Ästhetik trifft Unbehagen: einmalige Impressionen aus mehr als 60 Städten Eine Momentaufnahme berühmter Orte, die man so nicht kennt
* Ein Buch, das die Erinnerung an eine besondere Phase in der Geschichte der Menschheit bewahrt. Das London Eye im Stillstand, vor strahlend blauem Himmel. Venezianische Gondeln, schlafend unter Planen. Die Fontana di Trevi in Rom, Schloss Sanssouci in Potsdam, die Brooklyn Bridge in New York - alle menschenleer. Mitten am Tag. Der große Lockdown, der Menschen weltweit im Frühjahr und Sommer 2020 in ihre Wohnungen verbannte, hat solche Aufnahmen möglich gemacht. Sie fangen einerseits den Kontrast ein: von Orten, die sonst überfüllt, nun vereinsamt sind. Andererseits zeigen sie ästhetische Strukturen, die man sonst kaum wahrnehmen kann: die Symmetrie von Plätzen und Boulevards, die Schönheit eines unbelebten Sandstrands, die Harmonie von Fassaden, von keinen Werbebotschaften verstellt.
* Ein Buch, das die Erinnerung an eine besondere Phase in der Geschichte der Menschheit bewahrt. Das London Eye im Stillstand, vor strahlend blauem Himmel. Venezianische Gondeln, schlafend unter Planen. Die Fontana di Trevi in Rom, Schloss Sanssouci in Potsdam, die Brooklyn Bridge in New York - alle menschenleer. Mitten am Tag. Der große Lockdown, der Menschen weltweit im Frühjahr und Sommer 2020 in ihre Wohnungen verbannte, hat solche Aufnahmen möglich gemacht. Sie fangen einerseits den Kontrast ein: von Orten, die sonst überfüllt, nun vereinsamt sind. Andererseits zeigen sie ästhetische Strukturen, die man sonst kaum wahrnehmen kann: die Symmetrie von Plätzen und Boulevards, die Schönheit eines unbelebten Sandstrands, die Harmonie von Fassaden, von keinen Werbebotschaften verstellt.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 27.12.2020Für den Tisch Ein Mega-Event ist so etwas wie eine einmalige Sache, doch aus der Geschichte wissen wir leider, dass Ereignisse immer wiederkommen. Zum Beispiel Live Aid - das größte Spendensammelkonzert aller Zeiten, zum ersten Mal weltweit übertragen im Jahr 1985, kehrte 2005 lauwarm zurück. Oder die Mondlandung 1969. Die soll ja 2024 nun auch noch mal stattfinden. Was hoffentlich nicht so bald wiederkehrt, aber aus ästhetischen Gesichtspunkten natürlich ein Ereignis war, war der weltweite Lockdown im vergangenen Frühjahr. Städte waren plötzlich wie leergefegt, und Bilder gingen um die Welt, die an Szenen aus Filmen wie "Quiet Earth", den "Omega-Mann" oder Alfonso Cuarons "Children of Men" erinnerten. Doch während im Film "The Day The Earth Stood Still" Aliens für den Stillstand verantwortlich waren, blieb der Grund, ein Virus, fürs menschliche Auge unsichtbar.
Dafür sah man Dinge, die man so noch nie gesehen hatte. Die Bewohner der Region Punjab konnten seit langem erstmals wieder die Gipfel des Himalajas erkennen, die Bewohner der Stadt Venedig den Grund ihrer klaren Lagune. Unter dem Titel "Stille Städte" hat der Verlag teNeues nun eine Sammlung der eindrucksvollsten Bilder dieser Zeit zusammengestellt und herausgebracht. Es sind Fotografien von Profis, aber auch von Laien, und sie liefern eine eindrucksvolle Bestandsaufnahme einer verlassenen Welt, von Addis Abeba bis Zürich. So sieht Venedigs Uferpromenade mit einem Mal aus wie jede andere, die leere Karlsbrücke in Prag wirkt wie aus dem Jahr 1700, Lampions hängen nutzlos im leeren Chinatown in London. Und so viel Kopfsteinpflaster hat man in Dublins Viertel Temple Bar wohl lange nicht gesehen. "Wir wurden in unserem Lärm gestört," schreibt Programmleiter Pit Pauen in seinem Vorwort. Doch war es das, still? Oder war es nur eine andere Form von Stille, eine die man sehen konnte? Viele Bilder wirken heute verstörend und bedrückend, weil sie bedeuten, dass das Leben weg ist. Die Ästhetik der Abwesenheit ist so: ambivalent. Auf der einen Seite sieht man hier eine fällige Zäsur, ein Innehalten, ein Erdball umspannendes "Moment, mal". Auf der anderen Seite wütet im Hintergrund ein tödliches Virus, Menschen sterben, Existenzen werden ruiniert, je länger die Welt ihren sogenannten Atem anhalten muss.
Doch noch etwas wird beim Durchblättern des Buches sichtbar: Der freie Blick ist eine Seltenheit geworden. Reisende, die das Unberührte suchen, kennen dieses Dilemma. Man fährt in die Einsamkeit, und dann ist es da gar nicht idyllisch, weil da andere sind, die durchs Bild laufen, plappern und schmutzen. Im schlimmsten Fall sind es Busladungen von Touristen wie etwa in der kambodschanischen Tempelstadt Angkor Wat, in der früher jeden Tag unzählige fähnchenschwenkende Reisegruppen die uralten Ruinen befielen wie Ameisen einen Apfel.
Leute, die auf dem Land leben, wurden von dem Stillstand weniger aus dem Konzept gebracht als Städter. Für die waren diese Bilder ein Schock. Denn plötzlich war es da, das Unberührte, in der eigenen Stadt, im Bahnhof um die Ecke, vor der Tür. "So wird man diese Orte nie wieder sehen", heißt es im Buch. Und bei aller Ästhetik muss man auch sagen: hoffentlich.
"Stille Städte. Als die Welt den Atem anhielt", 192 Seiten, 150 Farbfotografien, Texte auf Deutsch und Englisch, teNeues Media, 19,90 Euro
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Dafür sah man Dinge, die man so noch nie gesehen hatte. Die Bewohner der Region Punjab konnten seit langem erstmals wieder die Gipfel des Himalajas erkennen, die Bewohner der Stadt Venedig den Grund ihrer klaren Lagune. Unter dem Titel "Stille Städte" hat der Verlag teNeues nun eine Sammlung der eindrucksvollsten Bilder dieser Zeit zusammengestellt und herausgebracht. Es sind Fotografien von Profis, aber auch von Laien, und sie liefern eine eindrucksvolle Bestandsaufnahme einer verlassenen Welt, von Addis Abeba bis Zürich. So sieht Venedigs Uferpromenade mit einem Mal aus wie jede andere, die leere Karlsbrücke in Prag wirkt wie aus dem Jahr 1700, Lampions hängen nutzlos im leeren Chinatown in London. Und so viel Kopfsteinpflaster hat man in Dublins Viertel Temple Bar wohl lange nicht gesehen. "Wir wurden in unserem Lärm gestört," schreibt Programmleiter Pit Pauen in seinem Vorwort. Doch war es das, still? Oder war es nur eine andere Form von Stille, eine die man sehen konnte? Viele Bilder wirken heute verstörend und bedrückend, weil sie bedeuten, dass das Leben weg ist. Die Ästhetik der Abwesenheit ist so: ambivalent. Auf der einen Seite sieht man hier eine fällige Zäsur, ein Innehalten, ein Erdball umspannendes "Moment, mal". Auf der anderen Seite wütet im Hintergrund ein tödliches Virus, Menschen sterben, Existenzen werden ruiniert, je länger die Welt ihren sogenannten Atem anhalten muss.
Doch noch etwas wird beim Durchblättern des Buches sichtbar: Der freie Blick ist eine Seltenheit geworden. Reisende, die das Unberührte suchen, kennen dieses Dilemma. Man fährt in die Einsamkeit, und dann ist es da gar nicht idyllisch, weil da andere sind, die durchs Bild laufen, plappern und schmutzen. Im schlimmsten Fall sind es Busladungen von Touristen wie etwa in der kambodschanischen Tempelstadt Angkor Wat, in der früher jeden Tag unzählige fähnchenschwenkende Reisegruppen die uralten Ruinen befielen wie Ameisen einen Apfel.
Leute, die auf dem Land leben, wurden von dem Stillstand weniger aus dem Konzept gebracht als Städter. Für die waren diese Bilder ein Schock. Denn plötzlich war es da, das Unberührte, in der eigenen Stadt, im Bahnhof um die Ecke, vor der Tür. "So wird man diese Orte nie wieder sehen", heißt es im Buch. Und bei aller Ästhetik muss man auch sagen: hoffentlich.
"Stille Städte. Als die Welt den Atem anhielt", 192 Seiten, 150 Farbfotografien, Texte auf Deutsch und Englisch, teNeues Media, 19,90 Euro
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