In der moraltheologischen und juristischen Lehre des 16. Jahrhunderts wurden der Begriff der Strafe, das Schuldprinzip und die Frage, ob der eine für den anderen bestraft werden durfte, diskutiert. Die strafrechtliche Kollektivhaftung erörterte man am Beispiel der Exkommunikation von Städten und Gemeinden. Die Mitbetroffenheit der Familie war Thema bei der Frage, ob der Sohn für den Vater bestraft werden durfte. Das Buch beschäftigt sich ausführlich mit diesen Diskussionen und zeigt zudem die Entwicklung seit dem Mittelalter auf, in welchem Schuldprinzip und Personalität der Strafe für die Rechtsgelehrten noch nicht selbstverständlich waren. Thomas von Aquin hatte in seiner auf Aristoteles aufbauenden Straftheorie den Begriff der eigentlichen Strafe auf die Sündenstrafe festgelegt. In der spanischen Spätscholastik und Naturrechtslehre wurde der moraltheologische Begriff der Sündenstrafe sodann auf die Jurisprudenz übertragen und damit der Grundstein für die noch heute wirksame Vorstellung von dem sittlichen Vorwurf der Strafe gelegt.
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 21.07.2006Unterscheide so lange, bis alles schöngefärbt ist
Ist ja kein Vorwurf: Harald Maihold untersucht die spätscholastische Rechthaberei als eine Strafe
Ob Krisenbewußtsein Krankheit oder Gesundheit eines Systems anzeigt, weiß man nicht. Harald Maihold hält es für ein Krisensymptom, daß sich die Strafrechtswissenschaft über ihre Grundbegriffe streitet. Deshalb will er die Lehre, daß Strafe persönliche Schuld voraussetzt, auf eine sicherere, nämlich historische Grundlage stellen. Das ist ihm überzeugend gelungen.
Wie jeder gute Historiker wühlt Maihold nicht einfach in der Vergangenheit. Er zeigt an einem sorgfältig ausgewählten Grenzfall, wie Theologen, Kanonisten und Juristen der berühmten Universität Salamanca im sechzehnten Jahrhundert durch immer neue Unterscheidungen Strafe allmählich auf Schuld zurückführten und Strafrecht vom Zivilrecht trennten. Der Grenzfall scheint heute keiner mehr zu sein. Wir sind tief davon überzeugt, daß es ungerecht ist, jemanden für fremde, das heißt für eine Schuld zu bestrafen, die nicht seine persönliche ist.
Maihold weiß das. Deshalb beginnt er vorsichtig in unserer Gegenwart mit dem Philosophen, der die Schuldlehre am besten formuliert hat, mit dem Radikalindividualisten Kant. Dann tastet er sich über die herkömmliche Kritik am Schuldprinzip: es blende den Kontext der Tat aus, bis zum tatsächlichen Bruch mit ihm vor. Die Verbands- oder Unternehmensstrafe läßt sich kaum mit persönlicher Schuld rechtfertigen, und trotzdem wird beispielsweise die Schweiz sie wahrscheinlich einführen.
In diesem Zusammenhang beobachtet Maihold eine wichtige Tatsache. Unstreitig wirkt sich die Bestrafung eines Täters auf seine Familie aus. Aber während die Unternehmensstrafe eine Solidarität des Kleinaktionärs mit dem Täter konstruiert und für Strafmaßnahmen ausreichen läßt, sieht nicht nur niemand in familiären Beziehungen strafrechtlich erhebliche Solidarität walten, man versucht sogar, die Familienangehörigen vor den Folgen der Strafe zu schützen. Das Schuldprinzip schützt das Strafrecht also nicht vor gegenläufigen Wertungen. In seiner Abstraktheit öffnet es ihnen möglicherweise sogar Tür und Tor. Hat man sich die Relativität des Schuldprinzips bewußt gemacht, sieht man, daß die christliche Geschichte voller Erzählungen von "Strafen für fremde Schuld" ist, von der Strafe für den Sündenfall Adams und Evas über die düstere Drohung im Dekalog, Gott ahnde die Schuld der Väter an Kindern und Kindeskindern, bis zu Christus, der für die Sünden der Welt gestorben ist.
In dieser Ordnung war die Vorschrift des Codex Justinianus, nach der die Söhne von Majestätsbeleidigern und Häretikern Vermögen und Erbrecht sowie die Befähigung zu Kriegsdienst und zu öffentlichen Ämtern verlieren, kein Systembruch, aber eine Herausforderung an die Auslegung: Alle Philosophen mußten sich damit beschäftigen. Häresie und Majestätsbeleidigung eigneten sich daher hervorragend zu zeigen, wie die spanischen Spätscholastiker mit der "Strafe für fremde Schuld" fertig wurden, so gut, daß sich der Rezensent zunächst gefragt hat, warum Maihold nicht auch die soziale Funktion der beiden Straftatbestände erläutert hat.
Die weitere Lektüre ergab aber, daß das ein schwerer Fehler gewesen wäre. Denn über den Zweck der Strafe für die Söhne haben sich bereits die spanischen Juristen ausgiebig Gedanken gemacht, bis hin zur Frage der Vererblichkeit krimineller Neigungen. Maihold nähert sich seinem Problem überhaupt mit einer fast naturwissenschaftlichen Einstellung. Nach einem Bericht über die Wiederentdeckung der "Spanischen Spätscholastik" und einfühlsamen Begriffserklärungen gibt er einen Überblick über die einschlägige spanische Literatur des sechzehnten Jahrhunderts - übrigens der einzige Abschnitt, dessen Sinn dem Rezensenten erläuterungsbedürftig erscheint.
Jedenfalls wendet sich der Autor sodann in einer eleganten Volte den mittelalterlichen Vorläufern der Lehre von der "Strafe für fremde Schuld" zu, vor allem ihrem berühmtesten Kritiker Thomas von Aquin. Von den Vorläufern stammten die grundsätzlichen Unterscheidungen, mit denen auch die Spanier gearbeitet haben. Das Argumentationsprinzip wirkt einfach. Man knüpft an Thomas' Unterscheidung zwischen göttlichem, natürlichem und menschlichem Recht an und ordnet die klärungsbedürftigen Fälle den drei Rechten zu.
Da Gott allwissend und allmächtig ist, kann er auch "Unschuldige" bestrafen. Für das natürliche und menschliche Recht hatte aber schon Thomas gelehrt: Unschuldige sind der bessere Teil der menschlichen Gemeinschaft und können deshalb aus logischen Gründen nicht dem Gemeinwohl geopfert werden. Denn ihre Tötung bedeutete, die Gemeinschaft zu verschlechtern. Die spanischen Spätscholastiker unterscheiden dagegen nach der Intention. Die absichtliche Tötung Unschuldiger ist naturrechtlich verboten. Die Tötung ist aber ausnahmsweise gestattet, wenn sie zufällig bei der Verfolgung ganz anderer Ziele geschieht, zum Beispiel bei der Verteidigung des Staates.
Der direkte Vergleich mit Thomas zeigt, daß die Spanier damit die für die Staatstheorie wichtige Einsicht vorbereitet haben, daß eine Gemeinschaft mehr ist als die Summe ihrer Mitglieder. Aus der Perspektive der Gemeinschaft kommt es auf Schuld oder Unschuld letztlich nicht mehr an. Das befreit die Strafrechtswissenschaft zu immer neuen Theorien der Strafe. Wenn man Maiholds Buch gelesen hat, versteht man tatsächlich besser, wie sich das Strafrecht modernisiert hat. Das ist eine bedeutende Leistung. Jetzt müssen die Soziologen erklären, warum sich das Strafrecht modernisiert hat.
GERD ROELLECKE
Harald Maihold: "Strafe für fremde Schuld?" Die Systematisierung des Strafbegriffs in der Spanischen Spätscholastik und Naturrechtslehre. Böhlau Verlag, Köln 2006. XVI, 393 S., geb., 49,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Ist ja kein Vorwurf: Harald Maihold untersucht die spätscholastische Rechthaberei als eine Strafe
Ob Krisenbewußtsein Krankheit oder Gesundheit eines Systems anzeigt, weiß man nicht. Harald Maihold hält es für ein Krisensymptom, daß sich die Strafrechtswissenschaft über ihre Grundbegriffe streitet. Deshalb will er die Lehre, daß Strafe persönliche Schuld voraussetzt, auf eine sicherere, nämlich historische Grundlage stellen. Das ist ihm überzeugend gelungen.
Wie jeder gute Historiker wühlt Maihold nicht einfach in der Vergangenheit. Er zeigt an einem sorgfältig ausgewählten Grenzfall, wie Theologen, Kanonisten und Juristen der berühmten Universität Salamanca im sechzehnten Jahrhundert durch immer neue Unterscheidungen Strafe allmählich auf Schuld zurückführten und Strafrecht vom Zivilrecht trennten. Der Grenzfall scheint heute keiner mehr zu sein. Wir sind tief davon überzeugt, daß es ungerecht ist, jemanden für fremde, das heißt für eine Schuld zu bestrafen, die nicht seine persönliche ist.
Maihold weiß das. Deshalb beginnt er vorsichtig in unserer Gegenwart mit dem Philosophen, der die Schuldlehre am besten formuliert hat, mit dem Radikalindividualisten Kant. Dann tastet er sich über die herkömmliche Kritik am Schuldprinzip: es blende den Kontext der Tat aus, bis zum tatsächlichen Bruch mit ihm vor. Die Verbands- oder Unternehmensstrafe läßt sich kaum mit persönlicher Schuld rechtfertigen, und trotzdem wird beispielsweise die Schweiz sie wahrscheinlich einführen.
In diesem Zusammenhang beobachtet Maihold eine wichtige Tatsache. Unstreitig wirkt sich die Bestrafung eines Täters auf seine Familie aus. Aber während die Unternehmensstrafe eine Solidarität des Kleinaktionärs mit dem Täter konstruiert und für Strafmaßnahmen ausreichen läßt, sieht nicht nur niemand in familiären Beziehungen strafrechtlich erhebliche Solidarität walten, man versucht sogar, die Familienangehörigen vor den Folgen der Strafe zu schützen. Das Schuldprinzip schützt das Strafrecht also nicht vor gegenläufigen Wertungen. In seiner Abstraktheit öffnet es ihnen möglicherweise sogar Tür und Tor. Hat man sich die Relativität des Schuldprinzips bewußt gemacht, sieht man, daß die christliche Geschichte voller Erzählungen von "Strafen für fremde Schuld" ist, von der Strafe für den Sündenfall Adams und Evas über die düstere Drohung im Dekalog, Gott ahnde die Schuld der Väter an Kindern und Kindeskindern, bis zu Christus, der für die Sünden der Welt gestorben ist.
In dieser Ordnung war die Vorschrift des Codex Justinianus, nach der die Söhne von Majestätsbeleidigern und Häretikern Vermögen und Erbrecht sowie die Befähigung zu Kriegsdienst und zu öffentlichen Ämtern verlieren, kein Systembruch, aber eine Herausforderung an die Auslegung: Alle Philosophen mußten sich damit beschäftigen. Häresie und Majestätsbeleidigung eigneten sich daher hervorragend zu zeigen, wie die spanischen Spätscholastiker mit der "Strafe für fremde Schuld" fertig wurden, so gut, daß sich der Rezensent zunächst gefragt hat, warum Maihold nicht auch die soziale Funktion der beiden Straftatbestände erläutert hat.
Die weitere Lektüre ergab aber, daß das ein schwerer Fehler gewesen wäre. Denn über den Zweck der Strafe für die Söhne haben sich bereits die spanischen Juristen ausgiebig Gedanken gemacht, bis hin zur Frage der Vererblichkeit krimineller Neigungen. Maihold nähert sich seinem Problem überhaupt mit einer fast naturwissenschaftlichen Einstellung. Nach einem Bericht über die Wiederentdeckung der "Spanischen Spätscholastik" und einfühlsamen Begriffserklärungen gibt er einen Überblick über die einschlägige spanische Literatur des sechzehnten Jahrhunderts - übrigens der einzige Abschnitt, dessen Sinn dem Rezensenten erläuterungsbedürftig erscheint.
Jedenfalls wendet sich der Autor sodann in einer eleganten Volte den mittelalterlichen Vorläufern der Lehre von der "Strafe für fremde Schuld" zu, vor allem ihrem berühmtesten Kritiker Thomas von Aquin. Von den Vorläufern stammten die grundsätzlichen Unterscheidungen, mit denen auch die Spanier gearbeitet haben. Das Argumentationsprinzip wirkt einfach. Man knüpft an Thomas' Unterscheidung zwischen göttlichem, natürlichem und menschlichem Recht an und ordnet die klärungsbedürftigen Fälle den drei Rechten zu.
Da Gott allwissend und allmächtig ist, kann er auch "Unschuldige" bestrafen. Für das natürliche und menschliche Recht hatte aber schon Thomas gelehrt: Unschuldige sind der bessere Teil der menschlichen Gemeinschaft und können deshalb aus logischen Gründen nicht dem Gemeinwohl geopfert werden. Denn ihre Tötung bedeutete, die Gemeinschaft zu verschlechtern. Die spanischen Spätscholastiker unterscheiden dagegen nach der Intention. Die absichtliche Tötung Unschuldiger ist naturrechtlich verboten. Die Tötung ist aber ausnahmsweise gestattet, wenn sie zufällig bei der Verfolgung ganz anderer Ziele geschieht, zum Beispiel bei der Verteidigung des Staates.
Der direkte Vergleich mit Thomas zeigt, daß die Spanier damit die für die Staatstheorie wichtige Einsicht vorbereitet haben, daß eine Gemeinschaft mehr ist als die Summe ihrer Mitglieder. Aus der Perspektive der Gemeinschaft kommt es auf Schuld oder Unschuld letztlich nicht mehr an. Das befreit die Strafrechtswissenschaft zu immer neuen Theorien der Strafe. Wenn man Maiholds Buch gelesen hat, versteht man tatsächlich besser, wie sich das Strafrecht modernisiert hat. Das ist eine bedeutende Leistung. Jetzt müssen die Soziologen erklären, warum sich das Strafrecht modernisiert hat.
GERD ROELLECKE
Harald Maihold: "Strafe für fremde Schuld?" Die Systematisierung des Strafbegriffs in der Spanischen Spätscholastik und Naturrechtslehre. Böhlau Verlag, Köln 2006. XVI, 393 S., geb., 49,90 [Euro].
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Überzeugend findet Rezensent Gerd Roellecke diese Arbeit über den Strafbegriff in den moraltheologischen und juristischen Lehre des 16. Jahrhunderts, die Harald Maihold vorgelegt hat. Ausführlich geht er auf Maiholds Auseinandersetzung mit den Diskussionen um die Frage nach persönlicher und kollektiver Schuld und deren Bestrafung in der Spanischen Spätscholastik ein und verfolgt die Argumentationen des Autors en detail. Deutlich wird für ihn dabei, dass die Spanischen Spätscholastik die für die Staatstheorie bedeutende Einsicht vorbereitete, Gemeinschaft sei mehr als die Summe ihrer Mitglieder. Alles in allem bescheinigt er Maiholds Arbeit, die Modernisierung des Strafrechts besser verständlich zu machen.
© Perlentaucher Medien GmbH
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