Sarah und ihre Freundinnen spielen in den Schulpausen gerne Stille Post: Die Erste denkt sich etwas aus, flüstert es dem zweiten Mädchen ins Ohr, dieses flüstert es weiter, bis die Letzte in der Runde laut sagt, was sie verstanden hat. Das ist immer sehr lustig. Eines Tages kommt Anna neu in die Klasse, sie ist etwas still und schüchtern. Sarah lädt sie freundlich auf eine Runde Stille Post in die Gruppe ein. Ihre Fröhlichkeit verfliegt im Nu, als sie hört, was Anna ihr ins Ohr flüstert: "Mein Papa schlägt mich." Bis zum Ende der Flüsterrunde wird daraus "Peter trägt mich", und die anderen Mädchen lachen begeistert. Doch Sarah lässt das, was sie gehört hat, keine Ruhe mehr. Wie soll sie sich nur verhalten? Morten Dürrs sensible Erzählung setzt sich damit auseinander, wie Kinder den Mut finden können, über etwas zu sprechen, das ihnen Angst macht, und wie man sich Erwachsenen gegenüber Gehör verschafft. Peter Bay Alexandersens Schwarz-Weiß-Illustrationen geben den kleinen Protagonisten ausdrucksstarke Gesichter. "Stille Post" wird in Dänemark an vielen Schulen erfolgreich als Unterrichtslektüre eingesetzt.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 02.10.2010Und jetzt müssen wir laut werden
Auf der Suche nach dem ungeheueren ersten Satz: Morten Dürr spielt "Stille Post".
Von Elena Geus
Kinder spielen es begeistert, Erwachsene bedienen sich eher des Prinzips. Bei "Stille Post" entstehen beim Weiterflüstern von Gehörtem in bestem Sinne wunderbare Wortkettenkreationen, in schlechter Absicht wird mit dem Tratschen von Einem zum Nächsten und weiter zum Dritten ein Ruf ruiniert.
"Peter trägt mich" kommt am Schluss der Tuschelrunde von Anna, Sarah, Sophie, Alina, Maria und Johanna heraus. Was Anna, die stille Neue in der Klasse, zu Anfang in Sarahs Ohr raunt, kann diese nicht fassen: "Mein Papa schlägt mich." Vorbei ist der Spaß, weggeblasen das schöne Gefühl von Kitzeln im Ohr und warmem Atem an der Wange. Als die anderen lachend nach dem Ausgangssatz fragen, schweigen Anna und Sarah - die eine vor Scham, die andere vor Entsetzen.
In Morten Dürrs Buch macht ein einziger Satz aus unbeschwertem Spiel bittren Ernst. Nur vordergründig geht es um häusliche Gewalt, viel mehr um Vertrauen und um eine große Aufgabe: Ist jemand aus Angst fast verstummt, muss ein anderer die Stimme erheben. Dürr spielt geschickt mit der Mehrdeutigkeit des Begriffs "Stille Post" auch als Sinnbild für die Entstehung von Gerüchten. Kann ein nett lächelnder Vater wirklich ein Schläger sein? Viele Fragen stecken in dem schmalen Band, für Antworten bleibt angenehm Raum. Wie leise muss man bleiben, wenn ein Geheimnis gelüftet gehört? Und wie laut muss man brüllen, um Gehör zu finden? Beherzt und einfühlsam zeigt Dürr, wie Kinder mit dem gewaltigen Schrei umgehen, der sich hinter angstvollem Flüstern verbirgt.
Am Ende der letzten Tuschelkette heißt es "Der Putzlappen ist aufgeflogen." Über diesen Unsinn - mit ihm schließt sich der Kreis zum fröhlichen Sprachspiel - können alle Mädchen lachen. Selbst Anna, obwohl ihr Satz zu Beginn wiederum ein ernster war. Doch diesmal war es einer mit einer ausgesprochen guten Nachricht.
Morten Dürr: "Stille Post". Aus dem Dänischen von Norbert Reiter. Mit Illustrationen von Peter Bay Alexandersen. Picus Verlag, Wien 2010. 46 S., geb., 9,90 [Euro]. Ab 7 J.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Auf der Suche nach dem ungeheueren ersten Satz: Morten Dürr spielt "Stille Post".
Von Elena Geus
Kinder spielen es begeistert, Erwachsene bedienen sich eher des Prinzips. Bei "Stille Post" entstehen beim Weiterflüstern von Gehörtem in bestem Sinne wunderbare Wortkettenkreationen, in schlechter Absicht wird mit dem Tratschen von Einem zum Nächsten und weiter zum Dritten ein Ruf ruiniert.
"Peter trägt mich" kommt am Schluss der Tuschelrunde von Anna, Sarah, Sophie, Alina, Maria und Johanna heraus. Was Anna, die stille Neue in der Klasse, zu Anfang in Sarahs Ohr raunt, kann diese nicht fassen: "Mein Papa schlägt mich." Vorbei ist der Spaß, weggeblasen das schöne Gefühl von Kitzeln im Ohr und warmem Atem an der Wange. Als die anderen lachend nach dem Ausgangssatz fragen, schweigen Anna und Sarah - die eine vor Scham, die andere vor Entsetzen.
In Morten Dürrs Buch macht ein einziger Satz aus unbeschwertem Spiel bittren Ernst. Nur vordergründig geht es um häusliche Gewalt, viel mehr um Vertrauen und um eine große Aufgabe: Ist jemand aus Angst fast verstummt, muss ein anderer die Stimme erheben. Dürr spielt geschickt mit der Mehrdeutigkeit des Begriffs "Stille Post" auch als Sinnbild für die Entstehung von Gerüchten. Kann ein nett lächelnder Vater wirklich ein Schläger sein? Viele Fragen stecken in dem schmalen Band, für Antworten bleibt angenehm Raum. Wie leise muss man bleiben, wenn ein Geheimnis gelüftet gehört? Und wie laut muss man brüllen, um Gehör zu finden? Beherzt und einfühlsam zeigt Dürr, wie Kinder mit dem gewaltigen Schrei umgehen, der sich hinter angstvollem Flüstern verbirgt.
Am Ende der letzten Tuschelkette heißt es "Der Putzlappen ist aufgeflogen." Über diesen Unsinn - mit ihm schließt sich der Kreis zum fröhlichen Sprachspiel - können alle Mädchen lachen. Selbst Anna, obwohl ihr Satz zu Beginn wiederum ein ernster war. Doch diesmal war es einer mit einer ausgesprochen guten Nachricht.
Morten Dürr: "Stille Post". Aus dem Dänischen von Norbert Reiter. Mit Illustrationen von Peter Bay Alexandersen. Picus Verlag, Wien 2010. 46 S., geb., 9,90 [Euro]. Ab 7 J.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Für Rezensentin Elena Geus stößt das Flüsterspiel in diesem Buch von Morton Dürr viele Türen auf. Einmal wird es Ernst, da klingt das Thema der häuslichen Gewalt und der Angst an. Dann aber geht es darum, was es heißt, Vertrauen aufzubauen und für jemand anderes die Stimme zu erheben, und schließlich wird es sogar fröhlich. Wie Dürr mit heiklen Themen umgeht, findet Geus einfühlsam und beherzt zugleich. Gut gefällt ihr auch der Raum für Antworten, den der Autor den vielen Fragen in seinem Buch eröffnet.
© Perlentaucher Medien GmbH
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