Mary Hoffmans große Fantasy-Trilogie um die Stravaganza - die geheimnisvolle Fähigkeit, durch Zeit und Raum zu reisen - geht weiter. Dieser Band entführt in das faszinierende Remora, in dem alle Einwohner einem atemberaubenden Pferderennen entgegenfiebern. Georgia, eine neue Zeitreisende, muss hier im Strudel widerstreitender Interessen und gefährlichster Intrigen bestehen.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 31.01.2004Das venezianische Notizbuch
Mary Hoffmans prächtig inszenierte "Stravaganza"
Aus dem banalen Hier und Heute in eine ferne Vergangenheit zu schweifen ist ebenso reizvoll wie ein futuristisches Abenteuer in fremden Galaxien. Der historische Roman und die Science-fiction-Literatur leben von der Sehnsucht ihres Publikums, sich aus der Realität wegzuträumen. Wie aber, wenn es tatsächlich einen Übergang zu einer anderen realen Welt gäbe, mit dem das Raum-Zeit-Kontinuum durchbrochen würde? Der fünfzehn Jahre alte Londoner Junge Lucien, dem der erste Zyklus seiner Chemotherapie fast alle Lebenskraft genommen hat, findet einen solchen Übergang eines Abends, nachdem ihm sein Vater ein Notizbuch mit marmoriertem Einband in die Hand gelegt hat. Es war bei einer Wohnungsauflösung zum Vorschein gekommen, und während Lucien den Vater noch von Venedig erzählen hört, wo das Buch gemacht worden sei, schläft er ein.
Das Notizbuch wurde jedoch von einem Stravagante, einem Zeitreisenden des sechzehnten Jahrhunderts, in das heutige London gebracht, um dort seinem vom Schicksal ausersehenen Empfänger als Talisman zugespielt zu werden. Es stammt aus einer Papierwerkstatt in Bellezza, der Stadt der Masken, auf deren Domplatz sich Lucien unversehens wiederfindet. Dabei schwebt er in großer Gefahr, denn es ist der Giornata Vietata, der "Verbotene Tag" nach der symbolischen Vermählung der bellezzanischen Regentin mit dem Meer, an dem sich bei Todesstrafe keine Fremden in der Stadt aufhalten dürfen. Gut, daß die gleichaltrige Arianna den Ahnungslosen rechtzeitig entdeckt und in Sicherheit bringt.
Die Begegnung mit ihr wird zum Beginn einer unverbrüchlichen, wenn auch nicht spannungsfreien Freundschaft. Welche besondere Aufgabe den beiden zum Wohle der Stadt zugedacht ist und daß sie letztlich auch füreinander bestimmt sind, enthüllt sich gegen Ende des Romans. Zusammen mit Lucien taucht der Leser erst einmal in eine geheimnisvolle Welt, die zwischen dem leichtherzigen Lebensgefühl "bella Talias" und den erbarmungslosen Kämpfen um Reichtum und Macht changiert. Das historische Venedig mit seinen Palästen und Plätzen, seinen modrigen Verliesen und dem Gewirr an Kanälen bildet die Kulisse für ein prachtvolles Schauspiel über Wahrheit und Täuschung, Vernunft und Magie, ein Mordkomplott und nicht zuletzt über das Schicksal der Liebenden.
Bellezza ist das Venedig Castigliones, inszeniert mit der eleganten Theatralik Veroneses und ausgestattet mit Tizians farbenprächtigen Roben. Im Zentrum der Macht steht Silvia, die seit einem Vierteljahrhundert ihre Rolle als göttinnengleiche Duchessa spielt. Sie hat ihren Untertanen Wohlstand beschert und politische Unabhängigkeit gegenüber den Gelüsten der remanischen Sippe di Chimici bewahrt. Doch in dem aufstrebenden Rinaldo di Chimici trifft sie auf einen skrupellosen Gegner. Ihr politischer Berater und intimer Freund Rodolfo erkennt die Gefahr. Er ist Naturwissenschaftler, Magier und Mitglied der Stravaganza-Bruderschaft. Diese hatte ihn ins einundzwanzigste Jahrhundert gesandt, um das kleine Notizbuch zu hinterlegen und damit einen Retter nach Bellezza zu holen.
Der schwerkranke Lucien wird zu einem Vaganten zwischen zwei Welten. Während sein matter Körper zu Hause bewußtlos im Bett liegt, agiert er leibhaftig und gesund in der talianischen Lagunenstadt. Er richtet sein Denken und Fühlen ganz auf die neue Welt aus. Immer mehr zieht es ihn an die Seite Adriannas oder in Rodolfos Laboratorium, wo die phantastischsten Feuerwerkskörper entstehen. Er wächst in seine neue Existenz hinein und wird unmerklich auf seine künftige Aufgabe als Rodolfos Nachfolger vorbereitet. Die Kräftigung, die er in seinem Londoner Leben spürt, ist denn auch trügerisch. Kaum noch wechselt der Schauplatz zwischen England und Talia: ein Indiz, daß Lucien dieser Welt schon nicht mehr angehört.
"Stadt der Masken" ist der erste Teil einer Trilogie, deren Grundidee bestechend ist. Noch dazu ist sie hervorragend realisiert. Die englische Kinderbuchautorin Mary Hoffman ist eine begeisterte Italien-Kennerin; entsprechend überzeugend ist ihre atmosphärische Schilderung Venedigs in seiner Mischung aus Schönheit und Morbidität, festlichem Prunk und Abgründigem. Das Figurenrepertoire ist breit angelegt. Von der wenig liebenswerten Duchessa über den scharfsichtigen Rodolfo bis zu den braungebrannten Merlinofischern bleibt kein Wunsch offen. Ihr labyrinthisches Beziehungsgeflecht, das erst im letzten Drittel der Geschichte zutage tritt, hat Mary Hoffman genauso bedächtig gewoben, wie sie auch das Spiegelmotiv einsetzt. Es kommt auf die Blickrichtung an - Luciens unausweichlicher Tod erhält vor dem Hintergrund seiner kräftezehrenden Stravaganza etwas Tröstliches, denn es ist nur konsequent, daß er in der einen Welt sein Leben lassen muß, um es in der anderen ganz zu gewinnen. Den Sterblichen ist eben doch nur eine Welt zugedacht.
MARTINA WEHLTE
Mary Hoffman: "Stravaganza". Stadt der Masken. Aus dem Englischen übersetzt von Eva Riekert. Arena Verlag, Würzburg 2003. 353 S., geb., 14,90 [Euro]. Ab 12 J.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Mary Hoffmans prächtig inszenierte "Stravaganza"
Aus dem banalen Hier und Heute in eine ferne Vergangenheit zu schweifen ist ebenso reizvoll wie ein futuristisches Abenteuer in fremden Galaxien. Der historische Roman und die Science-fiction-Literatur leben von der Sehnsucht ihres Publikums, sich aus der Realität wegzuträumen. Wie aber, wenn es tatsächlich einen Übergang zu einer anderen realen Welt gäbe, mit dem das Raum-Zeit-Kontinuum durchbrochen würde? Der fünfzehn Jahre alte Londoner Junge Lucien, dem der erste Zyklus seiner Chemotherapie fast alle Lebenskraft genommen hat, findet einen solchen Übergang eines Abends, nachdem ihm sein Vater ein Notizbuch mit marmoriertem Einband in die Hand gelegt hat. Es war bei einer Wohnungsauflösung zum Vorschein gekommen, und während Lucien den Vater noch von Venedig erzählen hört, wo das Buch gemacht worden sei, schläft er ein.
Das Notizbuch wurde jedoch von einem Stravagante, einem Zeitreisenden des sechzehnten Jahrhunderts, in das heutige London gebracht, um dort seinem vom Schicksal ausersehenen Empfänger als Talisman zugespielt zu werden. Es stammt aus einer Papierwerkstatt in Bellezza, der Stadt der Masken, auf deren Domplatz sich Lucien unversehens wiederfindet. Dabei schwebt er in großer Gefahr, denn es ist der Giornata Vietata, der "Verbotene Tag" nach der symbolischen Vermählung der bellezzanischen Regentin mit dem Meer, an dem sich bei Todesstrafe keine Fremden in der Stadt aufhalten dürfen. Gut, daß die gleichaltrige Arianna den Ahnungslosen rechtzeitig entdeckt und in Sicherheit bringt.
Die Begegnung mit ihr wird zum Beginn einer unverbrüchlichen, wenn auch nicht spannungsfreien Freundschaft. Welche besondere Aufgabe den beiden zum Wohle der Stadt zugedacht ist und daß sie letztlich auch füreinander bestimmt sind, enthüllt sich gegen Ende des Romans. Zusammen mit Lucien taucht der Leser erst einmal in eine geheimnisvolle Welt, die zwischen dem leichtherzigen Lebensgefühl "bella Talias" und den erbarmungslosen Kämpfen um Reichtum und Macht changiert. Das historische Venedig mit seinen Palästen und Plätzen, seinen modrigen Verliesen und dem Gewirr an Kanälen bildet die Kulisse für ein prachtvolles Schauspiel über Wahrheit und Täuschung, Vernunft und Magie, ein Mordkomplott und nicht zuletzt über das Schicksal der Liebenden.
Bellezza ist das Venedig Castigliones, inszeniert mit der eleganten Theatralik Veroneses und ausgestattet mit Tizians farbenprächtigen Roben. Im Zentrum der Macht steht Silvia, die seit einem Vierteljahrhundert ihre Rolle als göttinnengleiche Duchessa spielt. Sie hat ihren Untertanen Wohlstand beschert und politische Unabhängigkeit gegenüber den Gelüsten der remanischen Sippe di Chimici bewahrt. Doch in dem aufstrebenden Rinaldo di Chimici trifft sie auf einen skrupellosen Gegner. Ihr politischer Berater und intimer Freund Rodolfo erkennt die Gefahr. Er ist Naturwissenschaftler, Magier und Mitglied der Stravaganza-Bruderschaft. Diese hatte ihn ins einundzwanzigste Jahrhundert gesandt, um das kleine Notizbuch zu hinterlegen und damit einen Retter nach Bellezza zu holen.
Der schwerkranke Lucien wird zu einem Vaganten zwischen zwei Welten. Während sein matter Körper zu Hause bewußtlos im Bett liegt, agiert er leibhaftig und gesund in der talianischen Lagunenstadt. Er richtet sein Denken und Fühlen ganz auf die neue Welt aus. Immer mehr zieht es ihn an die Seite Adriannas oder in Rodolfos Laboratorium, wo die phantastischsten Feuerwerkskörper entstehen. Er wächst in seine neue Existenz hinein und wird unmerklich auf seine künftige Aufgabe als Rodolfos Nachfolger vorbereitet. Die Kräftigung, die er in seinem Londoner Leben spürt, ist denn auch trügerisch. Kaum noch wechselt der Schauplatz zwischen England und Talia: ein Indiz, daß Lucien dieser Welt schon nicht mehr angehört.
"Stadt der Masken" ist der erste Teil einer Trilogie, deren Grundidee bestechend ist. Noch dazu ist sie hervorragend realisiert. Die englische Kinderbuchautorin Mary Hoffman ist eine begeisterte Italien-Kennerin; entsprechend überzeugend ist ihre atmosphärische Schilderung Venedigs in seiner Mischung aus Schönheit und Morbidität, festlichem Prunk und Abgründigem. Das Figurenrepertoire ist breit angelegt. Von der wenig liebenswerten Duchessa über den scharfsichtigen Rodolfo bis zu den braungebrannten Merlinofischern bleibt kein Wunsch offen. Ihr labyrinthisches Beziehungsgeflecht, das erst im letzten Drittel der Geschichte zutage tritt, hat Mary Hoffman genauso bedächtig gewoben, wie sie auch das Spiegelmotiv einsetzt. Es kommt auf die Blickrichtung an - Luciens unausweichlicher Tod erhält vor dem Hintergrund seiner kräftezehrenden Stravaganza etwas Tröstliches, denn es ist nur konsequent, daß er in der einen Welt sein Leben lassen muß, um es in der anderen ganz zu gewinnen. Den Sterblichen ist eben doch nur eine Welt zugedacht.
MARTINA WEHLTE
Mary Hoffman: "Stravaganza". Stadt der Masken. Aus dem Englischen übersetzt von Eva Riekert. Arena Verlag, Würzburg 2003. 353 S., geb., 14,90 [Euro]. Ab 12 J.
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