Im Horror verbindet sich, was als offenkundig unliterarisch gilt, mit einer ungeheuren fesselnden Kraft. Diese Symbiose machte Stephen King zum erfolgreichsten Autor der Welt. Ein Erfolg, der bezeugt, daß Stephen King seinen Lesern etwas gibt, was sie sonst nicht finden, weder im Fernsehen noch im gerühmten guten Buch. Etwas, das ihnen vielleicht früher die Theologie gegeben hatte.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 25.08.1998Der kosmische Kannibale
Exegese: Burkhard Müller über die Horrorevangelien Stephen Kings
Wenn eine Handke-Leserin, ein Jelinek-Leser, die von Stephen King gemeinhin nur wissen, daß er "der erfolgreichste Autor der Welt" ist, mehr wissen wollen und in einer seriösen Buchhandlung nach King-Romanen fragen, kann es geschehen, daß die Buchhändlerin ein solches Ansinnen indigniert zurückweist. "Führen wir nicht. Versuchen Sie's mal am Bahnhof!"
Falls nun der Handke-, der Jelinek-Fan in die Bahnhofsbuchhandlung gehen, wo sie sich natürlich verunsichert fühlen (es gibt ja diese Schwellenangst vor dem Trivialen) und mit roten Ohren ihr Begehren äußern, werden sie sogleich vom ersten Kingschen Schrecken heimgesucht: Sie stehen vor einem ganzen Regal mit King-Romanen, und einige sind über tausend Seiten dick.
Der King-Leser braucht viel Zeit, denn King nimmt sich viel Zeit, um seine Wunder einzufädeln: das Unglaubliche und Unheimliche im Alltag erblühen zu lassen. Aber er erklärt es nicht physikalisch, oder nur obenhin. King interessiert sich vor allem für die psychologische Begründung des Außergewöhnlichen: Wie verhält sich der Schrecken zur normalen Erfahrung der Betroffenen? Burkhard Müller bringt Kings Einfälle auf den Begriff: "Der Horror trägt immer den Zug einer unerwarteten Nähe dessen, was dennoch das ganz Andere bleibt . . ." Schlichter gesagt: Das Ungeheure erscheint in vertrauter Gestalt, aber am falschen Ort: "Aus dem Abflußrohr des Waschbeckens ragte ein Finger." Handelt es sich dabei nur um eine Projektion, oder verweist die Erscheinung auf ein Wesen, eine transzendente Macht? Müller mustert Kings Horrorromane und kommt zu einem "verwirrenden Befund", den er dennoch mit fester Stimme vorträgt: Das Fundament dieser Romane sei "die Idee des schlechthin Bösen". Nachdem Psychologie, Soziologie und jüngere Theologie "das Böse als selbständige Kategorie aus der Welt eskamotiert und zu einem bloßen Phänomen seelischer oder bestenfalls sozialer Fehlfunktion gemacht" hätten, verleihe King ihm wieder seine "ethische Autorität" und "metaphysische Würde".
Das ist nun seinerseits ein verblüffender Befund. Denn es liegt doch auf der Hand, daß eine Art Volksmetaphysik sich schon seit langem in den trivialen Bereichen unserer Kultur eingenistet hat, als arme Base der an den hohen Schulen betriebenen Metaphysik; den Kleine-Leute-Geruch, den Mief der Konventikel wurde die Base niemals los. Wieso kommt sie nun plötzlich zu Autorität und Würde?
Müller sagt es uns nicht. In den entspannteren Passagen seines Buches räumt er jedoch ein, daß Kings Monster, wenn sie endlich ihr Gesicht zeigen, immer ein bißchen so aussehen, "als wäre ihnen die Latex-Maske verrutscht". Also: warum braucht das Böse, das zum Horrorroman gehört wie die Droge zum Rausch, überhaupt eine Maske? Hierzu erfahren wir von Müller Erhellendes. "Es", das ist der finstere Dämon, der in Müllers Lieblingsroman gleichen Titels sein 1215 Seiten dickes Unwesen treibt. "Es verkleidet sich, heimtückisch ihre Angst von innen ertastend, in die Phantasien der Kinder, die es fressen will, die Phantasien aber nähren sich von den Low-Budget-Horrorfilmen dieser Zeit, der fünfziger Jahre", und sind entsprechend schäbig, was aber dem Schrecken nicht abträglich ist, denn (so erfahren wir fünf Kapitel später): "Der Appetit, den es auf die Menschen hat, ist . . . an die persönliche Beziehung dieses finsteren Gottes zu seinem Opfer gekoppelt: Damit es Ihm recht mundet, muß zuvor die Angst ihr Fleisch süß gemacht haben, und daraus leitet sich die Notwendigkeit der Verkörperung her; der kosmische Kannibale muß sich in die Seelen einfühlen und die Gestalt des für sie größten Horrors annehmen, damit ihr Leib schmackhaft wird . . ."
Deshalb, so schließt Müller in kühner Verallgemeinerung, sei in Kings Horrorromanen nicht allein das Böse wieder existent, sondern das Gute in beunruhigender Weise abwesend: Es tauge nicht als Widerpart des Bösen, denn es komme in der Welt (in Kings, Müllers, unserer Welt?) nur in dem Maße vor, wie das Böse seiner bedürfe, um sich daran zu mästen. Doch damit werden die Eigenschaften, die King - laut Müller - dem Bösen zurückgibt, noch rätselhafter. "Ethische Autorität"? "Metaphysische Würde"? In der abendländisch-christlichen Tradition hat ja allein das Gute (Gott) Substanz, das Böse ist als Mangel definiert, und der Teufel, der es vielgestaltig verkörpert, hat seine Macht über die Menschen von Gott geliehen bekommen und ist am Ende der Geprellte. Dieses aberwitzige Mythologem diente im Grunde nur dazu, den Dualismus abzuwehren: den verketzerten, aber unausrottbaren, im Volksboden wuchernden, von Sekten gepflegten, in der Literatur veredelten Glauben an zwei Prinzipien, die miteinander ringen - Gut und Böse, Licht und Finsternis, Gott und Gegengott. Folgt man Müller, so steht King nicht in dieser manichäischen, sondern in der christlichen Tradition, die er jedoch umstülpt: Es gibt nur einen Gott, das Böse, das sich vom zufällig auftretenden Guten nährt. Wer gut ist, bedient somit das Böse. Das aber bedeutet das Aus für die überkommene Metaphysik, der es oblag, das eine Gute zu begründen und das vielfache Böse zu erklären.
Was bezweckt Müllers Exegese? King selbst beteuert immer wieder, in Vorworten und durch den Mund von Identifikationsfiguren, seinen Glauben an das Gute und an Gott. In "Es" zum Beispiel denkt der Drachentöter Bill am Ende: "Wenn das Leben uns überhaupt etwas lehrt, so lehrt es uns, daß es soviel Happy-Ends gibt, daß ein Mensch, der nicht an die Existenz Gottes glaubt, auf seinen Geisteszustand untersucht werden müßte . . ." Zugegeben, dieser Gott hat seinen Tempel in Hollywood. Aber dann gilt auch, daß der Gott, den Müller in Kings Metaphern und Masken des Bösen erkennt, in einer Riesenspinne oder einer Superechse, einem Clownsgesicht, das sich im Gully zeigt, oder einem Finger, der aus dem Abflußrohr ragt, ein Meister aus Deutschland ist - der Tod.
Auf den Tod will Müller von Anfang an hinaus. Schon bei der ersten Begegnung mit King, auf einer Bahnfahrt in "Es" vertieft, begann er "den Ernst und die Unerschrockenheit zu bewundern, mit der King an das größte aller ungelösten Probleme herangeht, an den Tod, der, sollte er jemals von der Metaphysik gezähmt worden sein, wieder da ist, wilder und furchtbarer denn je".
Müller setzt noch eins drauf: Kings Horrorromane, sagt er, betreiben die Auflehnung gegen den Tod und zugleich gegen seine Heerscharen, die Totengeister, die sich heute so böse zeigen, weil sie "doppelt enterbt" sind, um das christliche Paradies und den heidnischen Totenkult betrogen, und deshalb uns Lebenden alles neiden, insbesondere das Blut. Gegen sie zu kämpfen ist edel und gut. Das ist das Evangelium, das Müller aus dem Kingschen Horror destilliert. Doch damit gerät er in die Argumentationsfalle, die er selbst gestellt hat: Was gut ist, mästet das Böse, opfert dem Tod.
Man sollte Müller zugute halten, daß er von Kings Romanen fasziniert ist und dies dem Leser kundtun möchte. Er zerlegt den Schrecken nicht, er erzählt davon, sinniert darüber und tut dabei so, als wären die Welten, die King entwirft, mit der bestehenden kompatibel. Trotzdem (auch dank der ausführlichen King-Zitate) liest man diese Exegese über das Wunder, das Böse, den Tod mit Vergnügen. Das Vergnügen wäre noch größer, wenn Müller das, was ein trefflicher Essay sein könnte, nicht aufgeblasen hätte zu einem Buch. KARL MARKUS MICHEL
Burkhard Müller: "Stephen King: Das Wunder, das Böse und der Tod". Verlag Klett-Cotta, Stuttgart 1998. 167 S., geb., 29,80 DM.
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Exegese: Burkhard Müller über die Horrorevangelien Stephen Kings
Wenn eine Handke-Leserin, ein Jelinek-Leser, die von Stephen King gemeinhin nur wissen, daß er "der erfolgreichste Autor der Welt" ist, mehr wissen wollen und in einer seriösen Buchhandlung nach King-Romanen fragen, kann es geschehen, daß die Buchhändlerin ein solches Ansinnen indigniert zurückweist. "Führen wir nicht. Versuchen Sie's mal am Bahnhof!"
Falls nun der Handke-, der Jelinek-Fan in die Bahnhofsbuchhandlung gehen, wo sie sich natürlich verunsichert fühlen (es gibt ja diese Schwellenangst vor dem Trivialen) und mit roten Ohren ihr Begehren äußern, werden sie sogleich vom ersten Kingschen Schrecken heimgesucht: Sie stehen vor einem ganzen Regal mit King-Romanen, und einige sind über tausend Seiten dick.
Der King-Leser braucht viel Zeit, denn King nimmt sich viel Zeit, um seine Wunder einzufädeln: das Unglaubliche und Unheimliche im Alltag erblühen zu lassen. Aber er erklärt es nicht physikalisch, oder nur obenhin. King interessiert sich vor allem für die psychologische Begründung des Außergewöhnlichen: Wie verhält sich der Schrecken zur normalen Erfahrung der Betroffenen? Burkhard Müller bringt Kings Einfälle auf den Begriff: "Der Horror trägt immer den Zug einer unerwarteten Nähe dessen, was dennoch das ganz Andere bleibt . . ." Schlichter gesagt: Das Ungeheure erscheint in vertrauter Gestalt, aber am falschen Ort: "Aus dem Abflußrohr des Waschbeckens ragte ein Finger." Handelt es sich dabei nur um eine Projektion, oder verweist die Erscheinung auf ein Wesen, eine transzendente Macht? Müller mustert Kings Horrorromane und kommt zu einem "verwirrenden Befund", den er dennoch mit fester Stimme vorträgt: Das Fundament dieser Romane sei "die Idee des schlechthin Bösen". Nachdem Psychologie, Soziologie und jüngere Theologie "das Böse als selbständige Kategorie aus der Welt eskamotiert und zu einem bloßen Phänomen seelischer oder bestenfalls sozialer Fehlfunktion gemacht" hätten, verleihe King ihm wieder seine "ethische Autorität" und "metaphysische Würde".
Das ist nun seinerseits ein verblüffender Befund. Denn es liegt doch auf der Hand, daß eine Art Volksmetaphysik sich schon seit langem in den trivialen Bereichen unserer Kultur eingenistet hat, als arme Base der an den hohen Schulen betriebenen Metaphysik; den Kleine-Leute-Geruch, den Mief der Konventikel wurde die Base niemals los. Wieso kommt sie nun plötzlich zu Autorität und Würde?
Müller sagt es uns nicht. In den entspannteren Passagen seines Buches räumt er jedoch ein, daß Kings Monster, wenn sie endlich ihr Gesicht zeigen, immer ein bißchen so aussehen, "als wäre ihnen die Latex-Maske verrutscht". Also: warum braucht das Böse, das zum Horrorroman gehört wie die Droge zum Rausch, überhaupt eine Maske? Hierzu erfahren wir von Müller Erhellendes. "Es", das ist der finstere Dämon, der in Müllers Lieblingsroman gleichen Titels sein 1215 Seiten dickes Unwesen treibt. "Es verkleidet sich, heimtückisch ihre Angst von innen ertastend, in die Phantasien der Kinder, die es fressen will, die Phantasien aber nähren sich von den Low-Budget-Horrorfilmen dieser Zeit, der fünfziger Jahre", und sind entsprechend schäbig, was aber dem Schrecken nicht abträglich ist, denn (so erfahren wir fünf Kapitel später): "Der Appetit, den es auf die Menschen hat, ist . . . an die persönliche Beziehung dieses finsteren Gottes zu seinem Opfer gekoppelt: Damit es Ihm recht mundet, muß zuvor die Angst ihr Fleisch süß gemacht haben, und daraus leitet sich die Notwendigkeit der Verkörperung her; der kosmische Kannibale muß sich in die Seelen einfühlen und die Gestalt des für sie größten Horrors annehmen, damit ihr Leib schmackhaft wird . . ."
Deshalb, so schließt Müller in kühner Verallgemeinerung, sei in Kings Horrorromanen nicht allein das Böse wieder existent, sondern das Gute in beunruhigender Weise abwesend: Es tauge nicht als Widerpart des Bösen, denn es komme in der Welt (in Kings, Müllers, unserer Welt?) nur in dem Maße vor, wie das Böse seiner bedürfe, um sich daran zu mästen. Doch damit werden die Eigenschaften, die King - laut Müller - dem Bösen zurückgibt, noch rätselhafter. "Ethische Autorität"? "Metaphysische Würde"? In der abendländisch-christlichen Tradition hat ja allein das Gute (Gott) Substanz, das Böse ist als Mangel definiert, und der Teufel, der es vielgestaltig verkörpert, hat seine Macht über die Menschen von Gott geliehen bekommen und ist am Ende der Geprellte. Dieses aberwitzige Mythologem diente im Grunde nur dazu, den Dualismus abzuwehren: den verketzerten, aber unausrottbaren, im Volksboden wuchernden, von Sekten gepflegten, in der Literatur veredelten Glauben an zwei Prinzipien, die miteinander ringen - Gut und Böse, Licht und Finsternis, Gott und Gegengott. Folgt man Müller, so steht King nicht in dieser manichäischen, sondern in der christlichen Tradition, die er jedoch umstülpt: Es gibt nur einen Gott, das Böse, das sich vom zufällig auftretenden Guten nährt. Wer gut ist, bedient somit das Böse. Das aber bedeutet das Aus für die überkommene Metaphysik, der es oblag, das eine Gute zu begründen und das vielfache Böse zu erklären.
Was bezweckt Müllers Exegese? King selbst beteuert immer wieder, in Vorworten und durch den Mund von Identifikationsfiguren, seinen Glauben an das Gute und an Gott. In "Es" zum Beispiel denkt der Drachentöter Bill am Ende: "Wenn das Leben uns überhaupt etwas lehrt, so lehrt es uns, daß es soviel Happy-Ends gibt, daß ein Mensch, der nicht an die Existenz Gottes glaubt, auf seinen Geisteszustand untersucht werden müßte . . ." Zugegeben, dieser Gott hat seinen Tempel in Hollywood. Aber dann gilt auch, daß der Gott, den Müller in Kings Metaphern und Masken des Bösen erkennt, in einer Riesenspinne oder einer Superechse, einem Clownsgesicht, das sich im Gully zeigt, oder einem Finger, der aus dem Abflußrohr ragt, ein Meister aus Deutschland ist - der Tod.
Auf den Tod will Müller von Anfang an hinaus. Schon bei der ersten Begegnung mit King, auf einer Bahnfahrt in "Es" vertieft, begann er "den Ernst und die Unerschrockenheit zu bewundern, mit der King an das größte aller ungelösten Probleme herangeht, an den Tod, der, sollte er jemals von der Metaphysik gezähmt worden sein, wieder da ist, wilder und furchtbarer denn je".
Müller setzt noch eins drauf: Kings Horrorromane, sagt er, betreiben die Auflehnung gegen den Tod und zugleich gegen seine Heerscharen, die Totengeister, die sich heute so böse zeigen, weil sie "doppelt enterbt" sind, um das christliche Paradies und den heidnischen Totenkult betrogen, und deshalb uns Lebenden alles neiden, insbesondere das Blut. Gegen sie zu kämpfen ist edel und gut. Das ist das Evangelium, das Müller aus dem Kingschen Horror destilliert. Doch damit gerät er in die Argumentationsfalle, die er selbst gestellt hat: Was gut ist, mästet das Böse, opfert dem Tod.
Man sollte Müller zugute halten, daß er von Kings Romanen fasziniert ist und dies dem Leser kundtun möchte. Er zerlegt den Schrecken nicht, er erzählt davon, sinniert darüber und tut dabei so, als wären die Welten, die King entwirft, mit der bestehenden kompatibel. Trotzdem (auch dank der ausführlichen King-Zitate) liest man diese Exegese über das Wunder, das Böse, den Tod mit Vergnügen. Das Vergnügen wäre noch größer, wenn Müller das, was ein trefflicher Essay sein könnte, nicht aufgeblasen hätte zu einem Buch. KARL MARKUS MICHEL
Burkhard Müller: "Stephen King: Das Wunder, das Böse und der Tod". Verlag Klett-Cotta, Stuttgart 1998. 167 S., geb., 29,80 DM.
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