For decades, Janet Malcolm's books and dispatches for the New Yorker have poked and prodded at biographical convention, gesturing towards the artifice that underpins both public and private selves. Here, Malcolm turns her gimlet eye on her own life, examining twelve family photographs to construct a memoir from camera-caught moments, each of which pose questions of their own. She begins with the picture of a morose young girl on a train, leaving Prague at the age of five in 1939. From there we follow her to the Czech enclave of Yorkville in Manhattan, where her father, a psychiatrist and neurologist, and her mother, an attorney from a bourgeois family, traded their bohemian, Dada-inflected lives for the ambitions of middle-class America. From her early, fitful loves to evenings at the old Metropolitan Opera House to her fascination with what it might mean to be a "bad girl," Malcolm assembles a composite portrait of a New York childhood, one that never escaped the tug of Europe and the mysteries of fate and family. Later, Malcolm delves into her marriage to Gardner Botsford, the world of William Shawn's New Yorker, and the libel trial that led her to become a character in her own drama. Displaying the sharp wit and astute commentary that are Malcolmian trademarks, this brief volume develops into a memoir like no other.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 15.07.2023Nicht auf Motivsuche
Janet Malcolm war beim "New Yorker" die Spezialistin für unbarmherzige Porträts. In ihrem letzten Buch beugt sie sich über das eigene Leben, anhand von Familienfotos.
Von Patrick Bahners
Hat der Fotograf denn nicht gerufen: Bitte lächeln? Noch nicht einmal im Spaß? Einen solchen Scherz würde man vielleicht erwarten in einem kultivierten, selbstbewussten, bürgerlichen Milieu, wo man Konventionen befolgt, aber gleichzeitig zeigt, dass man innerlich frei von ihnen ist. Erst recht könnte ein solcher Spruch passend sein, wenn es keinen Anlass zum Scherzen gibt und jede Ablenkung willkommen ist. Die beiden Erwachsenen, die ihre Köpfe aus dem Zugfenster stecken, lächeln um die Wette, Vater und Mutter des Mädchens in der Mitte, der Spielverderberin. Das Kind, es ist noch keine fünf Jahre alt, zieht eine grimmige Miene, und Janet Malcolm schreibt, dass man den Ausdruck in ihrem damaligen, bei der Abreise der Familie aus Prag fixierten Gesicht am besten mit einem Wort aus ihrer tschechischen Muttersprache beschreiben kann, mrzutý.
Sie hat gleichwohl eine Liste von stolzen sieben englischen Synonymen parat, wie es sich für ein Mitglied der exklusiven Genossenschaft der beim "New Yorker" festangestellten Autoren gehört, der Meister des treffenden oder jedenfalls unverbesserlichen Wortes. Zeigt sich die kleine Janet - sie nennt das Kind, das sie war, schon Janet, obwohl sie von den Eltern damals noch Jana gerufen wurde - in dieser schicksalhaften Sekunde etwa schon so, wie die Welt die große Janet Malcolm kennt, die Verfasserin unbarmherziger Gerichtsreportagen und unverblümter Betrachtungen über die Unmöglichkeit eines ethischen Journalismus? Ärgerlich, mürrisch, finster blickt die junge Reisende drein, sie grollt und schmollt. So sieht es aus: Sie lässt sich nicht täuschen, möchte auch Selbsttäuschung nicht vortäuschen, macht keine gute Miene zum bösen Spiel. Das Spiel hätte immer noch tödlich enden können, die Reise ging ins Ungewisse und durch Hitlers Deutschland. Es war Juli 1939, das Schiff, das die Familie in Hamburg erreichte, war eines der letzten Linienschiffe, das vor Kriegsanfang noch Richtung Amerika aufbrach.
Die Möglichkeit, dass sie den ganzen Ernst der Situation damals schon kannte oder wenigstens spürte oder doch irgendwie ahnte und deshalb beim Abschied unüberbietbar mrzutý in die Kamera blickte, zieht Janet Malcolm in ihrer Beschreibung des Fotos nicht in Erwägung. Diese physiognomische Lesart, die Reflexe der Todesgefahr im Bild entdecken möchte, um das Alltägliche der Szene als unheimlich klassifizieren zu können, weist die Autorin noch nicht einmal als Missverständnis zurück. Es ist Janet Malcolms stetige Übung, dem Sentimentalen selbst im Gedankenspiel keinen Schritt entgegenzukommen. Die Lage der verfolgten Juden würde trivialisiert, wollte jemand glauben, dass die Familie Wiener beim Antritt der Flucht anders hätte gucken müssen als beim Aufbruch in die Sommerfrische oder zu einem unverlockenden Verwandtenbesuch. Man zeigt sich, gibt sich entspannt und lächelt, mit oder ohne Aufforderung.
Janet Malcolm starb am 16. Juni 2021 mit 86 Jahren. Ihr letztes, postum publiziertes Buch ist eine Sammlung autobiographischer Skizzen, die jeweils von der Betrachtung eines Fotos aus den Alben oder häufiger den Schubladen und unsortierten Schachteln ihrer Familie ausgehen ("Still Pictures". On Photography and Memory. Farrar, Straus and Giroux, New York 2023. 156 S., geb., 26,- $). Lange verweilt sie bei den Bildern nicht, zumal sie bei den Gruppenfotos aus der Schulzeit die meisten Personen nicht mehr identifizieren kann. Evident wird an alten Fotos immer die Relativität der Zeit. Janet Malcolm fällt ins Auge, wie jung ihre Eltern auf dem Foto aus dem Juli 1939 sind. Die längere Hälfte ihres Lebens lag noch vor ihnen, aber die Tochter sah ihre tschechische Vergangenheit "immer als einen gewaltigen Felsen, der vor ihrer amerikanischen Gegenwart stand".
In diesem ersten Kapitel erzählt die Autorin eine Serie von Begebenheiten, aus denen hervorgeht, dass das Mädchen in der neuen Umwelt als störrisch und verschlossen wahrgenommen wurde. Es kam dabei aber keine angeborene und nach Amerika mitgeschleppte Eigenschaft zum Vorschein, auch kein unübersetzbarer Nationalcharakterzug. Der Grund von Janets Außenseiterstellung, die eine Lehrerin sogar eine Lernbehinderung vermuten ließ, war ganz einfach, dass sie noch nicht genug Englisch sprach. Drei Anekdoten illustrieren, wie die Phantasie der Schülerin sich in der Isolation quasi häuslich einrichtete oder umgekehrt, wie die Blase eingebildeter Gemeinsamkeit an Unausgesprochenem zerplatzte. Über Wochen beobachtete sie, das ihre Mitschüler Münzen an die Lehrerin gaben. Als sie schließlich verstand, dass für eine Klassenfahrt gesammelt wurde, konnte sie nicht mehr mitfahren, weil sie ihre Eltern nicht um den geforderten Beitrag gebeten hatte. Während man angesichts dieses Ablaufs zumal die Lehrerin nicht leicht vom Vorwurf der Ungerechtigkeit durch Nichtbeachtung freisprechen kann, rührt die zweite Geschichte als Beispiel schuldlos selbst gemachten Unglücks. Die Lehrerin verabschiedete die Klasse täglich mit dem Gruß "Goodbye, Children!" Janet glaubte, "Children" sei ein Mädchenname, nämlich der Name der Favoritin der Lehrerin, und nahm sich vor, die Unbekannte aus dieser Stellung zu verdrängen. Dass die Eltern sich von den Nachbarn in der tschechischen Kolonie auf der Upper East Side von Manhattan lieber nicht abheben wollten, konnten und sollten Janet und ihre zwei Jahre jüngere Schwester Marie zunächst nicht begreifen. Die Mädchen wurden in eine lutherische Sonntagsschule geschickt. Eines Tages brachten sie einen antisemitischen Spruch nach Hause. Indem die Eltern das Judentum der Familie bis dahin nicht zum Thema gemacht hatten, wollten sie die Töchter vor dem Antisemitismus beschützen. Als sie verstanden, dass sie in Amerika eine Zuflucht gefunden hatten, "war die Vorstellungswelt ihrer Kinder von ihrer Furcht schon tief affiziert".
Janet Malcolms Skepsis gegenüber einer Hermeneutik des Merkmals, die der Physis oder dem Habitus das durchgreifende Motiv eines Lebens ablesen möchte, muss man nicht aus der Bewältigung dieser Furcht ableiten. In ihren Porträtartikeln geht sie forensisch in dem Sinne vor, dass sie so viele Indizien wie möglich zusammenträgt. Aber das Urteil ergibt sich erst in der Gesamtschau, die keine scheinbar verräterische Detailansicht ersetzen kann. Als Kritikerin der Fotografie treibt sie das Misstrauen gegenüber der Prägnanzsuggestion der vermeintlich sprechenden Einzelheit so weit, dass man bei ihrem letzten Buch fast von Unterinterpretation sprechen möchte.
Am Foto der Abreisenden im Zugfenster interessiert sie am meisten, was man nicht sieht: die Person des Fotografen, eines Freundes der Familie. Sie bringt ihm "ein romantisches Gefühl" entgegen, weil sie ihm eine romantische Neigung zu ihrer Mutter angedichtet hat, im Bann der Vorstellung, dass jedes Foto ein Geheimnis haben müsse.
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Janet Malcolm war beim "New Yorker" die Spezialistin für unbarmherzige Porträts. In ihrem letzten Buch beugt sie sich über das eigene Leben, anhand von Familienfotos.
Von Patrick Bahners
Hat der Fotograf denn nicht gerufen: Bitte lächeln? Noch nicht einmal im Spaß? Einen solchen Scherz würde man vielleicht erwarten in einem kultivierten, selbstbewussten, bürgerlichen Milieu, wo man Konventionen befolgt, aber gleichzeitig zeigt, dass man innerlich frei von ihnen ist. Erst recht könnte ein solcher Spruch passend sein, wenn es keinen Anlass zum Scherzen gibt und jede Ablenkung willkommen ist. Die beiden Erwachsenen, die ihre Köpfe aus dem Zugfenster stecken, lächeln um die Wette, Vater und Mutter des Mädchens in der Mitte, der Spielverderberin. Das Kind, es ist noch keine fünf Jahre alt, zieht eine grimmige Miene, und Janet Malcolm schreibt, dass man den Ausdruck in ihrem damaligen, bei der Abreise der Familie aus Prag fixierten Gesicht am besten mit einem Wort aus ihrer tschechischen Muttersprache beschreiben kann, mrzutý.
Sie hat gleichwohl eine Liste von stolzen sieben englischen Synonymen parat, wie es sich für ein Mitglied der exklusiven Genossenschaft der beim "New Yorker" festangestellten Autoren gehört, der Meister des treffenden oder jedenfalls unverbesserlichen Wortes. Zeigt sich die kleine Janet - sie nennt das Kind, das sie war, schon Janet, obwohl sie von den Eltern damals noch Jana gerufen wurde - in dieser schicksalhaften Sekunde etwa schon so, wie die Welt die große Janet Malcolm kennt, die Verfasserin unbarmherziger Gerichtsreportagen und unverblümter Betrachtungen über die Unmöglichkeit eines ethischen Journalismus? Ärgerlich, mürrisch, finster blickt die junge Reisende drein, sie grollt und schmollt. So sieht es aus: Sie lässt sich nicht täuschen, möchte auch Selbsttäuschung nicht vortäuschen, macht keine gute Miene zum bösen Spiel. Das Spiel hätte immer noch tödlich enden können, die Reise ging ins Ungewisse und durch Hitlers Deutschland. Es war Juli 1939, das Schiff, das die Familie in Hamburg erreichte, war eines der letzten Linienschiffe, das vor Kriegsanfang noch Richtung Amerika aufbrach.
Die Möglichkeit, dass sie den ganzen Ernst der Situation damals schon kannte oder wenigstens spürte oder doch irgendwie ahnte und deshalb beim Abschied unüberbietbar mrzutý in die Kamera blickte, zieht Janet Malcolm in ihrer Beschreibung des Fotos nicht in Erwägung. Diese physiognomische Lesart, die Reflexe der Todesgefahr im Bild entdecken möchte, um das Alltägliche der Szene als unheimlich klassifizieren zu können, weist die Autorin noch nicht einmal als Missverständnis zurück. Es ist Janet Malcolms stetige Übung, dem Sentimentalen selbst im Gedankenspiel keinen Schritt entgegenzukommen. Die Lage der verfolgten Juden würde trivialisiert, wollte jemand glauben, dass die Familie Wiener beim Antritt der Flucht anders hätte gucken müssen als beim Aufbruch in die Sommerfrische oder zu einem unverlockenden Verwandtenbesuch. Man zeigt sich, gibt sich entspannt und lächelt, mit oder ohne Aufforderung.
Janet Malcolm starb am 16. Juni 2021 mit 86 Jahren. Ihr letztes, postum publiziertes Buch ist eine Sammlung autobiographischer Skizzen, die jeweils von der Betrachtung eines Fotos aus den Alben oder häufiger den Schubladen und unsortierten Schachteln ihrer Familie ausgehen ("Still Pictures". On Photography and Memory. Farrar, Straus and Giroux, New York 2023. 156 S., geb., 26,- $). Lange verweilt sie bei den Bildern nicht, zumal sie bei den Gruppenfotos aus der Schulzeit die meisten Personen nicht mehr identifizieren kann. Evident wird an alten Fotos immer die Relativität der Zeit. Janet Malcolm fällt ins Auge, wie jung ihre Eltern auf dem Foto aus dem Juli 1939 sind. Die längere Hälfte ihres Lebens lag noch vor ihnen, aber die Tochter sah ihre tschechische Vergangenheit "immer als einen gewaltigen Felsen, der vor ihrer amerikanischen Gegenwart stand".
In diesem ersten Kapitel erzählt die Autorin eine Serie von Begebenheiten, aus denen hervorgeht, dass das Mädchen in der neuen Umwelt als störrisch und verschlossen wahrgenommen wurde. Es kam dabei aber keine angeborene und nach Amerika mitgeschleppte Eigenschaft zum Vorschein, auch kein unübersetzbarer Nationalcharakterzug. Der Grund von Janets Außenseiterstellung, die eine Lehrerin sogar eine Lernbehinderung vermuten ließ, war ganz einfach, dass sie noch nicht genug Englisch sprach. Drei Anekdoten illustrieren, wie die Phantasie der Schülerin sich in der Isolation quasi häuslich einrichtete oder umgekehrt, wie die Blase eingebildeter Gemeinsamkeit an Unausgesprochenem zerplatzte. Über Wochen beobachtete sie, das ihre Mitschüler Münzen an die Lehrerin gaben. Als sie schließlich verstand, dass für eine Klassenfahrt gesammelt wurde, konnte sie nicht mehr mitfahren, weil sie ihre Eltern nicht um den geforderten Beitrag gebeten hatte. Während man angesichts dieses Ablaufs zumal die Lehrerin nicht leicht vom Vorwurf der Ungerechtigkeit durch Nichtbeachtung freisprechen kann, rührt die zweite Geschichte als Beispiel schuldlos selbst gemachten Unglücks. Die Lehrerin verabschiedete die Klasse täglich mit dem Gruß "Goodbye, Children!" Janet glaubte, "Children" sei ein Mädchenname, nämlich der Name der Favoritin der Lehrerin, und nahm sich vor, die Unbekannte aus dieser Stellung zu verdrängen. Dass die Eltern sich von den Nachbarn in der tschechischen Kolonie auf der Upper East Side von Manhattan lieber nicht abheben wollten, konnten und sollten Janet und ihre zwei Jahre jüngere Schwester Marie zunächst nicht begreifen. Die Mädchen wurden in eine lutherische Sonntagsschule geschickt. Eines Tages brachten sie einen antisemitischen Spruch nach Hause. Indem die Eltern das Judentum der Familie bis dahin nicht zum Thema gemacht hatten, wollten sie die Töchter vor dem Antisemitismus beschützen. Als sie verstanden, dass sie in Amerika eine Zuflucht gefunden hatten, "war die Vorstellungswelt ihrer Kinder von ihrer Furcht schon tief affiziert".
Janet Malcolms Skepsis gegenüber einer Hermeneutik des Merkmals, die der Physis oder dem Habitus das durchgreifende Motiv eines Lebens ablesen möchte, muss man nicht aus der Bewältigung dieser Furcht ableiten. In ihren Porträtartikeln geht sie forensisch in dem Sinne vor, dass sie so viele Indizien wie möglich zusammenträgt. Aber das Urteil ergibt sich erst in der Gesamtschau, die keine scheinbar verräterische Detailansicht ersetzen kann. Als Kritikerin der Fotografie treibt sie das Misstrauen gegenüber der Prägnanzsuggestion der vermeintlich sprechenden Einzelheit so weit, dass man bei ihrem letzten Buch fast von Unterinterpretation sprechen möchte.
Am Foto der Abreisenden im Zugfenster interessiert sie am meisten, was man nicht sieht: die Person des Fotografen, eines Freundes der Familie. Sie bringt ihm "ein romantisches Gefühl" entgegen, weil sie ihm eine romantische Neigung zu ihrer Mutter angedichtet hat, im Bann der Vorstellung, dass jedes Foto ein Geheimnis haben müsse.
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