Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 21.03.2000Radio im Kopf
Jan Philipp Reemtsma hört Stimmen / Von Volker Breidecker
Vor Jahren, bald nach 1989, fand sich zur vormitternächtlichen Geisterstunde der Dichter Heiner Müller zum Jahrhundertgespräch in Alexander Kluges Fernsehstudio ein. Die beiden parlierten und schwadronierten, als gelte es, sämtliche Entscheidungsschlachten der Weltgeschichte noch einmal durchzuexerzieren. In Heeresstärke traten die Geistesblitze an, Bataillone von Begriffshaubitzen wurden in Marsch gesetzt, und das beiderseitige Thesenfeuer entfaltete die Schlagkraft von Meteoriten. Alle wurden sie wieder auf das Schlachtfeld gerufen: Marx und Moritz, Lenin, Trotzki, Lou van Burg, auch Nietzsche, Freud, Foucault und die anderen. Im Sog und Rhythmus von Müllers Havannazügen schrumpften alle räumlichen und zeitlichen Abstände auf das Fassungsvermögen des Qualms zusammen, und wie aus Aladins Wunderlampe stiegen phantastische Traumgebilde hervor.
Das alles waren freilich blinde Wortfiguren, geformt aus Stimmen und Tönen, wenn auch für den Bildschirm arrangiert, von zwei Geistersehern, die sich zum Feldherrenspiel im Gedankenreich verabredet hatten. Im Grunde war es Radio, was da geboten wurde. Es fehlte nur der Gongschlag, an den sich noch jeder erinnert, der bis in die fünfziger und sechziger Jahre vor dem Radio aufgewachsen ist und dort Stunden zubrachte, die vom Gong und den mit Nachtwächterpathos modulierten Ansagen "Beim Gongschlag war es . . ." oder "Die Stimme der Zeit . . ." eingeläutet wurden. Vom Ätherrauschen angefeuert, ließen sich mit der Zauberkraft des bloßen Fingerspiels alle Stimmen, Töne und Geräusche, Räume, Länder und Städte dieser Welt durchmischen und zum Purzeln bringen. Am Radioempfänger konnte man - wie Rudolf Arnheim, der einzige ernsthafte Theoretiker dieses Mediums in den dreißiger Jahren schrieb - "ein Gott oder doch ein Gulliver" sein: Von Blindheit begnadet, von der Trägheit und Begrenztheit des Körpers befreit, war man überall gleichzeitig und lauschte Begebenheiten, "die so irdisch klingen, als hättest du sie im eignen Zimmer, und doch so unmöglich fern, als wären sie nie gewesen".
"Stimmen aus dem vorigen Jahrhundert", die wie aus dem Radio tönen, hat Jan Philipp Reemtsma im historischen Längsschnitt und im Querschnitt polyphoner Chöre zu einem Mosaik von "Hörbildern" arrangiert. Die Wortschöpfung klingt wie eine Verschmelzung der "Hörmodelle" Walter Benjamins mit der Konzeption der "Denkbilder" aus gleicher Quelle. Der Autor, der hier ausschließlich als Sammler von Dokumenten und Zitaten operiert, die er zu Dialogszenen collagiert und dramatisiert, hat sich über die Konstruktion hinaus jedes Kommentars und sogar der einleitenden Worte enthalten. Über die authentischen Quellen des Materials, sofern man sie bei der Lektüre nicht erkennt, erahnt oder den Szenenanweisungen entnimmt, geben sparsame Nachweise am Ende des Buchs Auskunft. Daraus erfährt man auch, dass einige der Stücke entweder bereits im Rundfunk gesendet oder als Bühnenlesungen mit verteilten Rollen aufgeführt worden sind. Aber auch unabhängig von den hördramaturgischen Möglichkeiten dieser Texte stellt sich bei der Lektüre der tönende Gedanke an das Radio ein: War es am Ende nicht doch das eigentliche - anders als der Film -, das heimliche Leitmedium des Jahrhunderts?
"Dunkle Wolken ziehen über Europa dahin", raunt es zu Beginn des ersten Stücks aus dem Lautsprecher. Ein räuspernder Ansager deutet die Zeitläufe vor Beginn der Olympischen Spiele 1936, um sich ohne Rücksicht auf Grammatik und Syntax in den Sportreporterton der Begeisterung zu schwingen: "Deutschland hat sich zu sich selbst zurückgefunden." Die Prosa der Endlosschleifen wechselt mit Schüttelversen, die bisweilen von Fanfarenstößen und "Trrömm-Trrömm"- Geräuschen untermalt werden, bis am Ende Hitlers - im Stampfrhythmus geschriebene - "Sambpftmut" ertönt. Die dazu verblendeten Texte entstammen dem Familienarchiv des Hauses Reemtsma: einem der verbreiteten "Cigaretten-Bilderbücher" und einem Privatdruck des Schriftstellers Börries von Münchhausen, der einen Dichterwettbewerb zur Auswahl des geeignetsten "Weihelieds" zu dem festlichen Anlass geleitet und die Einsendungen gesammelt hatte.
Szenenwechsel zum Endspiel, 1944, im Ghetto Lodz: Wer hier Tagebuch führt, der weiß nicht, ob er das Aufgeschriebene am nächsten Tag noch lesen kann, ob es überhaupt jemals gelesen wird. Ihn treibt nicht mehr das Streben nach Mitteilung, sondern der Drang nach dem Ausdruck des Leidens und der Klage. Dazu bedient er sich der Phoneme sämtlicher Sprachen, die seinen wechselnden Gefühlslagen zugänglich sind, des Englischen, Jiddischen, Hebräischen und Polnischen. Er ist selbst zur vielstimmigen Stimme geworden. Wird sie je vernommen werden? Dieses Tagebuch eines Eingeschlossenen hat sich in der Gestalt von mäanderhaften Eintragungen an den Seitenrändern und zwischen den gedruckten Zeilen eines französischen Romans aus dem neunzehnten Jahrhundert ("Les vrais riches") erhalten, und Reemtsma hat die vor wenigen Jahren publizierte deutsche Übersetzung zum polyphonen Choral dramatisiert. Der Tragödie des Ghettos stellt er im nächsten Stück eine seltsame Farce gegenüber: Sie folgt den Protokollen abgehörter Gespräche unter den 1945 im englischen Farm Hall internierten Physikern, die am Projekt einer deutschen Atombombe beteiligt waren. Auch im Gelehrtendisput beherrschen Redundanzen und refrainartig wiederkehrende tautologische Sentenzen den Sprachduktus, der am Ende in eine bizarre Carmina Urana übergeht.
Ein Zwischenspiel aus der Zeit der singenden Caprifischer, der rollenden Cabrios, der "blütenweißen Hemden" für den "korrekten Adam" und der "hauchig-zarten Gebilde" für die "bezaubernde Eva" folgt einem modernisierten, um die Aneignung eines rezivilisierten "guten Tons" und um eine zeitgemäßere Etikette bemühten Knigge aus den fünfziger Jahren, bevor im fünften Stück die Vergangenheit zurückkehrt. Aus anonymisierten Interviews mit Besuchern der von Reemtsmas Hamburger Institut organisierten Ausstellung über die Verbrechen der deutschen Wehrmacht entstand ein patriotischer Chor der Empörung, dessen Sprachgesten die Strukturen der Verdrängung enthüllen: "... natürlich Erinnerungen, natürlich, sicher, ja, ja, das sind ja nun Situationen, die man ja grad erlebt hat, ja, ja, lassen's mal gut sein, ich will jetzt auch nicht von meinen Kriegserlebnissen sprechen, weil ich darüber nicht rede, weil es vorbei ist, das ist erledigt, vorbei, ja gut."
Als fulminanter, den Kommentar des Autors ersetzender Beschluss folgt der "Versuch, ein Endspiel zu verstehen", inszeniert als Briefdialog zwischen dem Remigranten Theodor W. Adorno, kurz vor seinem Tode 1969, und Herbert Marcuse. Unterbrochen wird ihr Disput von Auftritten des rebellischen Meisterschülers Hans-Jürgen Krahl und des engagierten Schriftstellers Günter Grass sowie akustisch überblendet von Auszügen aus Thomas Manns Exilroman "Dr. Faustus", Samuel Becketts "Endspiel" und Ludwig van Beethovens Klaviersonate Opus 111. Neben Becketts Hamm und Clov tritt Thomas Manns Erzähler, Dr. phil. Serenus Zeitblom, der Biograph und Chronist des deutschen Tonsetzers Adrian Leverkühn, persönlich auf den Katheder. Am Ende möchte der blinde Clov das traurige Abschiedsmotiv ",Leb' - mir wohl', ,Grüner Wiesengrund'" singen, obgleich man nicht mehr singen darf; und täte er es, so könnte ihn am wenigsten der lahme Hamm daran hindern, der seinerseits sinnt: "Wenn ein vernunftbegabtes Wesen auf die Erde zurückkehrte und uns lange genug beobachtete, würde es sich dann nicht Gedanken über uns machen?"
Ein solches Wesen könnte man sich auch als Radiohörer vorstellen. Statt überall hinzusehen, brauchte es dem Jahrhundert nur die Klänge, Töne und Stimmen abzulauschen. Denn allem Sichtbarkeitspathos zum Trotz, mit dem das zwanzigste Jahrhundert ästhetisch antrat, wurde in seinen Gräben und Abgründen nichts mehr verhöhnt und desavouiert als die Leitwährung der Sichtbarkeit. Reemtsmas Verfahren der Verblendung von Stimmen und Texten, von Klängen und Tönen zu palimpsestartigen Collagen ist, neben dem Vorbild von Arno Schmidts "Zettels Traum", dem Radiostil abgelauscht und scheint aus dem verkannten Medium und dem Abdanken aller verlässlichen Sichtbarkeiten die Konsequenz ziehen zu wollen: Was man nicht sehen kann, das muss man hören. Blindheit, mit der man sonst geschlagen wäre, könnte demnach wieder zu einer Tugend werden.
Man muss nur aufpassen vor dem Irrereden und dem allzu großen Getöse; freilich auch davor, dass die Seiten eines klugen Buchs am Ende nicht so sehr tönen, dass sie keiner mehr liest.
Jan Philipp Reemtsma: "Stimmen aus dem vorigen Jahrhundert. Hörbilder". Klett-Cotta Verlag, Stuttgart 2000. 170 S., geb., 34,- DM.
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Jan Philipp Reemtsma hört Stimmen / Von Volker Breidecker
Vor Jahren, bald nach 1989, fand sich zur vormitternächtlichen Geisterstunde der Dichter Heiner Müller zum Jahrhundertgespräch in Alexander Kluges Fernsehstudio ein. Die beiden parlierten und schwadronierten, als gelte es, sämtliche Entscheidungsschlachten der Weltgeschichte noch einmal durchzuexerzieren. In Heeresstärke traten die Geistesblitze an, Bataillone von Begriffshaubitzen wurden in Marsch gesetzt, und das beiderseitige Thesenfeuer entfaltete die Schlagkraft von Meteoriten. Alle wurden sie wieder auf das Schlachtfeld gerufen: Marx und Moritz, Lenin, Trotzki, Lou van Burg, auch Nietzsche, Freud, Foucault und die anderen. Im Sog und Rhythmus von Müllers Havannazügen schrumpften alle räumlichen und zeitlichen Abstände auf das Fassungsvermögen des Qualms zusammen, und wie aus Aladins Wunderlampe stiegen phantastische Traumgebilde hervor.
Das alles waren freilich blinde Wortfiguren, geformt aus Stimmen und Tönen, wenn auch für den Bildschirm arrangiert, von zwei Geistersehern, die sich zum Feldherrenspiel im Gedankenreich verabredet hatten. Im Grunde war es Radio, was da geboten wurde. Es fehlte nur der Gongschlag, an den sich noch jeder erinnert, der bis in die fünfziger und sechziger Jahre vor dem Radio aufgewachsen ist und dort Stunden zubrachte, die vom Gong und den mit Nachtwächterpathos modulierten Ansagen "Beim Gongschlag war es . . ." oder "Die Stimme der Zeit . . ." eingeläutet wurden. Vom Ätherrauschen angefeuert, ließen sich mit der Zauberkraft des bloßen Fingerspiels alle Stimmen, Töne und Geräusche, Räume, Länder und Städte dieser Welt durchmischen und zum Purzeln bringen. Am Radioempfänger konnte man - wie Rudolf Arnheim, der einzige ernsthafte Theoretiker dieses Mediums in den dreißiger Jahren schrieb - "ein Gott oder doch ein Gulliver" sein: Von Blindheit begnadet, von der Trägheit und Begrenztheit des Körpers befreit, war man überall gleichzeitig und lauschte Begebenheiten, "die so irdisch klingen, als hättest du sie im eignen Zimmer, und doch so unmöglich fern, als wären sie nie gewesen".
"Stimmen aus dem vorigen Jahrhundert", die wie aus dem Radio tönen, hat Jan Philipp Reemtsma im historischen Längsschnitt und im Querschnitt polyphoner Chöre zu einem Mosaik von "Hörbildern" arrangiert. Die Wortschöpfung klingt wie eine Verschmelzung der "Hörmodelle" Walter Benjamins mit der Konzeption der "Denkbilder" aus gleicher Quelle. Der Autor, der hier ausschließlich als Sammler von Dokumenten und Zitaten operiert, die er zu Dialogszenen collagiert und dramatisiert, hat sich über die Konstruktion hinaus jedes Kommentars und sogar der einleitenden Worte enthalten. Über die authentischen Quellen des Materials, sofern man sie bei der Lektüre nicht erkennt, erahnt oder den Szenenanweisungen entnimmt, geben sparsame Nachweise am Ende des Buchs Auskunft. Daraus erfährt man auch, dass einige der Stücke entweder bereits im Rundfunk gesendet oder als Bühnenlesungen mit verteilten Rollen aufgeführt worden sind. Aber auch unabhängig von den hördramaturgischen Möglichkeiten dieser Texte stellt sich bei der Lektüre der tönende Gedanke an das Radio ein: War es am Ende nicht doch das eigentliche - anders als der Film -, das heimliche Leitmedium des Jahrhunderts?
"Dunkle Wolken ziehen über Europa dahin", raunt es zu Beginn des ersten Stücks aus dem Lautsprecher. Ein räuspernder Ansager deutet die Zeitläufe vor Beginn der Olympischen Spiele 1936, um sich ohne Rücksicht auf Grammatik und Syntax in den Sportreporterton der Begeisterung zu schwingen: "Deutschland hat sich zu sich selbst zurückgefunden." Die Prosa der Endlosschleifen wechselt mit Schüttelversen, die bisweilen von Fanfarenstößen und "Trrömm-Trrömm"- Geräuschen untermalt werden, bis am Ende Hitlers - im Stampfrhythmus geschriebene - "Sambpftmut" ertönt. Die dazu verblendeten Texte entstammen dem Familienarchiv des Hauses Reemtsma: einem der verbreiteten "Cigaretten-Bilderbücher" und einem Privatdruck des Schriftstellers Börries von Münchhausen, der einen Dichterwettbewerb zur Auswahl des geeignetsten "Weihelieds" zu dem festlichen Anlass geleitet und die Einsendungen gesammelt hatte.
Szenenwechsel zum Endspiel, 1944, im Ghetto Lodz: Wer hier Tagebuch führt, der weiß nicht, ob er das Aufgeschriebene am nächsten Tag noch lesen kann, ob es überhaupt jemals gelesen wird. Ihn treibt nicht mehr das Streben nach Mitteilung, sondern der Drang nach dem Ausdruck des Leidens und der Klage. Dazu bedient er sich der Phoneme sämtlicher Sprachen, die seinen wechselnden Gefühlslagen zugänglich sind, des Englischen, Jiddischen, Hebräischen und Polnischen. Er ist selbst zur vielstimmigen Stimme geworden. Wird sie je vernommen werden? Dieses Tagebuch eines Eingeschlossenen hat sich in der Gestalt von mäanderhaften Eintragungen an den Seitenrändern und zwischen den gedruckten Zeilen eines französischen Romans aus dem neunzehnten Jahrhundert ("Les vrais riches") erhalten, und Reemtsma hat die vor wenigen Jahren publizierte deutsche Übersetzung zum polyphonen Choral dramatisiert. Der Tragödie des Ghettos stellt er im nächsten Stück eine seltsame Farce gegenüber: Sie folgt den Protokollen abgehörter Gespräche unter den 1945 im englischen Farm Hall internierten Physikern, die am Projekt einer deutschen Atombombe beteiligt waren. Auch im Gelehrtendisput beherrschen Redundanzen und refrainartig wiederkehrende tautologische Sentenzen den Sprachduktus, der am Ende in eine bizarre Carmina Urana übergeht.
Ein Zwischenspiel aus der Zeit der singenden Caprifischer, der rollenden Cabrios, der "blütenweißen Hemden" für den "korrekten Adam" und der "hauchig-zarten Gebilde" für die "bezaubernde Eva" folgt einem modernisierten, um die Aneignung eines rezivilisierten "guten Tons" und um eine zeitgemäßere Etikette bemühten Knigge aus den fünfziger Jahren, bevor im fünften Stück die Vergangenheit zurückkehrt. Aus anonymisierten Interviews mit Besuchern der von Reemtsmas Hamburger Institut organisierten Ausstellung über die Verbrechen der deutschen Wehrmacht entstand ein patriotischer Chor der Empörung, dessen Sprachgesten die Strukturen der Verdrängung enthüllen: "... natürlich Erinnerungen, natürlich, sicher, ja, ja, das sind ja nun Situationen, die man ja grad erlebt hat, ja, ja, lassen's mal gut sein, ich will jetzt auch nicht von meinen Kriegserlebnissen sprechen, weil ich darüber nicht rede, weil es vorbei ist, das ist erledigt, vorbei, ja gut."
Als fulminanter, den Kommentar des Autors ersetzender Beschluss folgt der "Versuch, ein Endspiel zu verstehen", inszeniert als Briefdialog zwischen dem Remigranten Theodor W. Adorno, kurz vor seinem Tode 1969, und Herbert Marcuse. Unterbrochen wird ihr Disput von Auftritten des rebellischen Meisterschülers Hans-Jürgen Krahl und des engagierten Schriftstellers Günter Grass sowie akustisch überblendet von Auszügen aus Thomas Manns Exilroman "Dr. Faustus", Samuel Becketts "Endspiel" und Ludwig van Beethovens Klaviersonate Opus 111. Neben Becketts Hamm und Clov tritt Thomas Manns Erzähler, Dr. phil. Serenus Zeitblom, der Biograph und Chronist des deutschen Tonsetzers Adrian Leverkühn, persönlich auf den Katheder. Am Ende möchte der blinde Clov das traurige Abschiedsmotiv ",Leb' - mir wohl', ,Grüner Wiesengrund'" singen, obgleich man nicht mehr singen darf; und täte er es, so könnte ihn am wenigsten der lahme Hamm daran hindern, der seinerseits sinnt: "Wenn ein vernunftbegabtes Wesen auf die Erde zurückkehrte und uns lange genug beobachtete, würde es sich dann nicht Gedanken über uns machen?"
Ein solches Wesen könnte man sich auch als Radiohörer vorstellen. Statt überall hinzusehen, brauchte es dem Jahrhundert nur die Klänge, Töne und Stimmen abzulauschen. Denn allem Sichtbarkeitspathos zum Trotz, mit dem das zwanzigste Jahrhundert ästhetisch antrat, wurde in seinen Gräben und Abgründen nichts mehr verhöhnt und desavouiert als die Leitwährung der Sichtbarkeit. Reemtsmas Verfahren der Verblendung von Stimmen und Texten, von Klängen und Tönen zu palimpsestartigen Collagen ist, neben dem Vorbild von Arno Schmidts "Zettels Traum", dem Radiostil abgelauscht und scheint aus dem verkannten Medium und dem Abdanken aller verlässlichen Sichtbarkeiten die Konsequenz ziehen zu wollen: Was man nicht sehen kann, das muss man hören. Blindheit, mit der man sonst geschlagen wäre, könnte demnach wieder zu einer Tugend werden.
Man muss nur aufpassen vor dem Irrereden und dem allzu großen Getöse; freilich auch davor, dass die Seiten eines klugen Buchs am Ende nicht so sehr tönen, dass sie keiner mehr liest.
Jan Philipp Reemtsma: "Stimmen aus dem vorigen Jahrhundert. Hörbilder". Klett-Cotta Verlag, Stuttgart 2000. 170 S., geb., 34,- DM.
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Ist es ein Buch? Ist es Tonband-Kassette, CD oder CD-Rom? Man weiß es nicht so genau in dieser durchgängig begeisterten Besprechung von Volker Breidecker. Der Rezensent schreibt von Klängen und Stimmen, Tönen und Chören, die Reemtsma hier in einer dem Rundfunk abgelauschten Dramaturgie zusammengestellt hat. Das Wort "Hörbilder" im Untertitel führt Breidecker dabei auf zwei Konzepte Benjamins zurück, das der "Hörmodelle" und "Denkbilder". Was wird geboten? Die dumpf-bedeutsame Reportage eines "Lautsprechers" und "Ansagers" samt Weihelied von Börries von Münchhausen zur Olympiade 1936, das Grauen des Ghettos von Lodz 1944 in den vielsprachigen Eintragungen eines Eingeschlossenen, Protokolle von (damals heimlich abgehörten) Gesprächen deutscher Atom-Wissenschaftler in englischer Gefangenschaft, und nach einem "Zwischenspiel" über Wiederanfang und Saubermänner und -frauen der fünfziger Jahre ein "fulminanter" Schlusspunkt: einmontiert in einen Briefdialog zwischen Adorno und Marcuse Auftritte von Grass, Becketts Endspielfiguren und Beethovens Klaviersonate Opus 111. Also doch kein Buch? Oder wie montiert man eine Sonate in ein Buch? Breidecker weiß es, sagt es aber nicht, und warnt am Ende nur vor dem "allzu großen Getöse", das so dröhnen könnte, dass keiner mehr das Buch lesen wolle. Also doch ein Buch?
© Perlentaucher Medien GmbH
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