Produktdetails
- suhrkamp taschenbuch 3419
- Verlag: Suhrkamp
- Originaltitel: Still Life
- Seitenzahl: 489
- Deutsch
- Abmessung: 25mm x 107mm x 175mm
- Gewicht: 296g
- ISBN-13: 9783518399194
- ISBN-10: 3518399195
- Artikelnr.: 10288633
- Herstellerkennzeichnung Die Herstellerinformationen sind derzeit nicht verfügbar.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 25.03.2000Die Zufriedenheit der blauen Kanne
Antonia Byatt nimmt es mit Leinwandfarben auf · Von Annette Pehnt
In der dunstigen, weichen Luft verschwimmen die Gestalten auf dem Strand zu hellen Flecken. Sie lagern im Sand auf flimmernd grünen und amselblauen Handtüchern. Man isst Kräuteromeletts und geriffelte Melonen, redet wenig. Gleich wird die Handlung wieder in Gang kommen, die kleine Austauschschülerin Frederica wird zur Gruppe stoßen in ihrem geblümten Strandkleid und ihren Gesundheitsschuhen und wird unter den versammelten Bohemiens herablassende Aufmerksamkeit erregen. Aber noch ist das Bild gefroren, die Komposition wird in der Schwebe gehalten, solange es die Sprache erlaubt.
Niemals könne ein Schreibender jenes Entzücken einfangen, das in einem Maler ein neues Licht erzeuge, schreibt Antonia Byatt in ihrem erst jetzt ausgezeichnet ins Deutsche übersetzten Roman "Stilleben". Und doch ist das Buch durchdrungen von dem Verlangen, Licht und Farbe mit dem Wort einzuholen. Immer wieder erstarrt die Handlung in Stilleben: ein Beistelltisch mit einer blauen Emaillekanne, Pflaumen und Zitronen auf dem Tischtuch, ein geröstetes Zicklein im ölgelben Sud, ein Strauß Schwertlilien. In solchen Momenten erscheinen die Figuren wie Beiwerk, verwaschen im Hintergrund dieses großen Wettstreites der Künste.
"Stilleben" ist eine Studie über die Möglichkeiten und Grenzen der Sprache, aufmerksam durchgeführt, ständig seine Entstehung mitbedenkend. Zugleich bleibt dieser Roman aber auch - wie sein Vorgänger "Die Jungfrau im Garten" und der noch nicht übersetzte Nachfolger "Babel Tower" von 1996 - eine breit erzählte Familiensaga, die ohne Scheu vor Drastik und Leidenschaft ausgesprochen lesbar dahinfließt. "Als ich diesen Roman zu schreiben begann", schildert Byatt ihr Dilemma bei der Arbeit, "hatte ich die Vorstellung von einem Roman des Benennens und der Genauigkeit. Ich spielte sogar mit dem Gedanken, auf sprachliche Bilder zu verzichten, musste dieses Vorhaben aber aufgeben." Byatt mag ihr Vorhaben nicht so verwirklicht haben, wie es ihr vorschwebte. Aber gerade in seiner Genauigkeit gelingt "Stilleben" als großer Roman des Benennens.
Seine Spannung verdankt er dem Tatendrang der Figuren, die sich in die sorgfältig entworfenen Stilleben hineindrängen. Nebelig überhaucht schimmern die Pflaumen auf dem Frühstückstisch, aber dort sitzen auch der Dichter Alexander und seine Geliebte; die Geschichte durfte verharren, aber nun braucht sie Bewegung. Alexander arbeitet an einem Stück über van Gogh, dessen Briefe und Bilder als Hintergrund leuchten, vor dem sich alle Figuren bewegen. Er gehört zu der Gruppe von Freunden um die drei Geschwister Frederica, Stephanie und Marcus, die sich im England der fünfziger Jahren ihren Platz suchen. Frederica forscht in Südfrankreich unter van Goghs Olivenbäumen nach einer Freiheit, die sich ihr auch in Cambridge nur in Andeutungen preisgibt und mit dem Rausch der Gelehrsamkeit, den schlanken Händen ihres Literaturprofessors und einem vorsichtigen Aufbegehren gegen Sittsamkeit und Blutleere zu tun hat.
Stephanie hat sich anders entschieden, pflanzt im Pfarrgarten Radieschen und unterwirft sich dem Alltag: Sie leidet unter der Nähe der Schwiegermutter und dem verzweifelten Schweigen ihres psychisch gestörten Bruders Marcus, der sich jedoch allmählich mit dem Wissensdurst eines Naturwissenschaftlers die Wirklichkeit zurückholt. Stephanie dagegen scheint im alltäglichen Geben, beim Kochen, Wickeln, Zuhören und Trösten allmählich zu zerfasern, obwohl sich zwischen Blumengießen und Katzenfutter immer wieder zerbrechliche Momente von Sinnhaftigkeit einstellen, die bei Stephanie stark mit Lektüreerfahrungen verknüpft sind.
In mancher Hinsicht sind Frederica, Marcus, auch Stephanie Elemente eines groß angelegten Forschungsprojektes zum Verhältnis von Kunst und Leben. Tatsächlich wird die Erzählerin in den schwächeren Passagen des Romans nicht müde, ihre Fallbeispiele auszuwerten und in kleinen Essays abzuhandeln, die einer feldforschenden Soziologin zur Ehre gereichen würden. Zwar gehört das Innehalten zum Programm dieses Romans, aber manchmal gerät die strenge Erzählerin dabei auf Abwege. Leser ihres Erfolgsromans "Besessen", der mit der Spannung eines Literaturthrillers arbeitet, dürften auf Ausschweifungen zum Falkland-Krieg, zur Goethischen Urpflanze, zum englischen Nationalcharakter oder zur Umzäunung von Stonehenge eher irritiert reagieren.
Zu hoch thront die Erzählerin in solchen Momenten über dem Geschehen, verdächtig unantastbar scheint ihre Anordnung, die sie doch an anderer Stelle als Probelauf, als ein gleichsam offenes Verfahren beschreibt. Und die zum Glück immer wieder in Vergessenheit gerät, wenn die Geschwister ihren Bildungswegen nachgehen. Vor allem Stephanies Existenz, in ihrer Häuslichkeit besonders unspektakulär, ist mit unsentimentaler Eindringlichkeit erzählt, einer Sorgfalt, die Nudelkochen, Wehen und Kindertrotz genauso präzise vorzeigt wie Alexanders Wahrnehmungstheorie oder Fredericas Liebesnächte.
Cézanne, sagt Fredericas umschwärmter Literaturprofessor, und in diesem Moment rückt sie von ihm ab, sei es gelungen, die Welt zu malen mit der Geste "Hier ist es". Van Gogh habe diese Selbstlosigkeit nie erreichen können, "ich liebe es" habe er stattdessen malen müssen. Der Professor hält van Gogh für gescheitert. Auch Antonia Byatt ist am "Hier ist es" gescheitert und hat dabei gewonnen. Dank des Prologs wissen wir, wer überleben wird. Die nächste Versuchsreihe ist bereits in Arbeit.
Antonia S. Byatt: "Stilleben". Roman. Insel Verlag, Frankfurt am Main, Leipzig 2000. 489 S., geb., 49,80 DM.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Antonia Byatt nimmt es mit Leinwandfarben auf · Von Annette Pehnt
In der dunstigen, weichen Luft verschwimmen die Gestalten auf dem Strand zu hellen Flecken. Sie lagern im Sand auf flimmernd grünen und amselblauen Handtüchern. Man isst Kräuteromeletts und geriffelte Melonen, redet wenig. Gleich wird die Handlung wieder in Gang kommen, die kleine Austauschschülerin Frederica wird zur Gruppe stoßen in ihrem geblümten Strandkleid und ihren Gesundheitsschuhen und wird unter den versammelten Bohemiens herablassende Aufmerksamkeit erregen. Aber noch ist das Bild gefroren, die Komposition wird in der Schwebe gehalten, solange es die Sprache erlaubt.
Niemals könne ein Schreibender jenes Entzücken einfangen, das in einem Maler ein neues Licht erzeuge, schreibt Antonia Byatt in ihrem erst jetzt ausgezeichnet ins Deutsche übersetzten Roman "Stilleben". Und doch ist das Buch durchdrungen von dem Verlangen, Licht und Farbe mit dem Wort einzuholen. Immer wieder erstarrt die Handlung in Stilleben: ein Beistelltisch mit einer blauen Emaillekanne, Pflaumen und Zitronen auf dem Tischtuch, ein geröstetes Zicklein im ölgelben Sud, ein Strauß Schwertlilien. In solchen Momenten erscheinen die Figuren wie Beiwerk, verwaschen im Hintergrund dieses großen Wettstreites der Künste.
"Stilleben" ist eine Studie über die Möglichkeiten und Grenzen der Sprache, aufmerksam durchgeführt, ständig seine Entstehung mitbedenkend. Zugleich bleibt dieser Roman aber auch - wie sein Vorgänger "Die Jungfrau im Garten" und der noch nicht übersetzte Nachfolger "Babel Tower" von 1996 - eine breit erzählte Familiensaga, die ohne Scheu vor Drastik und Leidenschaft ausgesprochen lesbar dahinfließt. "Als ich diesen Roman zu schreiben begann", schildert Byatt ihr Dilemma bei der Arbeit, "hatte ich die Vorstellung von einem Roman des Benennens und der Genauigkeit. Ich spielte sogar mit dem Gedanken, auf sprachliche Bilder zu verzichten, musste dieses Vorhaben aber aufgeben." Byatt mag ihr Vorhaben nicht so verwirklicht haben, wie es ihr vorschwebte. Aber gerade in seiner Genauigkeit gelingt "Stilleben" als großer Roman des Benennens.
Seine Spannung verdankt er dem Tatendrang der Figuren, die sich in die sorgfältig entworfenen Stilleben hineindrängen. Nebelig überhaucht schimmern die Pflaumen auf dem Frühstückstisch, aber dort sitzen auch der Dichter Alexander und seine Geliebte; die Geschichte durfte verharren, aber nun braucht sie Bewegung. Alexander arbeitet an einem Stück über van Gogh, dessen Briefe und Bilder als Hintergrund leuchten, vor dem sich alle Figuren bewegen. Er gehört zu der Gruppe von Freunden um die drei Geschwister Frederica, Stephanie und Marcus, die sich im England der fünfziger Jahren ihren Platz suchen. Frederica forscht in Südfrankreich unter van Goghs Olivenbäumen nach einer Freiheit, die sich ihr auch in Cambridge nur in Andeutungen preisgibt und mit dem Rausch der Gelehrsamkeit, den schlanken Händen ihres Literaturprofessors und einem vorsichtigen Aufbegehren gegen Sittsamkeit und Blutleere zu tun hat.
Stephanie hat sich anders entschieden, pflanzt im Pfarrgarten Radieschen und unterwirft sich dem Alltag: Sie leidet unter der Nähe der Schwiegermutter und dem verzweifelten Schweigen ihres psychisch gestörten Bruders Marcus, der sich jedoch allmählich mit dem Wissensdurst eines Naturwissenschaftlers die Wirklichkeit zurückholt. Stephanie dagegen scheint im alltäglichen Geben, beim Kochen, Wickeln, Zuhören und Trösten allmählich zu zerfasern, obwohl sich zwischen Blumengießen und Katzenfutter immer wieder zerbrechliche Momente von Sinnhaftigkeit einstellen, die bei Stephanie stark mit Lektüreerfahrungen verknüpft sind.
In mancher Hinsicht sind Frederica, Marcus, auch Stephanie Elemente eines groß angelegten Forschungsprojektes zum Verhältnis von Kunst und Leben. Tatsächlich wird die Erzählerin in den schwächeren Passagen des Romans nicht müde, ihre Fallbeispiele auszuwerten und in kleinen Essays abzuhandeln, die einer feldforschenden Soziologin zur Ehre gereichen würden. Zwar gehört das Innehalten zum Programm dieses Romans, aber manchmal gerät die strenge Erzählerin dabei auf Abwege. Leser ihres Erfolgsromans "Besessen", der mit der Spannung eines Literaturthrillers arbeitet, dürften auf Ausschweifungen zum Falkland-Krieg, zur Goethischen Urpflanze, zum englischen Nationalcharakter oder zur Umzäunung von Stonehenge eher irritiert reagieren.
Zu hoch thront die Erzählerin in solchen Momenten über dem Geschehen, verdächtig unantastbar scheint ihre Anordnung, die sie doch an anderer Stelle als Probelauf, als ein gleichsam offenes Verfahren beschreibt. Und die zum Glück immer wieder in Vergessenheit gerät, wenn die Geschwister ihren Bildungswegen nachgehen. Vor allem Stephanies Existenz, in ihrer Häuslichkeit besonders unspektakulär, ist mit unsentimentaler Eindringlichkeit erzählt, einer Sorgfalt, die Nudelkochen, Wehen und Kindertrotz genauso präzise vorzeigt wie Alexanders Wahrnehmungstheorie oder Fredericas Liebesnächte.
Cézanne, sagt Fredericas umschwärmter Literaturprofessor, und in diesem Moment rückt sie von ihm ab, sei es gelungen, die Welt zu malen mit der Geste "Hier ist es". Van Gogh habe diese Selbstlosigkeit nie erreichen können, "ich liebe es" habe er stattdessen malen müssen. Der Professor hält van Gogh für gescheitert. Auch Antonia Byatt ist am "Hier ist es" gescheitert und hat dabei gewonnen. Dank des Prologs wissen wir, wer überleben wird. Die nächste Versuchsreihe ist bereits in Arbeit.
Antonia S. Byatt: "Stilleben". Roman. Insel Verlag, Frankfurt am Main, Leipzig 2000. 489 S., geb., 49,80 DM.
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