Letztes Jahr erschien Antanas Sutkus „children“, eine retrospektive Zusammenstellung von Fotos aus der sowjetischen Besatzungszeit in Litauen. Es war meine erste Berührung mit diesem Künstler, dessen Fähigkeit, für seine fotografierte Umwelt „unsichtbar“ zu werden, mich sehr beeindruckt hat. Seine
Bilder sind absolut natürlich, unbefangen und besitzen sowohl nostalgischen Charme als auch ein…mehrLetztes Jahr erschien Antanas Sutkus „children“, eine retrospektive Zusammenstellung von Fotos aus der sowjetischen Besatzungszeit in Litauen. Es war meine erste Berührung mit diesem Künstler, dessen Fähigkeit, für seine fotografierte Umwelt „unsichtbar“ zu werden, mich sehr beeindruckt hat. Seine Bilder sind absolut natürlich, unbefangen und besitzen sowohl nostalgischen Charme als auch ein untrügliches Gespür für Bildaufbau und Ästhetik. Sie fangen auch Stimmungen und Gefühle ein, wie man es nur in wirklich guter Reportagefotografie sieht.
„street life“ bedient sich aus demselben historischen Archivfundus und dokumentiert das öffentliche Leben im sowjetischen Litauen. Die Fotos stammen mehrheitlich aus den Sechziger- bis frühen Siebzigerjahren. Szenen, wie man sie im Nachkriegsdeutschland auch noch gesehen hat: Die Straßen auf dem Land noch unbefestigt, Häuser und Infrastruktur oft im Zustand beklagenswerten Verfalls. Ein gewisser Fatalismus durchzieht die Bilder, gleichzeitig spürt man aber auch die intakten sozialen Strukturen. Eine menschenfreundliche Herzlichkeit, gegenseitige Unterstützung und der unbändige Wille, sich mit dem einzurichten, was man hat, verbindet Menschen und Situationen. Vielleicht ist das ein Automatismus in einer Mangelwirtschaft, aber die menschlichen Bedürfnisse verschwinden natürlich nicht. Auffällig ist, dass die jungen Erwachsenen großen Wert auf ein gepflegtes Äußeres legen, oft auf modischer Augenhöhe mit dem Westen, während die Älteren einen eher bäuerlichen Stil pflegen, mit Kopftuch, Kittelschürze, Schiebermütze und Drillich. Und doch hat man nicht den Eindruck, dass die Gesellschaft in irgendeiner Weise gespalten wäre.
Thomas Schirmböck stellt in seinem Nachwort fest, dass Sutkus keine „Ereignisse“ fotografiert, sondern den Moment „dazwischen“. Ganz falsch ist das nicht, aber meiner Meinung nach auch nicht ganz richtig. Die Fotos sind natürlich keine boulevardeske Sensationsfotografie. Es ist auch keine kritische Sozialfotografie (das hätten die Machthaber rasch unterbunden), aber die „Ereignisse“ finden dennoch im Bild statt, selbst wenn sie nicht direkt gezeigt werden. Sie spiegeln sich in den Gesichtern, in den Haltungen, den Gesten. Für mich sind die Fotos am interessantesten, bei denen man glaubt, Gedanken lesen zu können. Das Titelbild ist ein wunderbares Beispiel dafür: Es transportiert eine Stimmung, eine freundliche Atmosphäre und einen leisen Humor, ohne dass im Bild selber etwas passiert. Dieses Wissen um das nicht Sichtbare findet sich in nahezu jeder Szene wieder.
Antanas Sutkus wird als äußerst umgänglich, menschenfreundlich und empathisch beschrieben. Genau diese Eigenschaften haben auch seine Bilder.
(Dieses Buch wurde mir vom Verlag kostenfrei zur Verfügung gestellt. Auf meine Rezension wurde kein Einfluss genommen, der Inhalt stellt meine persönliche Meinung dar.)