Entgegen den aktuellen kulturwissenschaftlichen Ansätzen, die sich einseitig am Phänomen der Schrift oder an Bild oder Bildmedien orientieren, ist das Buch von Reinhart Meyer-Kalkus ein Plädoyer zugunsten der klanglich-musikalischen Dimension der Sprache und der Sprechkünste.
Es erschließt eine weitverzweigte Diskussion in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, die in Literatur- und Theaterwissenschaft, in Psychologie, Sprachwissenschaft und Ästhetik geführt und durch die neuen Medien Telefon, Schallplatte, Radio und Tonfilm stimuliert wurde.
"Reinhart Meyer-Kalkus, Koordinator am Wissenschaftskolleg zu Berlin, hat ein wunderbares Buch zur Geschichte der Stimme verfasst. (...)
Wer jemals Zweifel hatte, ob Geisteswissenschaften 'gesellschaftsrelevantes' Wissen zu produzieren vermögen (...), der wird durch Reinhart Meyer-Kalkus mit Nachdruck eines Besseren belehrt. Solche Wissenschaft wird niemand missen wollen: Sie hat den 'Sitz im Leben' und geht doch keine schlechten Kompromisse ein nach Inhalt und Darstellungsform."
(Daniel Krause, www.klassik.com)
Hinweis: Dieser Artikel kann nur an eine deutsche Lieferadresse ausgeliefert werden.
Es erschließt eine weitverzweigte Diskussion in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, die in Literatur- und Theaterwissenschaft, in Psychologie, Sprachwissenschaft und Ästhetik geführt und durch die neuen Medien Telefon, Schallplatte, Radio und Tonfilm stimuliert wurde.
"Reinhart Meyer-Kalkus, Koordinator am Wissenschaftskolleg zu Berlin, hat ein wunderbares Buch zur Geschichte der Stimme verfasst. (...)
Wer jemals Zweifel hatte, ob Geisteswissenschaften 'gesellschaftsrelevantes' Wissen zu produzieren vermögen (...), der wird durch Reinhart Meyer-Kalkus mit Nachdruck eines Besseren belehrt. Solche Wissenschaft wird niemand missen wollen: Sie hat den 'Sitz im Leben' und geht doch keine schlechten Kompromisse ein nach Inhalt und Darstellungsform."
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 04.12.2001Wie die Stimme, so der Mensch
Wegweisend: Reinhart Meyer-Kalkus legt das Ohr an die Sprechkunst / Von Michael Adrian
Daß wir einen Menschen in hohem Maße anhand seiner Stimme und Sprechweise einschätzen, gehört zu den alltäglichen Erfahrungen. Doch in den geläufigen Selbstbeschreibungen unserer Kultur kommt diese Dimension unserer Stimmenhörigkeit kaum vor. Ob von der Medienkultur oder der Kunst der Gegenwart die Rede ist, stets schwimmen die Assoziationen auf einem Strom von Begriffen wie Schrift, Zeichen, Differenz, Fragment, Bild oder Symbol. Dieses eigenartige Mißverhältnis hat der Berliner Germanist Reinhart Meyer-Kalkus zum Anlaß genommen, hinter die gegenwärtigen Diskursvorgaben zurückzugehen und die wissenschaftliche, literarisch-künstlerische und kulturkritische Beschäftigung mit "Stimme und Sprechkünsten im zwanzigsten Jahrhundert" historisch und systematisch aufzuarbeiten. In einläßlichen Rekonstruktionen bemüht sich die Habilitationsschrift, Materialien zu einer "historischen Anthropologie der Stimme" zu versammeln.
Mitte des neunzehnten Jahrhunderts entsteht in Europa und den Vereinigten Staaten die Phonetik, die Lehre von der lautlichen Seite der Sprache. In Deutschland kommt es dabei zu einem phonetischen Sonderweg: Ästhetische Vorstellungen aus der Goethezeit, die im Kunstwerk den Ausdruck innerer Erlebnisse sehen, verbinden sich im letzten Drittel des Jahrhunderts mit der Ausdruckspsychologie, wie sie etwa Wilhelm Wundt einflußreich vertrat. Wundt ging von einem strengen "Psychophysikalismus" aus, demzufolge jede körperliche Ausdrucksgeste eine geistige Entsprechung besitze, und umgekehrt. Beide Denkfiguren kommen einem physiognomischen Denken entgegen, das sich bald auch in Charakterologien, Typologien und Völkerpsychologien - bis hin zur "Rassenkunde" - ausprägen sollte.
Auch die Philologie sollte von der neuen Lautforschung nicht unberührt bleiben. Eduard Sievers, einer der einflußreichen Pioniere der Phonetik, wollte der Augen- eine Ohrenphilologie an die Seite stellen und das psychophysikalische Paradigma auf die Literaturforschung ausdehnen. Seine "Schallanalysen" verbanden sich dabei mit der Vorstellung, stimmlichen Charakteristika lägen bestimmte Körperhaltungen und Muskelspannungen zugrunde. Beim lauten Lesen eines Gedichtes nun müsse man zu "Stimmfreiheit", also einem ungehemmten und unangespannten Vortrag kommen. Auf diese Weise beanspruchte Sievers nicht nur, objektive rhythmische und melodische Eigenschaften eines jeden Textes herausarbeiten und gar in der Überlieferung korrumpierte Passagen isolieren zu können. Gemäß der ausdrucksästhetischen Grundvorstellung glaubte er auch, die ursprüngliche Stimme des Verfassers wiederzufinden: die Autorenintention im Klanglabor. Und so lernen wir, daß Goethe, das "Weltgenie der Taktfühlkurve", mit nicht weniger als drei Stimmen schrieb, zwei Stimmtypen seiner Mutter und einem seines Vaters.
Mit dem Modell von innerem geistigem Zustand und dessen äußerem Ausdruck bricht Karl Bühler, der in seiner Sprachtheorie den Ausdruck subjektiver Zustände um den Appell an einen Adressaten und die Darstellung von Sachverhalten erweitert. Gleichwohl wird die physiognomische Ausdrucksebene der Sprache nicht verabschiedet: Im Mai 1929 läßt Bühler in Radio Wien neun verschiedene Sprecher Schillers Ballade "Der Graf von Habsburg" vorlesen; die Hörer des Senders sollen nun Angaben über Alter, Aussehen, Typ und Beruf der Vortragenden machen. Im Ergebnis stellt Bühler eine das Wahrscheinlichkeitsmaß übersteigende hohe Trefferquote fest. Interessant an solchen Versuchen ist für Meyer-Kalkus, daß die physiognomische Wahrnehmung mit den neuen Medien, die sich wie Radio und Stummfilm zunächst nur an einzelne Sinne richten, nicht an ihr Ende kommt. Weit davon entfernt, der "wilden Hermeneutik" der Physiognomie den Garaus zu bereiten, provoziert die "suspendierte Koexpressivität" - also das mediale Auseinanderreißen des Zusammenspiels der Sinne - vielmehr eine Beschleunigung reflexhaften physiognomischen Urteilens.
Es ist diese Dialektik zwischen sich wandelnden medialen und kulturellen Bedingungen und den Schicksalen der Stimme, die im Kern der Untersuchung steht. Wie Meyer-Kalkus zeigt, entwickeln sich gerade unter den Bedingungen der Schriftkultur die Sprechkünste. Nicht mehr in erster Linie der Unterrichtung der Leseunkundigen dienend, konnte das Vortragen zu einer eigenen Kunstform gemacht und die Musikalität der Sprache ins Zentrum gerückt werden. In einem äußerst materialreichen Kapitel verfolgt der Autor die Sprechstile und künstlerischen Sprachexperimente im zwanzigsten Jahrhundert. Deren Ausgangspunkt sieht er in der Kritik der Aufklärung an der zuvor verbindlichen rhetorischen Sprachkultur des französischen Adels. An ihre Stelle treten Vortrag, Rezitation, Deklamation der neueren deutschen Dichtung - Vortragsweisen, die akribisch voneinander unterschieden werden. Auf der Bühne, in Lesegesellschaften, beim lauten Deklamieren deutscher Dichtung in der Schule bildet sich im Lauf des neunzehnten Jahrhunderts eine Bühnenaussprache aus, an deren Anerkennung als deutsche Hochsprache übrigens Eduard Sievers beteiligt war.
Auch die Vielzahl vokaler Experimente, die zwischen 1890 und 1930 im deutschen Sprachraum durchgeführt wurden, kreiste um die Musikalität und die Physiognomik der Stimme. Der ruckhaft-moderne, nervös-realistische Vortragsstil des österreichischen Schauspielers und Rezitators Josef Kainz, der eine ganze Generation in Bann schlug, trug den Deklamationsstil der deutschen Klassik zu Grabe und gab der Bühnenrede "die Unterlage des deutlich sichtbaren psycho-physiologischen Trieblebens" zurück, wie ein Zeitgenosse formulierte. Wachsplattenaufnahmen aus Kainz' späten Jahren charakterisiert Meyer-Kalkus aus heutiger Sicht als "emphatisch-pathetisch und singend-hysterisch". Nicht nur die historischen Erfahrungen lassen gerade Kainz' Pathos als spezifisch unmodern erscheinen. Auch die Entwicklung von Radio, Lautsprecher und Mikrophon holte die Stimmen ans Ohr und machte eine laute, raumfüllende Vortragsweise hinfällig. Radiotheorien wie die von Arnheim, Brecht und Benjamin, die auf den "physiognomischen Ernstfall" - die vokale Großaufnahme - reagieren, diskutiert Meyer-Kalkus folglich ebenso wie die vom Tonfilm ausgelösten filmästhetischen Umschwünge.
Der Berliner Sturmkreis, Hugo Ball mit seiner dadaistischen Lautpoesie und Kurt Schwitters mit seiner Ursonate wiederum bemühten sich, in "absoluten Lautdichtungen" die Musikalität der Sprache jenseits der Grenzen von Sinn und Grammatik hervorzutreiben. Allerlei Mystisches sollte bei Ball hinter dem von der "Großstadtvokabel" befreiten Lautspiel vernehmbar werden. Einen Einfluß der Sprechkunstbewegung um 1910, ihrer Prägung der "Sprechmelodie" und der Unterscheidung zwischen Sing- und Sprechstimme verzeichnet Meyer-Kalkus auch auf Schönbergs Versuch, im "Pierrot Lunaire" das "Triebleben der Klänge" (Adorno) zu Gehör zu bringen.
Die Coda dieses überaus anregenden, verweis- und fußnotenreichen Buches bildet ein instruktives Kapitel zu Lacans "Triebtheorie der Stimme" und Roland Barthes' Vorliebe für die französische "vokalische" Gesangsstimme seines Gesanglehrers Charles Panzéra, die er mit einer dezidierten Ablehnung des "konsonantisch" artikulierten Gesangs Dietrich Fischer-Dieskaus verband. Ein Beleg, notiert der Autor, daß die physiognomische Stimmwahrnehmung immer auch eine erotische Dimension aufweist, daß Liebe, Haß oder Gleichgültigkeit mitschwingen, wenn unser Ohr in Schwingung gerät. Den Rousseauschen Topos des Niedergangs einer ursprünglichen vokalischen Musikalität in der Moderne macht sich Reinhart Meyer-Kalkus dabei so wenig zu eigen wie den vom Verfall der Beredsamkeit. Vielmehr, so scheint sein Buch zwischen den Zeilen sagen zu wollen, haben diese seit der Aufklärung virulenten Klagen die Wahrnehmung der Vielfalt und Lebendigkeit des "scheinbar anachronistischen Massenmediums der Stimme" eher verhindert. Daß sie daran zu rütteln vermöchte, ist der wegweisenden Studie von Herzen zu wünschen.
Reinhart Meyer-Kalkus: "Stimme und Sprechkünste im 20. Jahrhundert". Akademie Verlag, Berlin 2001. VII, 508 S., 25 Abb., geb., 87,62 DM.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Wegweisend: Reinhart Meyer-Kalkus legt das Ohr an die Sprechkunst / Von Michael Adrian
Daß wir einen Menschen in hohem Maße anhand seiner Stimme und Sprechweise einschätzen, gehört zu den alltäglichen Erfahrungen. Doch in den geläufigen Selbstbeschreibungen unserer Kultur kommt diese Dimension unserer Stimmenhörigkeit kaum vor. Ob von der Medienkultur oder der Kunst der Gegenwart die Rede ist, stets schwimmen die Assoziationen auf einem Strom von Begriffen wie Schrift, Zeichen, Differenz, Fragment, Bild oder Symbol. Dieses eigenartige Mißverhältnis hat der Berliner Germanist Reinhart Meyer-Kalkus zum Anlaß genommen, hinter die gegenwärtigen Diskursvorgaben zurückzugehen und die wissenschaftliche, literarisch-künstlerische und kulturkritische Beschäftigung mit "Stimme und Sprechkünsten im zwanzigsten Jahrhundert" historisch und systematisch aufzuarbeiten. In einläßlichen Rekonstruktionen bemüht sich die Habilitationsschrift, Materialien zu einer "historischen Anthropologie der Stimme" zu versammeln.
Mitte des neunzehnten Jahrhunderts entsteht in Europa und den Vereinigten Staaten die Phonetik, die Lehre von der lautlichen Seite der Sprache. In Deutschland kommt es dabei zu einem phonetischen Sonderweg: Ästhetische Vorstellungen aus der Goethezeit, die im Kunstwerk den Ausdruck innerer Erlebnisse sehen, verbinden sich im letzten Drittel des Jahrhunderts mit der Ausdruckspsychologie, wie sie etwa Wilhelm Wundt einflußreich vertrat. Wundt ging von einem strengen "Psychophysikalismus" aus, demzufolge jede körperliche Ausdrucksgeste eine geistige Entsprechung besitze, und umgekehrt. Beide Denkfiguren kommen einem physiognomischen Denken entgegen, das sich bald auch in Charakterologien, Typologien und Völkerpsychologien - bis hin zur "Rassenkunde" - ausprägen sollte.
Auch die Philologie sollte von der neuen Lautforschung nicht unberührt bleiben. Eduard Sievers, einer der einflußreichen Pioniere der Phonetik, wollte der Augen- eine Ohrenphilologie an die Seite stellen und das psychophysikalische Paradigma auf die Literaturforschung ausdehnen. Seine "Schallanalysen" verbanden sich dabei mit der Vorstellung, stimmlichen Charakteristika lägen bestimmte Körperhaltungen und Muskelspannungen zugrunde. Beim lauten Lesen eines Gedichtes nun müsse man zu "Stimmfreiheit", also einem ungehemmten und unangespannten Vortrag kommen. Auf diese Weise beanspruchte Sievers nicht nur, objektive rhythmische und melodische Eigenschaften eines jeden Textes herausarbeiten und gar in der Überlieferung korrumpierte Passagen isolieren zu können. Gemäß der ausdrucksästhetischen Grundvorstellung glaubte er auch, die ursprüngliche Stimme des Verfassers wiederzufinden: die Autorenintention im Klanglabor. Und so lernen wir, daß Goethe, das "Weltgenie der Taktfühlkurve", mit nicht weniger als drei Stimmen schrieb, zwei Stimmtypen seiner Mutter und einem seines Vaters.
Mit dem Modell von innerem geistigem Zustand und dessen äußerem Ausdruck bricht Karl Bühler, der in seiner Sprachtheorie den Ausdruck subjektiver Zustände um den Appell an einen Adressaten und die Darstellung von Sachverhalten erweitert. Gleichwohl wird die physiognomische Ausdrucksebene der Sprache nicht verabschiedet: Im Mai 1929 läßt Bühler in Radio Wien neun verschiedene Sprecher Schillers Ballade "Der Graf von Habsburg" vorlesen; die Hörer des Senders sollen nun Angaben über Alter, Aussehen, Typ und Beruf der Vortragenden machen. Im Ergebnis stellt Bühler eine das Wahrscheinlichkeitsmaß übersteigende hohe Trefferquote fest. Interessant an solchen Versuchen ist für Meyer-Kalkus, daß die physiognomische Wahrnehmung mit den neuen Medien, die sich wie Radio und Stummfilm zunächst nur an einzelne Sinne richten, nicht an ihr Ende kommt. Weit davon entfernt, der "wilden Hermeneutik" der Physiognomie den Garaus zu bereiten, provoziert die "suspendierte Koexpressivität" - also das mediale Auseinanderreißen des Zusammenspiels der Sinne - vielmehr eine Beschleunigung reflexhaften physiognomischen Urteilens.
Es ist diese Dialektik zwischen sich wandelnden medialen und kulturellen Bedingungen und den Schicksalen der Stimme, die im Kern der Untersuchung steht. Wie Meyer-Kalkus zeigt, entwickeln sich gerade unter den Bedingungen der Schriftkultur die Sprechkünste. Nicht mehr in erster Linie der Unterrichtung der Leseunkundigen dienend, konnte das Vortragen zu einer eigenen Kunstform gemacht und die Musikalität der Sprache ins Zentrum gerückt werden. In einem äußerst materialreichen Kapitel verfolgt der Autor die Sprechstile und künstlerischen Sprachexperimente im zwanzigsten Jahrhundert. Deren Ausgangspunkt sieht er in der Kritik der Aufklärung an der zuvor verbindlichen rhetorischen Sprachkultur des französischen Adels. An ihre Stelle treten Vortrag, Rezitation, Deklamation der neueren deutschen Dichtung - Vortragsweisen, die akribisch voneinander unterschieden werden. Auf der Bühne, in Lesegesellschaften, beim lauten Deklamieren deutscher Dichtung in der Schule bildet sich im Lauf des neunzehnten Jahrhunderts eine Bühnenaussprache aus, an deren Anerkennung als deutsche Hochsprache übrigens Eduard Sievers beteiligt war.
Auch die Vielzahl vokaler Experimente, die zwischen 1890 und 1930 im deutschen Sprachraum durchgeführt wurden, kreiste um die Musikalität und die Physiognomik der Stimme. Der ruckhaft-moderne, nervös-realistische Vortragsstil des österreichischen Schauspielers und Rezitators Josef Kainz, der eine ganze Generation in Bann schlug, trug den Deklamationsstil der deutschen Klassik zu Grabe und gab der Bühnenrede "die Unterlage des deutlich sichtbaren psycho-physiologischen Trieblebens" zurück, wie ein Zeitgenosse formulierte. Wachsplattenaufnahmen aus Kainz' späten Jahren charakterisiert Meyer-Kalkus aus heutiger Sicht als "emphatisch-pathetisch und singend-hysterisch". Nicht nur die historischen Erfahrungen lassen gerade Kainz' Pathos als spezifisch unmodern erscheinen. Auch die Entwicklung von Radio, Lautsprecher und Mikrophon holte die Stimmen ans Ohr und machte eine laute, raumfüllende Vortragsweise hinfällig. Radiotheorien wie die von Arnheim, Brecht und Benjamin, die auf den "physiognomischen Ernstfall" - die vokale Großaufnahme - reagieren, diskutiert Meyer-Kalkus folglich ebenso wie die vom Tonfilm ausgelösten filmästhetischen Umschwünge.
Der Berliner Sturmkreis, Hugo Ball mit seiner dadaistischen Lautpoesie und Kurt Schwitters mit seiner Ursonate wiederum bemühten sich, in "absoluten Lautdichtungen" die Musikalität der Sprache jenseits der Grenzen von Sinn und Grammatik hervorzutreiben. Allerlei Mystisches sollte bei Ball hinter dem von der "Großstadtvokabel" befreiten Lautspiel vernehmbar werden. Einen Einfluß der Sprechkunstbewegung um 1910, ihrer Prägung der "Sprechmelodie" und der Unterscheidung zwischen Sing- und Sprechstimme verzeichnet Meyer-Kalkus auch auf Schönbergs Versuch, im "Pierrot Lunaire" das "Triebleben der Klänge" (Adorno) zu Gehör zu bringen.
Die Coda dieses überaus anregenden, verweis- und fußnotenreichen Buches bildet ein instruktives Kapitel zu Lacans "Triebtheorie der Stimme" und Roland Barthes' Vorliebe für die französische "vokalische" Gesangsstimme seines Gesanglehrers Charles Panzéra, die er mit einer dezidierten Ablehnung des "konsonantisch" artikulierten Gesangs Dietrich Fischer-Dieskaus verband. Ein Beleg, notiert der Autor, daß die physiognomische Stimmwahrnehmung immer auch eine erotische Dimension aufweist, daß Liebe, Haß oder Gleichgültigkeit mitschwingen, wenn unser Ohr in Schwingung gerät. Den Rousseauschen Topos des Niedergangs einer ursprünglichen vokalischen Musikalität in der Moderne macht sich Reinhart Meyer-Kalkus dabei so wenig zu eigen wie den vom Verfall der Beredsamkeit. Vielmehr, so scheint sein Buch zwischen den Zeilen sagen zu wollen, haben diese seit der Aufklärung virulenten Klagen die Wahrnehmung der Vielfalt und Lebendigkeit des "scheinbar anachronistischen Massenmediums der Stimme" eher verhindert. Daß sie daran zu rütteln vermöchte, ist der wegweisenden Studie von Herzen zu wünschen.
Reinhart Meyer-Kalkus: "Stimme und Sprechkünste im 20. Jahrhundert". Akademie Verlag, Berlin 2001. VII, 508 S., 25 Abb., geb., 87,62 DM.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
"Michael Adrian rezensiert Reinhart Meyer-Kalkus "wegweisende" Studie "Stimme und Sprechkünste im 20. Jahrhundert". Die Habilitationsschrift des Berliner Germanisten, die zeitlich bis in das frühe 19. Jahrhundert zurückgreift, biete auf der Grundlage eines breitangelegten Quellenmaterials eine "historische Anthropologie der Stimme". Für das 20. Jahrhundert stehen die Umschwünge, die durch das Aufkommen neuer Medien wie Radio und Tonfilm auf die Sprechkunst ausgingen, im Zentrum der Untersuchung. Einen weiteren Schwerpunkt sieht Adrian bei den künstlerischen Sprachexperimenten im 20. Jahrhundert, deren Vorläufer Meyer-Kalkus anschaulich herausarbeite. Als besonders hervorhebenswert erachtet Adrian ein Kapitel über die "Triebtheorie der Stimme", die auf die erotischen Klangdimensionen eingehe.
© Perlentaucher Medien GmbH"
© Perlentaucher Medien GmbH"
"Reinhart Meyer-Kalkus, Koordinator am Wissenschaftskolleg zu Berlin, hat ein wunderbares Buch zur Geschichte der Stimme verfasst. (...).
Wer jemals Zweifel hatte, ob Geisteswissenschaften gesellschaftsrelevantes Wissen zu produzieren vermögen (...), der wird durch Reinhart Meyer-Kalkus mit Nachdruck eines Besseren belehrt. Solche Wissenschaft wird niemand missen wollen: Sie hat den Sitz im Leben und geht doch keine schlechten Kompromisse ein nach Inhalt und Darstellungsform."
(Daniel Krause, www.klassik.com)
Wer jemals Zweifel hatte, ob Geisteswissenschaften gesellschaftsrelevantes Wissen zu produzieren vermögen (...), der wird durch Reinhart Meyer-Kalkus mit Nachdruck eines Besseren belehrt. Solche Wissenschaft wird niemand missen wollen: Sie hat den Sitz im Leben und geht doch keine schlechten Kompromisse ein nach Inhalt und Darstellungsform."
(Daniel Krause, www.klassik.com)