Dort, wo heute in Frankfurt die Doppeltürme der Deutschen Bank aufragen, kommt 1903 Lene Wertheim zur Welt. Die Wertheims sind eine alteingesessene jüdische Familie mit festen Grundsätzen: Man feiert Weihnachten als prunkvolles Familienfest - zum Entsetzen der orthodoxen Verwandtschaft. 'Die Juden sind wie alle anderen, und wenn sie es nicht sind, sollten sie es sein', erklärt Eduard Wertheim, Bankier, Kunstsammler und Mäzen, seinen Nichten und Neffen. Lene erhält 1938 in Paris für sich, ihren zweiten Mann und ihre Tochter Ausreisevisa für die USA. Aber nicht alle Wertheims haben das Glück, sich rechtzeitig vor den Nazis in Sicherheit bringen zu können. Silvia Tennenbaum berichtet in kraftvollen Bildern vom Aufstieg einer jüdischen Familie im Kaiserreich, begleitet ihre verschlungenen Wege durch die Weimarer Republik und lässt uns Leser Flucht und Tod im 'Dritten Reich', Vertreibung und Rettung eindringlich miterleben. Ein großer, epischer Roman unserer Zeit.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 26.04.2012Die jüdischen Buddenbrooks
Frankfurt liest mit "Die Straßen von gestern" einen Roman, der von Silvia Tennenbaums Familie handelt. Ihre Frankfurter Kindheit hat die amerikanische Autorin geprägt.
Von Hans Riebsamen
Sie ist die Frau eines Rabbiners gewesen. Und so verbergen sich in ihrem Erstlingsroman "Rachel, The Rabbi's Wife" denn auch viele autobiographische Elemente. Mit diesem 1978 erschienen Buch hat Silvia Tennenbaum einen Treffer beim amerikanischen Lesepublikum gelandet: "Dieser Bestseller brachte mir das Geld ein, um meinen Rabbi zu verlassen", erzählt die mittlerweile 84 Jahre alte Schriftstellerin mit der markanten blauen Strähne in ihren schneeweißen Haaren. Der Rabbi hatte etwas zu sehr die Frauen geliebt.
Silvia Tennenbaum hätte weitere Rabbi-Geschichten schreiben können. Sie hätten sich vermutlich ebenfalls gut verkauft. Doch sie hatte Höheres im Sinn: "Jetzt schreibe ich ein seriöses Buch", sagte sich die Autorin - und legte die Messlatte gleich ganz hoch. Ihr neuer Roman sollte eine jüdische Variante der "Buddenbrooks" werden, jener Lübecker Familiensaga, mit welcher der von ihr verehrte Thomas Mann einst seinen Durchbruch geschafft hatte.
Literarisch ist Tennenbaum dieser Versuch in gewisser Weise gelungen, auch wenn sie sich nicht mit dem Großschriftsteller Mann vergleichen kann. Beim Publikum aber sind ihre "Straßen von gestern" durchgefallen. In Amerika und auch in Deutschland. Der Verlag Random House hatte sich für teures Geld die Rechte an diesem jüdischen Familienroman gesichert, aber damit zu seiner und zur Enttäuschung der Autorin kein großes Geschäft gemacht. Auch der Knaus-Verlag in Hamburg, der zwei Jahre später, 1983, das Werk in einer deutschen Übersetzung herausbrachte, verkaufte das Buch nur mäßig.
Dreißig Jahre später entdeckt nun eine neue Generation von Lesern die "Straßen von gestern" und so auch eine Autorin, die in Frankfurt zur Welt kam und in fortgeschrittenem Alter auf wundersame Weise wieder eine Frankfurterin geworden ist. Der Roman spiegelt in der fiktiven Geschichte der Familie Wertheim auch die reale Geschichte der Frankfurter Familien Hirsch, Stern und Pfeiffer-Belli; Tennenbaum ist eine geborene Pfeiffer-Belli. Nun ist das Werk als Lektüre für die diesjährige Aktion "Frankfurt liest ein Buch" ausgewählt worden. Damit bekommt diese deutsch-jüdische Familiensaga endlich die ihr gebührende Aufmerksamkeit.
Als der Verleger Klaus Schöffling der Autorin im vergangenen Sommer mitteilte, das Buch sei für die Leseaktion ausgewählt worden und sein Verlag werde es neu auflegen, konnte Tennenbaun dies zuerst beinahe nicht glauben: "Ich bin nie ganz sprachlos, aber damals war ich es fast", berichtet sie. Tatsächlich kann man sich schwer vorstellen, dass Silvia Tennenbaum ob der guten Nachricht gar keine Worte mehr gefunden hat. Denn auf den Mund gefallen ist diese humorvolle Frau nun wirklich nicht. Unentwegt fallen ihr Geschichten und Erlebnisse ein, und erstaunlicherweise hat sie dazu trotz ihres hohen Alters alle Namen und Orte noch parat.
Der Steinberg, so erzählt sie zum Beispiel, habe eine riesige Nase gehabt, eine "typisch jüdische Nase". Deshalb wurde er in der Familie "Popel" genannt. Dabei war dieser Hans Wilhelm Steinberg ein berühmter Dirigent, von 1929 bis 1933 Generalmusikdirektor an der Frankfurter Oper, in der Emigration Gründer des Palestine Orchestra, danach ein Star am Pult der ersten amerikanischen Orchester - und der Stiefvater von Silvia Tennenbaum. In Steinbergs Familie wurde nicht über den Holocaust geredet, obwohl Steinberg selbst ein Verfolgter war. Überhaupt war dieses Thema im Amerika der fünfziger und sechziger Jahre ein Tabu. Auch Silvia Tennenbaum, wiewohl im Gegensatz zu ihrem geliebten Stiefvater immer politisch interessiert und später engagiert in der amerikanischen Bürgerrechtsbewegung, hat sich erst in späteren Jahren mit der Verfolgung und Vernichtung der Juden im "Dritten Reich" beschäftigt.
Die Kindheit in Frankfurt, wo Tennenbaum ihre ersten acht Lebensjahre verbrachte, hat sich tief eingeprägt. Der Palmengarten, die Oper, das Städel sind ihr als Orte des Glücks in Erinnerung geblieben. Bevor sie als junges Mädchen Frankfurt Richtung Basel verließ, hat sie mit ihrer Mutter noch einmal das Städel besucht. Dass es ein Abschied für sehr lange Zeit werden würde, war ihr nicht bewusst. Sie dachte, sie würde nur Ferien in der Schweiz machen. Tatsächlich begann mit dem Aufenthalt bei ihrer Tante in Basel die Auswanderung ihrer Familie, die in New York endete.
"Straßen von gestern" hat Silvia Tennenbaum erst in Angriff genommen, als die meisten Angehörigen aus der Generation des Exils gestorben waren. "Ich hätte mir sonst nur Feinde gemacht", sagt sie. Denn dieses 650 Seiten umfassende Werk ist mehr oder weniger ein Schlüsselroman. Das Vorbild für Eduard Wertheim, im Buch von allen Onkel Edu genannt, ist ihr Großonkel Robert von Hirsch. Er hat tatsächlich das Unheil früh kommen sehen und ist wie sein Alter Ego Edu bald nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten in die Schweiz emigriert. Großonkel Robert war mit dem Städeldirektor Georg Swarzenski befreundet und hatte eine Kunstsammlung zusammengetragen, die später in London versteigert wurde. Vorbild für Helene Wertheim, im Roman Lene genannt und dort neben Edu die heimliche Hauptfigur, war Silvia Tennenbaums Mutter Lotti Stern. "Eigentlich ist es ihr Buch", sagt die Autorin.
Sie hat einen Frankfurt-Roman geschrieben, obwohl sie nur die ersten acht Jahre ihres Lebens hier verbracht hat. Die Geschichte und das Personal hat ihre Familie geliefert, für die Frankfurter Impressionen sorgten diverse Fotoalben aus dem Familienbesitz, reich illustrierte Bände über das alte Frankfurt - und die Kindheitserinnerung. Mit eigenen Augen hat Tennenbaum ihre Vaterstadt erst wieder in den siebziger Jahren gesehen. Der erste Besuch verlief enttäuschend. Die alten Straßen sahen ganz anders aus als in ihren Erinnerungen. Tennenbaum erkannte die Stadt kaum wieder, und sie kannte niemanden.
Das hat sich geändert: Die Schriftstellerin ist wieder Frankfurterin geworden, Halb-Frankfurterin vielmehr, denn ihr Lebensmittelpunkt ist immer noch Amerika. Doch sie verbringt viel Zeit in Frankfurt und hat hier mittlerweile mehr Freunde als in East Hampton, wo sie wohnt. Sie wird im Gedächtnis der Stadt bleiben. Denn ihren deutschsprachigen Nachlass hat sie der "Bibliothek der Alten" im Historischen Museum überlassen. Jetzt fehlt Silvia Tennenbaum zu ihrem Glück nur noch ein Verlag, der ihren Baseball-Roman herausbringt. Das Manuskript liegt seit langem vor.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Frankfurt liest mit "Die Straßen von gestern" einen Roman, der von Silvia Tennenbaums Familie handelt. Ihre Frankfurter Kindheit hat die amerikanische Autorin geprägt.
Von Hans Riebsamen
Sie ist die Frau eines Rabbiners gewesen. Und so verbergen sich in ihrem Erstlingsroman "Rachel, The Rabbi's Wife" denn auch viele autobiographische Elemente. Mit diesem 1978 erschienen Buch hat Silvia Tennenbaum einen Treffer beim amerikanischen Lesepublikum gelandet: "Dieser Bestseller brachte mir das Geld ein, um meinen Rabbi zu verlassen", erzählt die mittlerweile 84 Jahre alte Schriftstellerin mit der markanten blauen Strähne in ihren schneeweißen Haaren. Der Rabbi hatte etwas zu sehr die Frauen geliebt.
Silvia Tennenbaum hätte weitere Rabbi-Geschichten schreiben können. Sie hätten sich vermutlich ebenfalls gut verkauft. Doch sie hatte Höheres im Sinn: "Jetzt schreibe ich ein seriöses Buch", sagte sich die Autorin - und legte die Messlatte gleich ganz hoch. Ihr neuer Roman sollte eine jüdische Variante der "Buddenbrooks" werden, jener Lübecker Familiensaga, mit welcher der von ihr verehrte Thomas Mann einst seinen Durchbruch geschafft hatte.
Literarisch ist Tennenbaum dieser Versuch in gewisser Weise gelungen, auch wenn sie sich nicht mit dem Großschriftsteller Mann vergleichen kann. Beim Publikum aber sind ihre "Straßen von gestern" durchgefallen. In Amerika und auch in Deutschland. Der Verlag Random House hatte sich für teures Geld die Rechte an diesem jüdischen Familienroman gesichert, aber damit zu seiner und zur Enttäuschung der Autorin kein großes Geschäft gemacht. Auch der Knaus-Verlag in Hamburg, der zwei Jahre später, 1983, das Werk in einer deutschen Übersetzung herausbrachte, verkaufte das Buch nur mäßig.
Dreißig Jahre später entdeckt nun eine neue Generation von Lesern die "Straßen von gestern" und so auch eine Autorin, die in Frankfurt zur Welt kam und in fortgeschrittenem Alter auf wundersame Weise wieder eine Frankfurterin geworden ist. Der Roman spiegelt in der fiktiven Geschichte der Familie Wertheim auch die reale Geschichte der Frankfurter Familien Hirsch, Stern und Pfeiffer-Belli; Tennenbaum ist eine geborene Pfeiffer-Belli. Nun ist das Werk als Lektüre für die diesjährige Aktion "Frankfurt liest ein Buch" ausgewählt worden. Damit bekommt diese deutsch-jüdische Familiensaga endlich die ihr gebührende Aufmerksamkeit.
Als der Verleger Klaus Schöffling der Autorin im vergangenen Sommer mitteilte, das Buch sei für die Leseaktion ausgewählt worden und sein Verlag werde es neu auflegen, konnte Tennenbaun dies zuerst beinahe nicht glauben: "Ich bin nie ganz sprachlos, aber damals war ich es fast", berichtet sie. Tatsächlich kann man sich schwer vorstellen, dass Silvia Tennenbaum ob der guten Nachricht gar keine Worte mehr gefunden hat. Denn auf den Mund gefallen ist diese humorvolle Frau nun wirklich nicht. Unentwegt fallen ihr Geschichten und Erlebnisse ein, und erstaunlicherweise hat sie dazu trotz ihres hohen Alters alle Namen und Orte noch parat.
Der Steinberg, so erzählt sie zum Beispiel, habe eine riesige Nase gehabt, eine "typisch jüdische Nase". Deshalb wurde er in der Familie "Popel" genannt. Dabei war dieser Hans Wilhelm Steinberg ein berühmter Dirigent, von 1929 bis 1933 Generalmusikdirektor an der Frankfurter Oper, in der Emigration Gründer des Palestine Orchestra, danach ein Star am Pult der ersten amerikanischen Orchester - und der Stiefvater von Silvia Tennenbaum. In Steinbergs Familie wurde nicht über den Holocaust geredet, obwohl Steinberg selbst ein Verfolgter war. Überhaupt war dieses Thema im Amerika der fünfziger und sechziger Jahre ein Tabu. Auch Silvia Tennenbaum, wiewohl im Gegensatz zu ihrem geliebten Stiefvater immer politisch interessiert und später engagiert in der amerikanischen Bürgerrechtsbewegung, hat sich erst in späteren Jahren mit der Verfolgung und Vernichtung der Juden im "Dritten Reich" beschäftigt.
Die Kindheit in Frankfurt, wo Tennenbaum ihre ersten acht Lebensjahre verbrachte, hat sich tief eingeprägt. Der Palmengarten, die Oper, das Städel sind ihr als Orte des Glücks in Erinnerung geblieben. Bevor sie als junges Mädchen Frankfurt Richtung Basel verließ, hat sie mit ihrer Mutter noch einmal das Städel besucht. Dass es ein Abschied für sehr lange Zeit werden würde, war ihr nicht bewusst. Sie dachte, sie würde nur Ferien in der Schweiz machen. Tatsächlich begann mit dem Aufenthalt bei ihrer Tante in Basel die Auswanderung ihrer Familie, die in New York endete.
"Straßen von gestern" hat Silvia Tennenbaum erst in Angriff genommen, als die meisten Angehörigen aus der Generation des Exils gestorben waren. "Ich hätte mir sonst nur Feinde gemacht", sagt sie. Denn dieses 650 Seiten umfassende Werk ist mehr oder weniger ein Schlüsselroman. Das Vorbild für Eduard Wertheim, im Buch von allen Onkel Edu genannt, ist ihr Großonkel Robert von Hirsch. Er hat tatsächlich das Unheil früh kommen sehen und ist wie sein Alter Ego Edu bald nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten in die Schweiz emigriert. Großonkel Robert war mit dem Städeldirektor Georg Swarzenski befreundet und hatte eine Kunstsammlung zusammengetragen, die später in London versteigert wurde. Vorbild für Helene Wertheim, im Roman Lene genannt und dort neben Edu die heimliche Hauptfigur, war Silvia Tennenbaums Mutter Lotti Stern. "Eigentlich ist es ihr Buch", sagt die Autorin.
Sie hat einen Frankfurt-Roman geschrieben, obwohl sie nur die ersten acht Jahre ihres Lebens hier verbracht hat. Die Geschichte und das Personal hat ihre Familie geliefert, für die Frankfurter Impressionen sorgten diverse Fotoalben aus dem Familienbesitz, reich illustrierte Bände über das alte Frankfurt - und die Kindheitserinnerung. Mit eigenen Augen hat Tennenbaum ihre Vaterstadt erst wieder in den siebziger Jahren gesehen. Der erste Besuch verlief enttäuschend. Die alten Straßen sahen ganz anders aus als in ihren Erinnerungen. Tennenbaum erkannte die Stadt kaum wieder, und sie kannte niemanden.
Das hat sich geändert: Die Schriftstellerin ist wieder Frankfurterin geworden, Halb-Frankfurterin vielmehr, denn ihr Lebensmittelpunkt ist immer noch Amerika. Doch sie verbringt viel Zeit in Frankfurt und hat hier mittlerweile mehr Freunde als in East Hampton, wo sie wohnt. Sie wird im Gedächtnis der Stadt bleiben. Denn ihren deutschsprachigen Nachlass hat sie der "Bibliothek der Alten" im Historischen Museum überlassen. Jetzt fehlt Silvia Tennenbaum zu ihrem Glück nur noch ein Verlag, der ihren Baseball-Roman herausbringt. Das Manuskript liegt seit langem vor.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
»Die jüdischen Buddenbrooks.« Hans Riebsamen, Frankfurter Allgemeine Zeitung