Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 10.10.2020Der Kojotenmann hilft niemandem umsonst
Held oder Freak? David Robertsons junger Kanadier wird von seiner indigenen Kultur eingeholt.
Von Tilman Spreckelsen
Die SMS, die den siebzehnjährigen Cole Harper in der kanadischen Großstadt Winnipeg erreicht, stammt vom Handy seines Kindheitsfreundes Ashley. "Du musst heimkommen. Sofort!", liest Cole, und als darauf noch weitere, dringlichere Textnachrichten folgen, macht er sich auf in die First-Nation-Siedlung Wounded Sky, in der er als Kind gelebt und die er vor zehn Jahren fluchtartig mit seiner Großmutter und seiner Tante Richtung Winnipeg verlassen hatte. Nur dass sich bei Coles Ankunft herausstellt, dass die Nachrichten gar nicht von Ashley verfasst worden waren. Wenig später wird Ashley heimtückisch durchs Fenster seiner Behausung erschossen. Cole steht daneben.
Der Autor David A. Robertson, Jahrgang 1977, siedelt seine Geschichte in einer Umgebung an, die ihm selbst vertraut ist. Robertson ist Mitglied der Norway Cree Nation aus dem kanadischen Bundesstaat Manitoba. Wie sein Protagonist Cole wuchs er in Winnipeg auf. In seinen Büchern, allen voran im großartigen Bilderbuch "Als wir allein waren", geht es häufig um die Situation junger Angehöriger der First Nations, die zwischen den Kulturen stehen und in die Traditionen ihrer Vorfahren nicht mehr hineinwachsen, sondern sich diese mühsam aneignen müssen. So schildert "Als wir allein waren" ein langes Gespräch zwischen einer Großmutter und ihrer Enkelin, in dem die alte Frau dem Mädchen davon erzählt, was sie in der "Residential School" erdulden musste, als sie - wie viele andere Kindern der First Nations in Kanada - fern von ihrer Familie die Kultur der eingewanderten Europäer vermittelt bekam.
Robertsons Jugendroman "Strangers" ist der Auftakt zu einer Trilogie um den jungen Reservat-Rückkehrer Cole Harper, deren zweiter Teil "Monsters" gerade auf Deutsch erschienen ist. Langsam wird enthüllt, was es mit der Flucht von Coles Restfamilie nach dem jähen Tod der beiden Eltern auf sich hat. Und welche Rolle ein "anthropomorphes Geistwesen" namens Choch dabei spielt, das zwischen Mensch- und Kojotengestalt wechselt und nicht nur die Textnachrichten auf Ashleys Handy manipulierte. Choch erschien zehn Jahre vor dem Beginn der Handlung dem siebenjährigen Cole, als dieser den Brand in der Schule des Reservats bemerkte, dorthin lief und in den Trümmern unter Toten seine gerade noch lebendigen Freunde fand. Der Gestaltwandler verlieh Cole, so scheint es, ungeheure Kräfte und zugleich die Fähigkeit, große Verletzungen beinahe unbeschadet wegzustecken, so dass er seine Freunde retten konnte. Den Preis, sagte Choch dem Kind, werde er eines Tages einfordern. Nun muss ihn der siebzehnjährige Rückkehrer entrichten.
All dies wird rasant, nicht immer stilsicher und bisweilen etwas ungelenk erzählt, aber damit kann man leicht seinen Frieden machen. Entscheidend ist, wie Robertson Cole zwischen die Kulturen stellt und ihn sich in einem Gewebe von Schuld, Selbstanklagen und Bezichtigungen von außen verlieren lässt. Denn die Frage, wieso er damals seine Freunde retten konnte und die anderen Kinder nicht - in der Siedlung fehlt ein beinahe kompletter Jahrgang an Schulkindern -, stellt er sich nicht nur selbst andauernd, sondern auch die übrigen Bewohner stellen sie dem Rückkehrer, der in ihren Augen irgendwo zwischen Freak und Held changiert.
Das wird im Verlauf der beiden Bände naturgemäß intensiver und für Cole bedrückender, je mehr die Bewohner weiteren Schicksalsschlägen ausgesetzt sind, etwa einer rätselhaften Grippe-Epidemie (stammt sie aus Winnipeg, hat Cole sie eingeschleppt?), Todesfällen, die mit ihm in Verbindung stehen, oder auch Brandstiftungen, derer Cole verdächtigt wird. Allmählich zeigt sich, dass der Tod der Kinder mit einem pharmazeutischen Experiment zusammenhängt, das heimlich an ihnen durchgeführt wurde und durch den Brand vertuscht werden sollte, und die Rolle von Coles verstorbenem Vater dabei ist ebenso unklar wie das Ziel der Studie. Cole aber, dem ebenfalls Mittel verabreicht wurden, scheint davon profitiert zu haben - eine Wendung, die deshalb so interessant ist, weil sie inhaltlich in Konkurrenz zu der Befähigung des Siebenjährigen durch Choch tritt. Was hat den Jungen zum Superhelden gemacht? Traditionelle Magie oder westliche Arzneimittelforschung?
Die Spannung zwischen diesen beiden Polen prägt die ersten Bände der Trilogie. Sie ist der Grund, warum man den Abschlussband mit Ungeduld erwartet.
David A. Robertson: "Monsters". Roman.
Aus dem Englischen von Michael Raab. Merlin Verlag, Gifkendorf 2020. 280 S., br., 12,80 [Euro]. Ab 14 J.
David A. Robertson: "Strangers". Roman.
Aus dem Englischen von Michael Raab. Merlin Verlag, Gifkendorf 2020. 268 S., br., 12,80 [Euro]. Ab 14 J.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Held oder Freak? David Robertsons junger Kanadier wird von seiner indigenen Kultur eingeholt.
Von Tilman Spreckelsen
Die SMS, die den siebzehnjährigen Cole Harper in der kanadischen Großstadt Winnipeg erreicht, stammt vom Handy seines Kindheitsfreundes Ashley. "Du musst heimkommen. Sofort!", liest Cole, und als darauf noch weitere, dringlichere Textnachrichten folgen, macht er sich auf in die First-Nation-Siedlung Wounded Sky, in der er als Kind gelebt und die er vor zehn Jahren fluchtartig mit seiner Großmutter und seiner Tante Richtung Winnipeg verlassen hatte. Nur dass sich bei Coles Ankunft herausstellt, dass die Nachrichten gar nicht von Ashley verfasst worden waren. Wenig später wird Ashley heimtückisch durchs Fenster seiner Behausung erschossen. Cole steht daneben.
Der Autor David A. Robertson, Jahrgang 1977, siedelt seine Geschichte in einer Umgebung an, die ihm selbst vertraut ist. Robertson ist Mitglied der Norway Cree Nation aus dem kanadischen Bundesstaat Manitoba. Wie sein Protagonist Cole wuchs er in Winnipeg auf. In seinen Büchern, allen voran im großartigen Bilderbuch "Als wir allein waren", geht es häufig um die Situation junger Angehöriger der First Nations, die zwischen den Kulturen stehen und in die Traditionen ihrer Vorfahren nicht mehr hineinwachsen, sondern sich diese mühsam aneignen müssen. So schildert "Als wir allein waren" ein langes Gespräch zwischen einer Großmutter und ihrer Enkelin, in dem die alte Frau dem Mädchen davon erzählt, was sie in der "Residential School" erdulden musste, als sie - wie viele andere Kindern der First Nations in Kanada - fern von ihrer Familie die Kultur der eingewanderten Europäer vermittelt bekam.
Robertsons Jugendroman "Strangers" ist der Auftakt zu einer Trilogie um den jungen Reservat-Rückkehrer Cole Harper, deren zweiter Teil "Monsters" gerade auf Deutsch erschienen ist. Langsam wird enthüllt, was es mit der Flucht von Coles Restfamilie nach dem jähen Tod der beiden Eltern auf sich hat. Und welche Rolle ein "anthropomorphes Geistwesen" namens Choch dabei spielt, das zwischen Mensch- und Kojotengestalt wechselt und nicht nur die Textnachrichten auf Ashleys Handy manipulierte. Choch erschien zehn Jahre vor dem Beginn der Handlung dem siebenjährigen Cole, als dieser den Brand in der Schule des Reservats bemerkte, dorthin lief und in den Trümmern unter Toten seine gerade noch lebendigen Freunde fand. Der Gestaltwandler verlieh Cole, so scheint es, ungeheure Kräfte und zugleich die Fähigkeit, große Verletzungen beinahe unbeschadet wegzustecken, so dass er seine Freunde retten konnte. Den Preis, sagte Choch dem Kind, werde er eines Tages einfordern. Nun muss ihn der siebzehnjährige Rückkehrer entrichten.
All dies wird rasant, nicht immer stilsicher und bisweilen etwas ungelenk erzählt, aber damit kann man leicht seinen Frieden machen. Entscheidend ist, wie Robertson Cole zwischen die Kulturen stellt und ihn sich in einem Gewebe von Schuld, Selbstanklagen und Bezichtigungen von außen verlieren lässt. Denn die Frage, wieso er damals seine Freunde retten konnte und die anderen Kinder nicht - in der Siedlung fehlt ein beinahe kompletter Jahrgang an Schulkindern -, stellt er sich nicht nur selbst andauernd, sondern auch die übrigen Bewohner stellen sie dem Rückkehrer, der in ihren Augen irgendwo zwischen Freak und Held changiert.
Das wird im Verlauf der beiden Bände naturgemäß intensiver und für Cole bedrückender, je mehr die Bewohner weiteren Schicksalsschlägen ausgesetzt sind, etwa einer rätselhaften Grippe-Epidemie (stammt sie aus Winnipeg, hat Cole sie eingeschleppt?), Todesfällen, die mit ihm in Verbindung stehen, oder auch Brandstiftungen, derer Cole verdächtigt wird. Allmählich zeigt sich, dass der Tod der Kinder mit einem pharmazeutischen Experiment zusammenhängt, das heimlich an ihnen durchgeführt wurde und durch den Brand vertuscht werden sollte, und die Rolle von Coles verstorbenem Vater dabei ist ebenso unklar wie das Ziel der Studie. Cole aber, dem ebenfalls Mittel verabreicht wurden, scheint davon profitiert zu haben - eine Wendung, die deshalb so interessant ist, weil sie inhaltlich in Konkurrenz zu der Befähigung des Siebenjährigen durch Choch tritt. Was hat den Jungen zum Superhelden gemacht? Traditionelle Magie oder westliche Arzneimittelforschung?
Die Spannung zwischen diesen beiden Polen prägt die ersten Bände der Trilogie. Sie ist der Grund, warum man den Abschlussband mit Ungeduld erwartet.
David A. Robertson: "Monsters". Roman.
Aus dem Englischen von Michael Raab. Merlin Verlag, Gifkendorf 2020. 280 S., br., 12,80 [Euro]. Ab 14 J.
David A. Robertson: "Strangers". Roman.
Aus dem Englischen von Michael Raab. Merlin Verlag, Gifkendorf 2020. 268 S., br., 12,80 [Euro]. Ab 14 J.
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