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Standen die Millionen Heimatvertriebenen in der Bundesrepublik im Schatten des "Wirtschaftswunders"? Das Gesetz über den Lastenausgleich - größtes sozialpolitisches Projekt des jungen Staates - hatte ihnen 1952 Entschädigung und Integrationshilfen im Rahmen der "volkswirtschaftlichen Möglichkeiten" versprochen und gleichzeitig die Vermögensbesitzer zu Abgaben verpflichtet. Einer breiten Schicht von Leistungsempfängern kam der Lastenausgleich sehr zugute, doch die Entschädigung für verlorenes Grund- und Betriebsvermögen fiel relativ bescheiden aus - auch weil die Ausgleichsmittel weit hinter…mehr

Produktbeschreibung
Standen die Millionen Heimatvertriebenen in der Bundesrepublik im Schatten des "Wirtschaftswunders"? Das Gesetz über den Lastenausgleich - größtes sozialpolitisches Projekt des jungen Staates - hatte ihnen 1952 Entschädigung und Integrationshilfen im Rahmen der "volkswirtschaftlichen Möglichkeiten" versprochen und gleichzeitig die Vermögensbesitzer zu Abgaben verpflichtet. Einer breiten Schicht von Leistungsempfängern kam der Lastenausgleich sehr zugute, doch die Entschädigung für verlorenes Grund- und Betriebsvermögen fiel relativ bescheiden aus - auch weil die Ausgleichsmittel weit hinter dem ökonomischen Wachstum zurückblieben. Über die vom ostdeutschen Mittelstand deshalb beklagte Benachteiligung gab es bei Dutzenden Gesetzesnovellen bis in die Zeit der Ostverträge hinein immer wieder heftigen politischen Streit. Die Konflikte, von einer Erfolgsgeschichte des Lastenausgleichs später meist ausgeblendet, werden durch die Studie erstmals näher beleuchtet.
Autorenporträt
Prof. Dr. Manfred Kittel, geb. 1962, war nach dem Studium u. a. am Institut für Zeitgeschichte in München tätig, ab 2009 als Gründungsdirektor der Bundesstiftung Flucht, Vertreibung, Versöhnung in Berlin. Seit 2015 forscht er am Deutschen Historischen Museum und am Bundesarchiv wieder zu zeithistorischen Themen. Er lehrt Neueste Geschichte an der Universität Regensburg.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 03.11.2020

"Deutschlands größte Umverteilung"
Eine allzu kritische Analyse des Lastenausgleichsgesetzes

Die materielle, politische und psychologische Integration von Flüchtlingen ist ein deutsches Großthema spätestens seit der kaum regulierten Massenzuwanderung von 2015. Das war sie schon einmal in der deutschen Nachkriegsgeschichte. Nach 1945 wurden mehr als acht Millionen aus ihren angestammten Siedlungsgebieten im Osten Europas vertriebene Deutsche in den westlichen Besatzungszonen aufgenommen. Auch wenn es sich damals um Landsleute handelte, welche dieselbe Sprache sprachen, der christlichen Religion angehörten und sich der deutschen Kulturgemeinschaft zugehörig fühlten, bedeutete das für die westliche "Zusammenbruchsgesellschaft" eine erhebliche zusätzliche Belastung. Die Vertriebenen selbst hatten oft Schreckliches erleben müssen und stießen nun nicht selten auf eine feindselige neue Umgebung.

Manfred Kittel nimmt sich aus dieser Konstellation mit dem Lastenausgleichsgesetz (LAG) eine zunächst spröde erscheinende Materie für seine überaus sorgfältig gearbeitete Studie vor. Er kann aber darüber hinaus anhand des stetigen Kampfes um die Novellierungen des Gesetzes weitere Beobachtungen und Ergebnisse nicht nur über die Integration der Vertriebenen, deren Formierung und Dekomposition als politische Kraft, sondern auch über die politische, ökonomische und Mentalitätsgeschichte der frühen Bundesrepublik vorlegen.

Das 1952 verabschiedete LAG war der Versuch, die vom Bombenkrieg getroffenen wie die vornehmlich aus den Ostgebieten vertriebenen Deutschen sowie dann DDR-Flüchtlinge und Spätaussiedler für ihre Vermögensverluste und andere Nachteile zu entschädigen. Auch Vermögensverluste in Westeuropa und in Übersee sowie Einbußen bei Spareinlagen durch die Währungsreform gehörten zum Gegenstandsbereich des Gesetzes. Im Hinblick auf die "Ostvertriebenen", so der zeitgenössische Begriff, sollte deren Eingliederung mit Hilfe einer nationalen Solidaritätsanstrengung erreicht und eben ein Ausgleich für erlittene Verluste geleistet werden.

Dafür wurde ein Fonds gebildet, der aus einer Vermögensabgabe gespeist wurde, die Betriebs- und Grundvermögen mit dem Stichtag der Währungsreform von 1948 mit einer fünfzigprozentigen Abgabe belegte. Diese wurde jedoch verzinsbar bis 1979 gestreckt und konnte de facto nur auf die Vermögenserträge gezahlt werden. Die Belastung der Zahlungspflichtigen betraf so nur zehn bis zwanzig Prozent der 1948 vorhandenen Sachvermögen. Im Ergebnis handelte es sich also "bloß um eine Art Zusatzsteuer auf die Erträge der erhalten gebliebenen Vermögen im Westen". Ergänzt wurde der Fonds aus Abgaben auf Hypotheken und Kreditgewinne sowie Zuschüssen von Bund und Ländern. Letztere machten mehr als die Hälfte der Lastenausgleichsgelder aus, so dass die Empfänger ihre Leistungen über die Steuern mitfinanzierten.

Bis 2002 wurden 145 Milliarden DM mobilisiert, zu gut zwei Dritteln kamen diese den Vertriebenen zugute. Im Gegensatz zu bisherigen Würdigungen sieht Kittel die Bilanz des LAG kritischer. Denn der Lastenausgleich konnte weder mit der Inflation noch mit den Steigerungsraten des Bruttosozialprodukts und der öffentlichen Haushalte mithalten.

Für das Scheitern eines Lastenausgleichs, der mit dem Wirtschaftswunder auf "Augenhöhe" war, führt Kittel mehrere Gründe an: Die Vertriebenenorganisationen waren gerade in der Anfangszeit personell nicht gut aufgestellt und organisatorisch zersplittert, wozu auch die konfessionelle Spaltung beitrug. Das politische Ziel der Rückgewinnung der Heimat und das Festhalten an Rechtsansprüchen überlagerte zudem die materielle Interessenpolitik, was Kittel bis hin zum Streit um die Ostverträge zeigen kann. Beim LAG agierte man auch vorsichtig, um nicht in den Geruch einer wirtschaftlichen Interessengruppe zu geraten. In den Parteien waren die Vertriebenen unterrepräsentiert. Bundeskanzler Konrad Adenauer kam ihnen zwar mehr als der sparsame Finanzminister Fritz Schäffer entgegen. Wegen des Koalitionsverbots konnte eine eigene politische Vertretung, der "Block der Heimatvertriebenen und Entrechteten", erst 1950 gegründet werden, deren Führung aus den Reihen "überwiegend protestantischer ehemaliger NS-Parteigenossen" zudem für "das katholische Vertriebenendrittel oft eine Ekelschranke" darstellte, wie Kittel formuliert. Zudem sorgte gerade der ökonomische Aufschwung dafür, die Mehrzahl der Vertriebenen, die Besitz nur in bescheidenem Umfang verloren hatten, zu saturieren. Das komplizierte politische Geflecht zwischen Bund und Ländern und Finanz- sowie Vertriebenenministerium und die Schwierigkeiten der Vermögensfeststellung erschwerten darüber hinaus die substantielle Veränderung des LAG. Ein Miterfinder des Begriffs des Lastenausgleichs, Ludwig Erhard, setzte als Kanzler alles daran, eine Ausweitung der Leistungen zu verhindern. Gleichwohl stieg das Volumen des LAG bis Ende der siebziger Jahre auf das Drei- bis Vierfache des ursprünglichen Ansatzes.

Das Resümee von Kittel wirkt insofern überkritisch: "Das hauptsächliche materielle Ergebnis bestand darin, dass die Vertriebenen sowohl ihre ostdeutsche Heimat als auch ihr Eigentum dort, soweit vorhanden, verloren und das viele nie eine auch nur annähernd dem Wert des Verlustes entsprechende Entschädigung erreichten." In einem zerstörten und geteilten Land, das vielfache Opfergruppen und Geschädigte zu bedenken hatte, und dessen Wirtschaftsaufschwung erst ganz allmählich den kargen Lebensstandard hob, kann das Postulat einer vollständigen Entschädigung von Vermögensverlusten der in der Bundesrepublik aufgenommenen Flüchtlinge aber kaum der adäquate Maßstab für ein Urteil über "Deutschlands größte Umverteilung", so Jürgen Jeskes Urteil einst in dieser Zeitung (F.A.Z. vom 8. 7. 1978), sein.

Die zahlreichen Leistungen des LAG umfassten neben der sogenannten Hauptentschädigung für die Vermögensverluste unter anderem Hausratsentschädigung, Kriegsschadenrenten, Wohnhilfen und Eingliederungsdarlehen. Damit standen die in der Bundesrepublik Angekommenen besser als andere zeitgenössische Flüchtlingsgruppen da, auch wenn Kittel mit den schon von Jeske erwähnten vertriebenen Kareliern und ihrer Aufnahme in Finnland ein Gegenbeispiel anführen kann. Gegen das wohl zu kritische Urteil spricht auch, dass viele Vertriebene "vielfach bis heute ein Gefühl tiefer Dankbarkeit" hegen, während die Westdeutschen ihnen im Hinblick auf das LAG häufig mit Neid begegneten.

Der Autor hat schon in seinen früheren Publikationen zu Recht konstatiert, dass das Schicksal der deutschen Vertriebenen keinen angemessenen Platz im bundesdeutschen Erinnerungshaushalt besitze. Die Integration der Vertriebenen sieht Kittel eher als eine einseitige Anpassungsleistung der Ostdeutschen denn als einen wechselseitigen Anpassungsprozess. Diese Asymmetrie scheint aber gerade eine Voraussetzung für gelingende Integration zu sein, was in heutigen Diskussionen gern negiert wird.

PETER HOERES

Manfred Kittel: Stiefkinder des Wirtschaftswunders? Die deutschen Ostvertriebenen und die Politik des Lastenausgleichs (1952 bis 1975).

Droste Verlag, Düsseldorf 2020. 672 S., 68,- [Euro].

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension

Peter Hoeres erfährt von Manfred Kittel nicht zuletzt, woran die Integration der deutschen Vertriebenen scheiterte. Kittels spröde erscheinende, laut Hoeres aber sorgfältige und vielseitig informative Studie zur Geschichte des Lastenausgleichsgesetzes verrät dem Rezensenten aber auch viel über die Mentalitätsgeschichte der BRD unter Erhard. Für Hoeres geht der Autor gleichwohl "überkritisch" mit dem Gesetz ins Gericht. Die Vervielfachung des LAG-Volumens etwa zieht er für sein Urteil nicht in Betracht, stellt der Rezensent fest.

© Perlentaucher Medien GmbH