es ist die Geschichte eines Jungen aus einer Grenobler Anwaltsfamilie, der mit sechs Jahren seine über alles geliebte Mutter verliert. Anschließend kommt der kleine Henri unter die Knute ihrer vertrockneten Schwester und seines bigotten Vaters, die sich bemühen, aus dem Jungen ein hinreichend banales Exemplar der bürgerlichen Gesellschaft zu machen. Das misslingt, aber die Wunden, die die Kindheit in der Künstlerseele hinterlässt, sind tief. Bis zu seinem Tod hat Stendhal ein Junggesellenleben in gemieteten Zimmern und Hotelbetten geführt. Und beinahe ebenso lange hat er sich an Abbildern seiner vergötterten Mutter abgearbeitet, an zickigen, launischen, gefühlskalten, glücklich verheirateten oder sonst wie desinteressierten Damen, denen er hinterherreiste, zu Füßen fiel, feurige Billetts schrieb, Rosensträuße und Logenplätze schenkte, während er jene, die ihn wirklich liebten, am ausgestreckten Arm verhungern ließ.
"Die Mama und die Hure" - der Titel von Jean Eustaches Film von 1973 wäre ein gutes Motto für die Lebensbilanz des Mannes aus Grenoble gewesen. Denn mit jenen weiblichen Wesen, die er nicht auf Knien anbetete, sprang der Ästhet Stendhal wie ein Bierkutscher um. Um sich an eine entfernte Cousine heranmachen zu können, "fickte" er, wie sein Tagebuch nüchtern vermerkt, ihre Mutter, auf Reisen ließ er sich gern von Zimmermädchen die Flöte blasen, und in Marseille, wohin er 1805 mit seiner Freundin Mélanie Guilbert für einige Monate gezogen war, um eine Bank zu gründen (das Projekt scheiterte), trieb er es im Schein von Straßenfunzeln mit Zufallsbekanntschaften, voller "Scham und Ekel" über sich selbst und doch ohne Ausweg aus dem erotischen Dilemma.
Man fühlt sich an Flaubert und Maupassant erinnert, die ebenfalls von Anfällen wüster Libido geplagt wurden und auch nie (oder zu spät) die Einfahrt in den Hafen der Ehe fanden. Nur dass bei Stendhal das Hakenschlagen zwischen Sexus und Romantik keine Notlösung ist, sondern Methode. Schon als er 1799 als Schüler der Ecole Polytechnique zum ersten Mal nach Paris kommt, träumt er von einer Laufbahn als "Frauenverführer". Als daraus nichts wird, schließt er sich den siegreichen Fahnen Napoleons an, die bald über ganz Europa flattern; für den Zivilisten Henri, der die Schlachtfelder am liebsten vom Kutschenfenster aus betrachtet, fällt bei den vielen Eroberungen immer wieder ein Pöstchen ab. Aber auch der Ruhm und die Dienste der Kammerjungfern wurden langweilig, wenn die "douceur d'aimer" fehlte, die Süße der romantischen Liebe. In Mailand verliebt sich Stendhal in die Mätresse eines Regimentskameraden, in Braunschweig in ein deutsches Edelfräulein, nur im brennenden Moskau, das er noch vor der Grande Armée im Oktober 1812 verlässt, bleibt sein Gefühlsofen kalt. Als Napoleon schließlich stürzt, nutzt der Kriegskommissar Beyle die Gelegenheit, in das Land seiner Sehnsucht zu emigrieren, an den Schauplatz seiner künftigen Bücher und Affären, zu der einzigen Geliebten, der er bis zum Schluss die Treue gehalten hat: Italien.
Korrupt und romantisch
Johannes Willms betrachtet dieses Triebschicksal mit einer Mischung aus Faszination und Widerwillen. Dass sein Held kein Schönling ist, deutet er frühzeitig an; dennoch spürt man bis in die letzten Kapitel das Befremden des Biographen darüber, dass dieser Mensch, den sie "den wandelnden Turm" nannten, dieser Trumm mit seinem "gewaltigen Ranzen", den kurzen Beinen und der toupetbedeckten Glatze sein Leben der romantischen Liebe gewidmet hat. Manchmal ist Willms auch regelrecht empört, etwa wenn er schildern muss, wie der schlimme Henri eine seiner Angebeteten, die ihn verschmäht, öffentlich schlechtmacht - "kein schöner Zug unseres Helden" - oder nach Monaten der Impotenz in einem englischen Vorortpuff mit minderjährigen Hürchen zur alten Form zurückfindet.
Nein, der Mann, der der Welt die "Kartause", den Sorel-Roman und das Aphorismenbuch "Über die Liebe" geschenkt hat, ist kein Heiliger und kein Adonis, er ist fett, korrupt und beizeiten ordinär. An diesem Widerspruch verschluckt sich Johannes Willms' Biographie, weil sie ihn nicht zum Thema macht. Im Grunde vermag sich Willms selbst nicht zu erklären, wie ein derartiges selbstsüchtiges Scheusal - "Ich bin das einzige Tier meiner Rasse", schreibt Stendhal als französischer Konsul in Civitavecchia - all diese herrlichen Bücher schreiben konnte; und so behilft er sich, wenn die Rede aufs Schreiben kommt, mit pompösem Wortgeklingel: "das schöpferische Mirakel schlechthin" sei die Entstehung der "Kartause von Parma", das Resultat "eines einmalig langen und intensiven Kusses der Muse". Mit solchen Sätzen kapituliert der Biograph vor seinem Gegenstand, statt ihn durch Scharfsinn zu bezwingen. Denn anders als bei seinem vor drei Jahren erschienenen Balzac-Buch kann sich Willms diesmal nicht darauf berufen, dass schon der Porträtierte selbst Leben und Werk mit je verschiedenem Maß gemessen habe.
Stendhal hat seine Literatur gelebt, er war Julien, Fabrizio und Lucien Leuwen, und der Zauber einer Figur wie der Herzogin Sanseverina rührt in nicht geringem Maß eben daher, dass ihr Schöpfer die Liebesschliche, mit denen er sie ausstattet, selbst in zahllosen Amouren erlebt und erlitten hat. Und so fehlen diesem angenehm kompakten und bis auf gelegentliche Syntaxkleckse fehlerlosen Porträt gerade jene fünfzig Seiten, die es über die bloße Nachzeichnung von Lebensstationen hinausheben würden. Der Künstler selbst ist daran nicht ganz unschuldig: Ein Biograph stand nicht auf seiner Wunschliste.
ANDREAS KILB
Johannes Willms: "Stendhal". Hanser-Verlag, München 2010, 336 Seiten, 24,90 Euro
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Kleiner Mensch, großer Autor: Johannes Willms' Biographie über den Schriftsteller Stendhal
Zwei Jahre vor seinem Tod legt der Autor eine Wunschliste an. "Gott schließt den folgenden Vertrag mit mir: Artikel 1. Kein größerer Schmerz bis ins sehr hohe Alter; dann . . . Tod durch Schlaganfall, im Bett, im Schlaf, ohne seelisches und körperliches Leiden. Jedes Jahr nicht mehr als drei Tage Krankheit." Sein Penis soll "so hart und beweglich wie der Zeigefinger", aber "zwei Zoll länger" und "ad libitum" einsetzbar sein. Der Rest ist Magie: "Der Privilegierte, indem er einen Ring trägt und ihn reibt, wenn er eine Frau erblickt, wird diese dazu bringen, sich leidenschaftlich in ihn zu verlieben . . . Ist der Ring mit Speichel befeuchtet, wird die Angeblickte nur eine liebe und ergebene Freundin werden." Außerdem will "der Privilegierte" hundert Tage im Jahr eine Fremdsprache seiner Wahl sprechen, zwanzigmal die Form eines beliebigen Lebewesens annehmen, Hass mit seinem Zauberring in Sympathie verwandeln können . . . Es folgen noch zwanzig weitere detaillierte Klauseln.
Nichts von alledem hat sich erfüllt - bis auf den Schlaganfall: Am 22. März 1842 streckt er den Verfasser der Liste auf offener Straße nieder, fünf Stunden später stirbt Henri Beyle, genannt Stendhal, in einem Pariser Hotelbett, neunundfünfzig Jahre alt. Aber die Wünsche sind dennoch wahr geworden, nicht in dieser, sondern in einer anderen, aus Buchstaben gewobenen Welt, in der Literatur. Aus dem Mann mit dem Zauberring ist Fabrizio del Dongo geworden, der Held der "Kartause von Parma", dem die Frauen hinterherlaufen, als wäre er die Verkörperung des Eros, und das Sprachwunder hat sich in Julien Sorel materialisiert, dem jungen Provinzler aus "Rot und Schwarz", der aus seinem Dorf im Jura bis in die höchsten Kreise von Paris aufsteigt, weil er es versteht, die Schönen und Mächtigen mit seinem Talent zu bestricken.
Werther, neuester Stand
Es ist, als hätte Stendhal den ganzen Furor seines jungenhaften Herzens, seiner romantischen Verblendungen und sexuellen Allmachtsphantasien in diese - und andere, unveröffentlichte - Romane gesteckt, die er wie in einem Rausch (für die "Kartause" brauchte er nur fünfzig Tage) niederschrieb oder diktierte. Und in denen er, und das ist das Wunder des Stendhalschen Realismus, eben diese Knabenträume von Ruhm, Reichtum und der Gunst der Frauen zugleich nach allen Regeln der Kunst ad absurdum und zum Abgrund führte. Fabrizio del Dongo, der sich schon auf dem Schlachtfeld von Waterloo unsterblich blamiert hat, zieht sich nach dem Scheitern seiner weltlichen Ambitionen ins Kloster zurück. Julien Sorel, der seine frühere Geliebte erschießen wollte, weil sie seinen Karriereplänen im Weg stand, stirbt unter dem Schwert des Henkers. Goethe, der noch als Greis die Erstausgabe von "Rot und Schwarz" in den Händen hielt, hat sofort erkannt, dass hier der "Werther" auf den neuesten Stand gebracht worden war. "Sei ein Mann und folge mir nicht nach." Aber natürlich war auch der Erfinder von Julien und Fabrizio ein Mann, ein Individuum, dessen Existenz nicht in der seiner literarischen Figuren aufgeht. Von dieser Existenz erzählt Johannes Willms' Biographie.
Es ist die Geschichte eines Jungen aus einer Grenobler Anwaltsfamilie, der mit sechs Jahren seine über alles geliebte Mutter verliert. Anschließend kommt der kleine Henri unter die Knute ihrer vertrockneten Schwester und seines bigotten Vaters, die sich bemühen, aus dem Jungen ein hinreichend banales Exemplar der bürgerlichen Gesellschaft zu machen. Das misslingt, aber die Wunden, die die Kindheit in der Künstlerseele hinterlässt, sind tief. Bis zu seinem Tod hat Stendhal ein Junggesellenleben in gemieteten Zimmern und Hotelbetten geführt. Und beinahe ebenso lange hat er sich an Abbildern seiner vergötterten Mutter abgearbeitet, an zickigen, launischen, gefühlskalten, glücklich verheirateten oder sonst wie desinteressierten Damen, denen er hinterherreiste, zu Füßen fiel, feurige Billetts schrieb, Rosensträuße und Logenplätze schenkte, während er jene, die ihn wirklich liebten, am ausgestreckten Arm verhungern ließ.
"Die Mama und die Hure" - der Titel von Jean Eustaches Film von 1973 wäre ein gutes Motto für die Lebensbilanz des Mannes aus Grenoble gewesen. Denn mit jenen weiblichen Wesen, die er nicht auf Knien anbetete, sprang der Ästhet Stendhal wie ein Bierkutscher um. Um sich an eine entfernte Cousine heranmachen zu können, "fickte" er, wie sein Tagebuch nüchtern vermerkt, ihre Mutter, auf Reisen ließ er sich gern von Zimmermädchen die Flöte blasen, und in Marseille, wohin er 1805 mit seiner Freundin Mélanie Guilbert für einige Monate gezogen war, um eine Bank zu gründen (das Projekt scheiterte), trieb er es im Schein von Straßenfunzeln mit Zufallsbekanntschaften, voller "Scham und Ekel" über sich selbst und doch ohne Ausweg aus dem erotischen Dilemma.
Man fühlt sich an Flaubert und Maupassant erinnert, die ebenfalls von Anfällen wüster Libido geplagt wurden und auch nie (oder zu spät) die Einfahrt in den Hafen der Ehe fanden. Nur dass bei Stendhal das Hakenschlagen zwischen Sexus und Romantik keine Notlösung ist, sondern Methode. Schon als er 1799 als Schüler der Ecole Polytechnique zum ersten Mal nach Paris kommt, träumt er von einer Laufbahn als "Frauenverführer". Als daraus nichts wird, schließt er sich den siegreichen Fahnen Napoleons an, die bald über ganz Europa flattern; für den Zivilisten Henri, der die Schlachtfelder am liebsten vom Kutschenfenster aus betrachtet, fällt bei den vielen Eroberungen immer wieder ein Pöstchen ab. Aber auch der Ruhm und die Dienste der Kammerjungfern wurden langweilig, wenn die "douceur d'aimer" fehlte, die Süße der romantischen Liebe. In Mailand verliebt sich Stendhal in die Mätresse eines Regimentskameraden, in Braunschweig in ein deutsches Edelfräulein, nur im brennenden Moskau, das er noch vor der Grande Armée im Oktober 1812 verlässt, bleibt sein Gefühlsofen kalt. Als Napoleon schließlich stürzt, nutzt der Kriegskommissar Beyle die Gelegenheit, in das Land seiner Sehnsucht zu emigrieren, an den Schauplatz seiner künftigen Bücher und Affären, zu der einzigen Geliebten, der er bis zum Schluss die Treue gehalten hat: Italien.
Korrupt und romantisch
Johannes Willms betrachtet dieses Triebschicksal mit einer Mischung aus Faszination und Widerwillen. Dass sein Held kein Schönling ist, deutet er frühzeitig an; dennoch spürt man bis in die letzten Kapitel das Befremden des Biographen darüber, dass dieser Mensch, den sie "den wandelnden Turm" nannten, dieser Trumm mit seinem "gewaltigen Ranzen", den kurzen Beinen und der toupetbedeckten Glatze sein Leben der romantischen Liebe gewidmet hat. Manchmal ist Willms auch regelrecht empört, etwa wenn er schildern muss, wie der schlimme Henri eine seiner Angebeteten, die ihn verschmäht, öffentlich schlechtmacht - "kein schöner Zug unseres Helden" - oder nach Monaten der Impotenz in einem englischen Vorortpuff mit minderjährigen Hürchen zur alten Form zurückfindet.
Nein, der Mann, der der Welt die "Kartause", den Sorel-Roman und das Aphorismenbuch "Über die Liebe" geschenkt hat, ist kein Heiliger und kein Adonis, er ist fett, korrupt und beizeiten ordinär. An diesem Widerspruch verschluckt sich Johannes Willms' Biographie, weil sie ihn nicht zum Thema macht. Im Grunde vermag sich Willms selbst nicht zu erklären, wie ein derartiges selbstsüchtiges Scheusal - "Ich bin das einzige Tier meiner Rasse", schreibt Stendhal als französischer Konsul in Civitavecchia - all diese herrlichen Bücher schreiben konnte; und so behilft er sich, wenn die Rede aufs Schreiben kommt, mit pompösem Wortgeklingel: "das schöpferische Mirakel schlechthin" sei die Entstehung der "Kartause von Parma", das Resultat "eines einmalig langen und intensiven Kusses der Muse". Mit solchen Sätzen kapituliert der Biograph vor seinem Gegenstand, statt ihn durch Scharfsinn zu bezwingen. Denn anders als bei seinem vor drei Jahren erschienenen Balzac-Buch kann sich Willms diesmal nicht darauf berufen, dass schon der Porträtierte selbst Leben und Werk mit je verschiedenem Maß gemessen habe.
Stendhal hat seine Literatur gelebt, er war Julien, Fabrizio und Lucien Leuwen, und der Zauber einer Figur wie der Herzogin Sanseverina rührt in nicht geringem Maß eben daher, dass ihr Schöpfer die Liebesschliche, mit denen er sie ausstattet, selbst in zahllosen Amouren erlebt und erlitten hat. Und so fehlen diesem angenehm kompakten und bis auf gelegentliche Syntaxkleckse fehlerlosen Porträt gerade jene fünfzig Seiten, die es über die bloße Nachzeichnung von Lebensstationen hinausheben würden. Der Künstler selbst ist daran nicht ganz unschuldig: Ein Biograph stand nicht auf seiner Wunschliste.
ANDREAS KILB
Johannes Willms: "Stendhal". Hanser-Verlag, München 2010, 336 Seiten, 24,90 Euro
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Perlentaucher-Notiz zur ZEIT-Rezension
Jens Jessen wirkt auf der einen Seite enttäuscht von dieser Biografie Stendhals von Johannes Willms, lobt sie aber auf der anderen nachdrücklich. Was er in diesem Buch, vermisst ist ein tiefergehendes Interesse für das Werk des Schriftstellers, die inneren Kämpfe dagegen, die dieses Werk begründen, sieht er "meisterhaft" dargelegt. Denn Willms schildert anschaulich "Pleiten, Pech und Pannen", die sowohl Stendhals Karriere als auch sein Liebesleben ausmachen, lobt der Rezensent, wobei er Willms These, Stendhal habe sich immer in für ihn unerreichbare Frauen verliebt, weil er sein Unglück als produktive Kraft schätzte, sehr überzeugend findet. Wenn der Autor allerdings Stendhal auf Grundlage seiner Tagebucheinträge, aus denen diese Biografie reichlich schöpft, versucht, "der Lächerlichkeit und der Aufschneiderei zu überführen", findet Jessen das ganz verfehlt. Schonungslosigkeit und Selbstentlarvung praktiziert Stendhal darin nämlich selbst zur genüge, so der Rezensent, der darum die Lektüre der Tagebücher letztlich auch der Lektüre der vorliegenden Biografie den Vorzug gibt.
© Perlentaucher Medien GmbH
© Perlentaucher Medien GmbH