'Familiengeschichten haben offene und verborgene Gesichter, sie werden auf laute und auf verschwiegene Weise von Generation zu Generation weitergegeben. Die Kulturwissenschaftlerin Christina von Braun versucht die Botschaften zu entschlüsseln, die ihr vor allem durch die Frauen der Familie nach dem Muster der "Stillen Post" übermittelt wurden. Dabei verknüpft sie auf subtile, einfühlsame Weise eigene Erinnerungen, innere Zwiesprache mit den Verstorbenen und die reichen Quellen des Familienarchivs - Briefe, Tagebücher, unveröffentlichte Memoiren.
Im Mittelpunkt steht die Großmutter Hildegard Margis, die aufgrund von Kontakten zum kommunistischen Widerstand 1944 von der Gestapo verhaftet wurde und im Gefängnis starb. Ihr vor allem, dieser politisch engagierten, beruflich erfolgreichen, ganz und gar eigenständigen Frau will die Autorin ein Denkmal setzen. Aber auch von den Eltern erzählt sie, Hilde und Sigismund von Braun, die es im Krieg nach Afrika und dann in den Vatikan verschlug, wo der Vater an der deutschen Botschaft tätig war ; vom Onkel Wernher von Braun, der in Peenemünde Raketen für Hitler baute und nach dem Krieg in die USA ging ; von den Großeltern von Braun, die von ihrem Gut in Niederschlesien vertrieben wurden ; und vom Onkel Hans, den die Mutter in den dreißiger Jahren nach England schickte, um ihn vor den Fängen des NS-Regimes zu bewahren. Alle diese turbulenten Lebenswege fügen sich wie ein Puzzle zu einem faszinierenden Gesamtbild deutscher Geschichte in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts.
Eine Hörprobe finden Sie auf www.literaturport.de
Im Mittelpunkt steht die Großmutter Hildegard Margis, die aufgrund von Kontakten zum kommunistischen Widerstand 1944 von der Gestapo verhaftet wurde und im Gefängnis starb. Ihr vor allem, dieser politisch engagierten, beruflich erfolgreichen, ganz und gar eigenständigen Frau will die Autorin ein Denkmal setzen. Aber auch von den Eltern erzählt sie, Hilde und Sigismund von Braun, die es im Krieg nach Afrika und dann in den Vatikan verschlug, wo der Vater an der deutschen Botschaft tätig war ; vom Onkel Wernher von Braun, der in Peenemünde Raketen für Hitler baute und nach dem Krieg in die USA ging ; von den Großeltern von Braun, die von ihrem Gut in Niederschlesien vertrieben wurden ; und vom Onkel Hans, den die Mutter in den dreißiger Jahren nach England schickte, um ihn vor den Fängen des NS-Regimes zu bewahren. Alle diese turbulenten Lebenswege fügen sich wie ein Puzzle zu einem faszinierenden Gesamtbild deutscher Geschichte in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts.
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 21.03.2007Die Pistole im Nachttisch meiner Mutter
Eine Meisterleistung: Christina von Braun erzählt ihre Familiengeschichte aus Tochtersicht / Von Julia Encke
Es gibt eine Art Urszene in Christina von Brauns Buch "Stille Post", das alles auf einmal ist, Autobiographie, Roman, Familienchronik und Geschichte der ersten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts, und das, indem es einen eigenen, bisher unbekannten Weg einschlägt, zu den wunderbarsten Büchern dieses Frühjahrs gehört. In dieser Szene kundschaftet Christina von Braun als Kind (das kennt jede Tochter!) den Toilettentisch ihrer Mutter aus. Sie liebt ihre Parfums, besonders "Quadrille" von Balenciaga. Klappt sie den Tisch auf, öffnet sich auf der Unterseite der Tischplatte ein Spiegel, an dem sich die Mutter täglich für die Welt herrichtet. In den kleinen Fächern daneben findet sie Haarbürsten, Bänder, Puderdosen. Und es gibt ein Geheimfach in diesem Toilettentisch, auf das sie bei ihren Schnüffeleien stößt. In ihm liegt eine Pistole.
Christina von Braun, heute Filmemacherin und Professorin für Kulturwissenschaften an der Humboldt Universität, macht sich, als Kind, nicht viel Gedanken darüber. Wahrscheinlich, denkt sie sich, haben alle Mütter zwischen ihren Parfums und Lockenwicklern Schusswaffen herumliegen. Viele Jahre später aber wird diese Pistole zur Protagonistin einer Spurensuche, die, über den Lebensweg der Großmutter, die Geschichte der eigenen Mutter ergründet. Denn der Großmutter, obwohl sie sie nie gekannt hat, fühlt sich die Autorin näher als der Mutter, deren verhaltene Körpersprache sie lange nicht verstehen kann. Also adressiert Christina von Braun ihr Buch, dessen Erzählung sie, gleich einem Innehalten, immer wieder mit fiktiven Briefen unterbricht, an sie:
"Liebe Großmutter", heißt es da, "es ist schwer, etwas über die Zeit zu erzählen, die Du erlebt hast und in der es mich überhaupt noch nicht gab. Sieh es mir also nach, wenn ich einiges falsch berichte. So ist das mit den Geschichten, die man nicht selbst erlebt hat. Ich bewundere sehr die Arbeit von Historikern: Sie können ganze Biographien, Gefühle und Lebenswelten aus den Bildern, Akten und Schriftstücken rekonstruieren, die sie finden. Aber diese Dokumente erzählen uns nur einen Teil der Geschichte. Daneben gibt es noch so viele andere Erzählungen, die aus all dem bestehen, was verschwiegen wurde: Geheimnisse, Liebesgeschichten. Wer erzählt sie uns? Vielleicht Romanschriftsteller."
"Stille Post" beansprucht deshalb nicht, ein Roman zu sein. Doch hat diese "andere Familiengeschichte", wie das Buch im Untertitel heißt, gerade durch diese Briefeinschübe durchaus romanhafte Züge, die nicht zuletzt auch im Projekt selbst angelegt sind. Die Männer ihrer Familie, stellt Christina von Braun fest - das mag nach Klischee klingen, ist hier deswegen aber nicht weniger wahr -, haben alle Memoiren geschrieben: veröffentlichte im Fall ihres Großvaters väterlicherseits, Magnus von Braun, der zusammen mit seiner Frau von seinem Gut in Niederschlesien vertrieben wurde; unveröffentlichte im Fall ihres Vaters, des Diplomaten Sigismund von Braun, und ihres Onkels Hans. Memoiren verführen dazu, die eigene Geschichte mit "der Geschichte" in Einklang zu bringen. Sie treten die Herrschaft über die Vergangenheit an.
Dagegen verfassten die Frauen Tagebücher. Sie schrieben aus dem "Jetzt", ohne historische Distanz, also ohne die Möglichkeit, die Ereignisse in den weiteren Verlauf der Geschichte einordnen zu können. Und ebendiese Perspektive ist für das, was die Autorin vorhat, von Interesse: Sie will etwas von dem aufspüren, was nicht in die offizielle Geschichtsschreibung eingeflossen ist - die "Stille Post"; hinterlegte, vertrauliche, manchmal verschlüsselte Nebengeschichten, wie es sie in jeder Familie gibt und wie sie auch in jeder Familie weitergegeben werden - manchmal auf verschlungenen Wegen. Dass es sich dabei um eine spezifisch "weibliche" Art der Nachrichtenkette handelt, mag allein daran liegen, dass den Frauen die offiziellen Kanäle der Geschichte lange versperrt blieben. So wurde die parallele Nachrichtenvermittlung zu einer weiblichen Spezialität, ein Gebiet, auf dem Frauen es zu Meisterleitungen gebracht haben.
Christina von Brauns Buch "Stille Post" ist seinerseits eine Meisterleistung, und das vor allem, weil inoffizielle und offizielle Familiengeschichtsschreibung der Nazizeit sowie der Jahre danach darin so eng verwoben sind, und die Autorin - als Erbin von Geschichten - die Briefe an die Großmutter nutzt, um ihre Fragen zu stellen. Das betrifft, wenn auch nur am Rande, den Onkel Wernher von Braun, unter Hitler Raketenforscher in Peenemünde, Erfinder der "Vergeltungswaffe" V2, bei deren Produktion KZ-Häftlinge eingesetzt wurden, von denen viele starben. Nach dem Krieg ging er nach Amerika. In einem 1960 von "This Week" veröffentlichten Artikel schrieb er: "Neulich hielt ich eine dieser After-Dinner Ansprachen, die für Raketenmänner im Moment unvermeidlich zu sein scheinen. Während der darauffolgenden Fragen und Antworten stand jemand auf und sagte: ,Warum sagen Sie uns das? Waren Sie nicht beteiligt an der Entwicklung der V2-Raketen, die im letzten Krieg auf London fielen?' Das Einzige, was ich antworten konnte, war, dass ich eine Diktatur überlebt habe und dass ich weder meine in Amerika geborenen Kinder noch die von anderen in einer anderen leben lassen will. Vielleicht hätte ich sagen sollen, dass man anscheinend durch das Fegefeuer gegangen sein muss, um den Himmel zu schätzen." Wernher, so Christina von Braun an die Großmutter, ist nicht durchs Fegefeuer gegangen. Andere wohl. "Kann man sich einfach das Leid, das anderen widerfahren ist, aneignen?"
Und ihre Fragen betreffen das Schicksal der aus Schlesien vertriebenen Großeltern väterlicherseits; ein Schicksal, für das sie sich bis zum Zeitpunkt ihrer Buchrecherchen wenig interessiert hatte - aufgrund des revanchistischen Tons der Vertriebenenverbände vor allem. Die überlieferten Familiendokumente jedoch verändern ihren Blick: "Beim Lesen ist mir klar geworden, was für ein Leid hier tatsächlich erfahren wurde - so unbestreitbar es bleibt, dass die, denen das Leid widerfuhr, auch an seiner Entstehung Anteil hatten."
Doch das alles ist noch nicht die "Stille Post". Denn diese kommt erst ins Spiel, wo es um die Mutter geht, die das Erbe ihrer eigenen Mutter verweigert, nicht antreten will, zu verdrängen sucht. Der Mutter-Tochter-Konflikt bestimmt auf diese Weise die Dynamik des ganzen Buches. Hildegard Margis, Christina von Brauns Großmutter, war in den zwanziger Jahren Frauenrechtlerin, leitete den Hausfrauenverband, hielt gut bezahlte Vorträge, sprach im Radio zu Themen wie "Was die Käuferin von heute wissen muss". Ihr Ehemann war im Ersten Weltkrieg gefallen, sie war alleinerziehende Mutter. Wegen Kontakten zum kommunistischen Widerstand wurde sie 1944 von der Gestapo verhaftet und starb im Gefängnis. Sie war "Halbjüdin", brachte ihren Sohn ins Ausland, kehrte - unfassbarerweise - aber nach Deutschland zurück.
Christina von Braun gegenüber erwähnte ihre Mutter diese jüdische Herkunft nie. Selbst als die Autorin sie, sehr spät, durch ihren Onkel in Erfahrung bringt, weigert sie sich, diese Frage zu thematisieren. Sie wollte dieses Wissen aus ihrer Erinnerung tilgen, ihre eigene jüdische Identität "vergessen", vielleicht auch, weil der Antisemitismus in der jungen Bundesrepublik noch zu tief verwurzelt war. Die Verweigerung, das Schweigen aber hat eine eigene Körpersprache. Es ist die Sprache der "Stillen Post", die sich auch in Krankheitssymptomen artikulierte, in Depressionen und Suizidversuchen, die zu der im Toilettentisch aufbewahrten Pistole zurückführen. Indem Christina von Braun diese Sprache zu entschlüsseln versucht, tritt sie das Erbe der Großmutter an.
Und vielleicht liegt darin auch ein großer Trost: Wenn die Überlebenden des Nationalsozialismus eines Tages gestorben sind, wird es, neben Akten und Dokumenten, immer noch auch diesen Schatz eines psychischen familiären Wissens geben, das sich über untergründige Kanäle mitteilt. Es ist ein vollkommen "unwissenschaftliches" Wissen - und doch gibt es keine Wissenschaft, die nicht von diesen geheimen, indirekten Botschaften leben würde. Christina von Braun führt uns vor, wie man mit dem ganz eigenen Alphabet dieser Sprache umgeht. Man wüsste am liebsten jetzt schon, was ihre Tochter dazu sagt.
Christina von Braun: "Stille Post". Eine andere Familiengeschichte. Propyläen Verlag, Berlin 2007. 416 S., geb., 22,- [Euro].
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Eine Meisterleistung: Christina von Braun erzählt ihre Familiengeschichte aus Tochtersicht / Von Julia Encke
Es gibt eine Art Urszene in Christina von Brauns Buch "Stille Post", das alles auf einmal ist, Autobiographie, Roman, Familienchronik und Geschichte der ersten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts, und das, indem es einen eigenen, bisher unbekannten Weg einschlägt, zu den wunderbarsten Büchern dieses Frühjahrs gehört. In dieser Szene kundschaftet Christina von Braun als Kind (das kennt jede Tochter!) den Toilettentisch ihrer Mutter aus. Sie liebt ihre Parfums, besonders "Quadrille" von Balenciaga. Klappt sie den Tisch auf, öffnet sich auf der Unterseite der Tischplatte ein Spiegel, an dem sich die Mutter täglich für die Welt herrichtet. In den kleinen Fächern daneben findet sie Haarbürsten, Bänder, Puderdosen. Und es gibt ein Geheimfach in diesem Toilettentisch, auf das sie bei ihren Schnüffeleien stößt. In ihm liegt eine Pistole.
Christina von Braun, heute Filmemacherin und Professorin für Kulturwissenschaften an der Humboldt Universität, macht sich, als Kind, nicht viel Gedanken darüber. Wahrscheinlich, denkt sie sich, haben alle Mütter zwischen ihren Parfums und Lockenwicklern Schusswaffen herumliegen. Viele Jahre später aber wird diese Pistole zur Protagonistin einer Spurensuche, die, über den Lebensweg der Großmutter, die Geschichte der eigenen Mutter ergründet. Denn der Großmutter, obwohl sie sie nie gekannt hat, fühlt sich die Autorin näher als der Mutter, deren verhaltene Körpersprache sie lange nicht verstehen kann. Also adressiert Christina von Braun ihr Buch, dessen Erzählung sie, gleich einem Innehalten, immer wieder mit fiktiven Briefen unterbricht, an sie:
"Liebe Großmutter", heißt es da, "es ist schwer, etwas über die Zeit zu erzählen, die Du erlebt hast und in der es mich überhaupt noch nicht gab. Sieh es mir also nach, wenn ich einiges falsch berichte. So ist das mit den Geschichten, die man nicht selbst erlebt hat. Ich bewundere sehr die Arbeit von Historikern: Sie können ganze Biographien, Gefühle und Lebenswelten aus den Bildern, Akten und Schriftstücken rekonstruieren, die sie finden. Aber diese Dokumente erzählen uns nur einen Teil der Geschichte. Daneben gibt es noch so viele andere Erzählungen, die aus all dem bestehen, was verschwiegen wurde: Geheimnisse, Liebesgeschichten. Wer erzählt sie uns? Vielleicht Romanschriftsteller."
"Stille Post" beansprucht deshalb nicht, ein Roman zu sein. Doch hat diese "andere Familiengeschichte", wie das Buch im Untertitel heißt, gerade durch diese Briefeinschübe durchaus romanhafte Züge, die nicht zuletzt auch im Projekt selbst angelegt sind. Die Männer ihrer Familie, stellt Christina von Braun fest - das mag nach Klischee klingen, ist hier deswegen aber nicht weniger wahr -, haben alle Memoiren geschrieben: veröffentlichte im Fall ihres Großvaters väterlicherseits, Magnus von Braun, der zusammen mit seiner Frau von seinem Gut in Niederschlesien vertrieben wurde; unveröffentlichte im Fall ihres Vaters, des Diplomaten Sigismund von Braun, und ihres Onkels Hans. Memoiren verführen dazu, die eigene Geschichte mit "der Geschichte" in Einklang zu bringen. Sie treten die Herrschaft über die Vergangenheit an.
Dagegen verfassten die Frauen Tagebücher. Sie schrieben aus dem "Jetzt", ohne historische Distanz, also ohne die Möglichkeit, die Ereignisse in den weiteren Verlauf der Geschichte einordnen zu können. Und ebendiese Perspektive ist für das, was die Autorin vorhat, von Interesse: Sie will etwas von dem aufspüren, was nicht in die offizielle Geschichtsschreibung eingeflossen ist - die "Stille Post"; hinterlegte, vertrauliche, manchmal verschlüsselte Nebengeschichten, wie es sie in jeder Familie gibt und wie sie auch in jeder Familie weitergegeben werden - manchmal auf verschlungenen Wegen. Dass es sich dabei um eine spezifisch "weibliche" Art der Nachrichtenkette handelt, mag allein daran liegen, dass den Frauen die offiziellen Kanäle der Geschichte lange versperrt blieben. So wurde die parallele Nachrichtenvermittlung zu einer weiblichen Spezialität, ein Gebiet, auf dem Frauen es zu Meisterleitungen gebracht haben.
Christina von Brauns Buch "Stille Post" ist seinerseits eine Meisterleistung, und das vor allem, weil inoffizielle und offizielle Familiengeschichtsschreibung der Nazizeit sowie der Jahre danach darin so eng verwoben sind, und die Autorin - als Erbin von Geschichten - die Briefe an die Großmutter nutzt, um ihre Fragen zu stellen. Das betrifft, wenn auch nur am Rande, den Onkel Wernher von Braun, unter Hitler Raketenforscher in Peenemünde, Erfinder der "Vergeltungswaffe" V2, bei deren Produktion KZ-Häftlinge eingesetzt wurden, von denen viele starben. Nach dem Krieg ging er nach Amerika. In einem 1960 von "This Week" veröffentlichten Artikel schrieb er: "Neulich hielt ich eine dieser After-Dinner Ansprachen, die für Raketenmänner im Moment unvermeidlich zu sein scheinen. Während der darauffolgenden Fragen und Antworten stand jemand auf und sagte: ,Warum sagen Sie uns das? Waren Sie nicht beteiligt an der Entwicklung der V2-Raketen, die im letzten Krieg auf London fielen?' Das Einzige, was ich antworten konnte, war, dass ich eine Diktatur überlebt habe und dass ich weder meine in Amerika geborenen Kinder noch die von anderen in einer anderen leben lassen will. Vielleicht hätte ich sagen sollen, dass man anscheinend durch das Fegefeuer gegangen sein muss, um den Himmel zu schätzen." Wernher, so Christina von Braun an die Großmutter, ist nicht durchs Fegefeuer gegangen. Andere wohl. "Kann man sich einfach das Leid, das anderen widerfahren ist, aneignen?"
Und ihre Fragen betreffen das Schicksal der aus Schlesien vertriebenen Großeltern väterlicherseits; ein Schicksal, für das sie sich bis zum Zeitpunkt ihrer Buchrecherchen wenig interessiert hatte - aufgrund des revanchistischen Tons der Vertriebenenverbände vor allem. Die überlieferten Familiendokumente jedoch verändern ihren Blick: "Beim Lesen ist mir klar geworden, was für ein Leid hier tatsächlich erfahren wurde - so unbestreitbar es bleibt, dass die, denen das Leid widerfuhr, auch an seiner Entstehung Anteil hatten."
Doch das alles ist noch nicht die "Stille Post". Denn diese kommt erst ins Spiel, wo es um die Mutter geht, die das Erbe ihrer eigenen Mutter verweigert, nicht antreten will, zu verdrängen sucht. Der Mutter-Tochter-Konflikt bestimmt auf diese Weise die Dynamik des ganzen Buches. Hildegard Margis, Christina von Brauns Großmutter, war in den zwanziger Jahren Frauenrechtlerin, leitete den Hausfrauenverband, hielt gut bezahlte Vorträge, sprach im Radio zu Themen wie "Was die Käuferin von heute wissen muss". Ihr Ehemann war im Ersten Weltkrieg gefallen, sie war alleinerziehende Mutter. Wegen Kontakten zum kommunistischen Widerstand wurde sie 1944 von der Gestapo verhaftet und starb im Gefängnis. Sie war "Halbjüdin", brachte ihren Sohn ins Ausland, kehrte - unfassbarerweise - aber nach Deutschland zurück.
Christina von Braun gegenüber erwähnte ihre Mutter diese jüdische Herkunft nie. Selbst als die Autorin sie, sehr spät, durch ihren Onkel in Erfahrung bringt, weigert sie sich, diese Frage zu thematisieren. Sie wollte dieses Wissen aus ihrer Erinnerung tilgen, ihre eigene jüdische Identität "vergessen", vielleicht auch, weil der Antisemitismus in der jungen Bundesrepublik noch zu tief verwurzelt war. Die Verweigerung, das Schweigen aber hat eine eigene Körpersprache. Es ist die Sprache der "Stillen Post", die sich auch in Krankheitssymptomen artikulierte, in Depressionen und Suizidversuchen, die zu der im Toilettentisch aufbewahrten Pistole zurückführen. Indem Christina von Braun diese Sprache zu entschlüsseln versucht, tritt sie das Erbe der Großmutter an.
Und vielleicht liegt darin auch ein großer Trost: Wenn die Überlebenden des Nationalsozialismus eines Tages gestorben sind, wird es, neben Akten und Dokumenten, immer noch auch diesen Schatz eines psychischen familiären Wissens geben, das sich über untergründige Kanäle mitteilt. Es ist ein vollkommen "unwissenschaftliches" Wissen - und doch gibt es keine Wissenschaft, die nicht von diesen geheimen, indirekten Botschaften leben würde. Christina von Braun führt uns vor, wie man mit dem ganz eigenen Alphabet dieser Sprache umgeht. Man wüsste am liebsten jetzt schon, was ihre Tochter dazu sagt.
Christina von Braun: "Stille Post". Eine andere Familiengeschichte. Propyläen Verlag, Berlin 2007. 416 S., geb., 22,- [Euro].
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Perlentaucher-Notiz zur ZEIT-Rezension
Beeindruckt und bewegt hat Rezensentin Susanne Meyer diese Familiengeschichte zur Seite gelegt, die nicht der manifesten männlichen Geschichtsschreibung der Familie von Braun, sondern der unterdrückten "stillen Post" ihrer Frauen folgt: also Mutter und Großmutter der Autorin. Da sich der umfasste Zeitraum auf die schlimmsten und bewegtesten Kapitel deutscher Geschichte erstreckt, gibt es auch viel zu erzählen: Nazis, jüdische Vorfahren, Widerstandskämpfer und schlesischer Adel laufen durchs Bild, darunter der Penemünder Rüstungsexperte Wernher von Braun, Mayer zufolge der Onkel der Autorin. Insgesamt fesselt sie diese subversive und hochpersönliche Form der Geschichtsschreibung vor allem deshalb, weil Meyer hier Figuren von "großer Überzeugungskraft" gefunden hat, die ihr einen historischen Zusammenhang in nie gekannter Intensität und Detailgenauigkeit erhellen konnten. Lediglich in einigen seltenen Fällen literarisch verirrter Tochterliebe musste die Rezensentin Kitschalarm geben.
© Perlentaucher Medien GmbH
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