Die deutsche Geschichte des 20. Jahrhunderts steht im Zeichen von Zusammenbrüchen, Katastrophen und Neuanfängen. Die Ursachen dieser Entwicklung reichen tief in die Vergangenheit zurück, und sie sind bis heute umstritten. Der bekannte Berliner Historiker Heinrich August Winkler behandelt in meisterlich geschriebenen Essays einige dieser Streitfragen. Von Marx und Lenin ist die Rede, von der Vermeidbarkeit Hitlers, von den Wandlungen des deutschen Nationalismus, vom Weg der deutschen Demokratie von der Weimarer über die Bonner bis zur Berliner Republik.
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 24.10.1997Wer kennt die Logik der Geschichte?
Heinrich August Winkler beantwortet postnationale Fragen
Heinrich August Winkler: Streitfragen der deutschen Geschichte. Essays zum 19. und 20. Jahrhundert. Verlag C. H. Beck, München 1997. 170 Seiten, 38,- Mark.
Vor elf Jahren sah der Historiker Heinrich August Winkler über die Zukunft Deutschlands klar: "Das Reich von 1871 ist an den Deutschen selbst gescheitert. Angesichts der Rolle, die Deutschland bei der Entstehung der beiden Weltkriege gespielt hat, kann Europa und sollten auch die Deutschen ein neues Deutsches Reich, einen souveränen Nationalstaat, nicht mehr wollen. Das ist die Logik der Geschichte, und die ist nach Bismarcks Wort genauer als die preußische Oberrechenkammer." Dieser Zeitung warf Winkler damals vor, auf einer "national-apologetischen Welle" zu schwimmen und "lauter als jemals seit den fünfziger Jahren" nach der Wiedervereinigung Deutschlands zu rufen.
Winklers Irrtum war im politischen Establishment der alten Bundesrepublik weit verbreitet. Aber Winkler - er ist heute Professor für Neuere und Neueste Geschichte in Berlin - teilte ihn nicht nur. Er war einer seiner Urheber. Denn Winkler ist einer der führenden Nationalismusforscher der Republik. Seine Prognose war die Summe zwanzigjähriger Befassung mit den Phänomenen Nation und Nationalstaat. Es ist aufschlußreich, zu beobachten, wie Winkler jetzt mit der Wiedervereinigung zu Rande kommt. Wer es tut, erhält einen Eindruck von der intellektuellen Entwicklung jenes Teils des alten westdeutschen Establishments, dem am 9. November 1989 das Weltbild abhanden kam.
In seinem Aufsatzband redet Winkler auch über Karl Marx und die Weimarer Republik - vor allem aber über den deutschen Nationalstaat, den zerbrochenen und den wiedergewonnenen. Sein kleines Buch ist der Versuch, wieder festen historischen Boden unter die Füße zu bekommen. Wer nun erwartet, Winkler würde alte Positionen grundsätzlich in Frage stellen, täuscht sich. Den Irrtum über die "Logik der Geschichte" hat er einsehen müssen. Von den alten Prämissen trennt er sich nur ungern.
Eigentlich, impliziert er, habe er 1986 sogar recht gehabt. Denn die Teilung habe damals eine wichtige Funktion erfüllt. Verantwortungsbewußte Menschen hätten sich die Einheit gar nicht wünschen dürfen. Winkler wörtlich: "Als die DDR sich 1989 in einen potentiellen internationalen Krisenherd verwandelte, konnte die Zweiteilung Deutschlands auch nicht mehr die Funktion erfüllen, die ihr in den Jahrzehnten zuvor zugefallen war: Ein Unterpfand zu sein für das Gleichgewicht zwischen Ost und West und damit eine Bedingung für die relative Stabilität in Europa." Das klingt, als wollte Winkler sich bei Moskau noch bedanken für vierzigjährige Sorge um die Stabilität Europas. Er hat schon wieder vergessen, wie die Teilung Deutschlands mit der Teilung Europas zusammenhing und welche Funktion die DDR tatsächlich ausfüllte: die des Ecksteins in Moskaus osteuropäischem Imperium.
Schon 1976 beschrieb Karl Dietrich Bracher die Bundesrepublik als "postnationale Demokratie". Die Formel gab nicht nur die Einheit Deutschlands, sondern der Einfachheit halber auch gleich die Nation preis. Winkler lobt sie noch immer als "Beitrag zur Selbstanerkennung der Bundesrepublik" und entschuldigt seinen Irrtum über die "Logik der Geschichte" mit ebenjener angeblichen "postnationalen Identität der alten Bundesrepublik". Was ihn nicht hindert, gleichzeitig der Bundesregierung vorzuhalten, sie habe 1990 versäumt, mit einem "Ruf nach nationaler Solidarität" moralische und materielle Energien im Lande freizusetzen. Wie der die "postnationalen" Westdeutschen hätte erreichen sollen, bleibt sein Geheimnis.
Irgendwann in den vergangenen sieben Jahren müssen ihm allerdings Zweifel gekommen sein. Eine Art "Lebenslüge", überlegt er im Schutze mehrerer Fragezeichen, könnte das ",postnationale' Lebensgefühl" vieler Westdeutscher gewesen sein, wenn nicht Schlimmeres: "War die kategorische Absage an die staatliche Einheit nicht vielleicht sogar ein halb bewußter, halb unbewußter Versuch, dem schrecklichsten Kapitel der deutschen Geschichte ein für allemal zu entkommen, es definitiv zu ,entsorgen'"? Den Vorwurf, die deutsche Vergangenheit "entsorgen" zu wollen, hat zuletzt Winklers Kollege Hans-Ulrich Wehler finsteren "neokonservativen Revisionisten" gemacht. Winkler gibt ihn nun an das eigene linksliberale Lager zurück. Das kann ihn unter alten Freunden und Kollegen Sympathiepunkte kosten.
Ganz nebenbei gestattet Winkler Einblicke in die Empfindungswelt eines "postnationalen" Nationalismus-Spezialisten während der Wiedervereinigung. An die Landsleute aus dem Osten, liest man amüsiert, hat er sich nur schwer gewöhnen können: "Die Ostdeutschen hatten, anders als die Westdeutschen, keine Chance gehabt, sich in ,Europäer' und ,Weltbürger' zu verwandeln; sie waren auf eine Weise, die intellektuelle Altbundesbürger zutiefst befremdete, ,deutsch', wenn nicht gar ,deutsch-national' geblieben."
Nun sind die "Postnationalen" also mit den "Deutsch-Nationalen" vereint. Für die neue Bundesrepublik taugt das "postnationale" Etikett nicht mehr. Das sieht auch Winkler. Den "Fortschritt gegenüber dem traditionellen deutschen Nationalismus" und den "Gewinn an politischer Kultur", der ihm das Präfix "post" bedeutet, will er sich allerdings nicht mehr abhandeln lassen. Das wiedervereinte Deutschland sei kein "souveräner Nationalstaat der klassischen Art" mehr. Winkler spricht vom "postklassischen Nationalstaat", der klassische Souveränitätsrechte an supranationale Gemeinschaften wie die Europäische Union und die Nato abgegeben habe. An Souveränität gewonnen hat Deutschland nach der Wiedervereinigung gleichwohl.
Winkler glaubt zu wissen, wie es sie einzusetzen hat. Die alte Bundesrepublik habe sich aus vielen Weltkonflikten heraushalten können. Das wiedervereinte Deutschland, so Winkler, müsse auch auf militärischem Gebiet mehr Verantwortung übernehmen und "eine konstruktive Rolle in Europa und der Welt" spielen. Man staunt: Zum Ende des Jahrhunderts kommt Winkler wieder bei Reichskanzler von Bülow an. Vor bald hundert Jahren forderte der Reichskanzler Kolonien und pochte auf Deutschlands moralisches Recht auf den "Platz an der Sonne". Winkler spricht politisch korrekt von der moralischen Pflicht zur Intervention in "Weltkonflikten". Weltpolitik ist beides. Es ist erlaubt, darüber nachzudenken, ob Winklers Empfehlungen heute besser sind als vor elf Jahren. HEINRICH MAETZKE
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Heinrich August Winkler beantwortet postnationale Fragen
Heinrich August Winkler: Streitfragen der deutschen Geschichte. Essays zum 19. und 20. Jahrhundert. Verlag C. H. Beck, München 1997. 170 Seiten, 38,- Mark.
Vor elf Jahren sah der Historiker Heinrich August Winkler über die Zukunft Deutschlands klar: "Das Reich von 1871 ist an den Deutschen selbst gescheitert. Angesichts der Rolle, die Deutschland bei der Entstehung der beiden Weltkriege gespielt hat, kann Europa und sollten auch die Deutschen ein neues Deutsches Reich, einen souveränen Nationalstaat, nicht mehr wollen. Das ist die Logik der Geschichte, und die ist nach Bismarcks Wort genauer als die preußische Oberrechenkammer." Dieser Zeitung warf Winkler damals vor, auf einer "national-apologetischen Welle" zu schwimmen und "lauter als jemals seit den fünfziger Jahren" nach der Wiedervereinigung Deutschlands zu rufen.
Winklers Irrtum war im politischen Establishment der alten Bundesrepublik weit verbreitet. Aber Winkler - er ist heute Professor für Neuere und Neueste Geschichte in Berlin - teilte ihn nicht nur. Er war einer seiner Urheber. Denn Winkler ist einer der führenden Nationalismusforscher der Republik. Seine Prognose war die Summe zwanzigjähriger Befassung mit den Phänomenen Nation und Nationalstaat. Es ist aufschlußreich, zu beobachten, wie Winkler jetzt mit der Wiedervereinigung zu Rande kommt. Wer es tut, erhält einen Eindruck von der intellektuellen Entwicklung jenes Teils des alten westdeutschen Establishments, dem am 9. November 1989 das Weltbild abhanden kam.
In seinem Aufsatzband redet Winkler auch über Karl Marx und die Weimarer Republik - vor allem aber über den deutschen Nationalstaat, den zerbrochenen und den wiedergewonnenen. Sein kleines Buch ist der Versuch, wieder festen historischen Boden unter die Füße zu bekommen. Wer nun erwartet, Winkler würde alte Positionen grundsätzlich in Frage stellen, täuscht sich. Den Irrtum über die "Logik der Geschichte" hat er einsehen müssen. Von den alten Prämissen trennt er sich nur ungern.
Eigentlich, impliziert er, habe er 1986 sogar recht gehabt. Denn die Teilung habe damals eine wichtige Funktion erfüllt. Verantwortungsbewußte Menschen hätten sich die Einheit gar nicht wünschen dürfen. Winkler wörtlich: "Als die DDR sich 1989 in einen potentiellen internationalen Krisenherd verwandelte, konnte die Zweiteilung Deutschlands auch nicht mehr die Funktion erfüllen, die ihr in den Jahrzehnten zuvor zugefallen war: Ein Unterpfand zu sein für das Gleichgewicht zwischen Ost und West und damit eine Bedingung für die relative Stabilität in Europa." Das klingt, als wollte Winkler sich bei Moskau noch bedanken für vierzigjährige Sorge um die Stabilität Europas. Er hat schon wieder vergessen, wie die Teilung Deutschlands mit der Teilung Europas zusammenhing und welche Funktion die DDR tatsächlich ausfüllte: die des Ecksteins in Moskaus osteuropäischem Imperium.
Schon 1976 beschrieb Karl Dietrich Bracher die Bundesrepublik als "postnationale Demokratie". Die Formel gab nicht nur die Einheit Deutschlands, sondern der Einfachheit halber auch gleich die Nation preis. Winkler lobt sie noch immer als "Beitrag zur Selbstanerkennung der Bundesrepublik" und entschuldigt seinen Irrtum über die "Logik der Geschichte" mit ebenjener angeblichen "postnationalen Identität der alten Bundesrepublik". Was ihn nicht hindert, gleichzeitig der Bundesregierung vorzuhalten, sie habe 1990 versäumt, mit einem "Ruf nach nationaler Solidarität" moralische und materielle Energien im Lande freizusetzen. Wie der die "postnationalen" Westdeutschen hätte erreichen sollen, bleibt sein Geheimnis.
Irgendwann in den vergangenen sieben Jahren müssen ihm allerdings Zweifel gekommen sein. Eine Art "Lebenslüge", überlegt er im Schutze mehrerer Fragezeichen, könnte das ",postnationale' Lebensgefühl" vieler Westdeutscher gewesen sein, wenn nicht Schlimmeres: "War die kategorische Absage an die staatliche Einheit nicht vielleicht sogar ein halb bewußter, halb unbewußter Versuch, dem schrecklichsten Kapitel der deutschen Geschichte ein für allemal zu entkommen, es definitiv zu ,entsorgen'"? Den Vorwurf, die deutsche Vergangenheit "entsorgen" zu wollen, hat zuletzt Winklers Kollege Hans-Ulrich Wehler finsteren "neokonservativen Revisionisten" gemacht. Winkler gibt ihn nun an das eigene linksliberale Lager zurück. Das kann ihn unter alten Freunden und Kollegen Sympathiepunkte kosten.
Ganz nebenbei gestattet Winkler Einblicke in die Empfindungswelt eines "postnationalen" Nationalismus-Spezialisten während der Wiedervereinigung. An die Landsleute aus dem Osten, liest man amüsiert, hat er sich nur schwer gewöhnen können: "Die Ostdeutschen hatten, anders als die Westdeutschen, keine Chance gehabt, sich in ,Europäer' und ,Weltbürger' zu verwandeln; sie waren auf eine Weise, die intellektuelle Altbundesbürger zutiefst befremdete, ,deutsch', wenn nicht gar ,deutsch-national' geblieben."
Nun sind die "Postnationalen" also mit den "Deutsch-Nationalen" vereint. Für die neue Bundesrepublik taugt das "postnationale" Etikett nicht mehr. Das sieht auch Winkler. Den "Fortschritt gegenüber dem traditionellen deutschen Nationalismus" und den "Gewinn an politischer Kultur", der ihm das Präfix "post" bedeutet, will er sich allerdings nicht mehr abhandeln lassen. Das wiedervereinte Deutschland sei kein "souveräner Nationalstaat der klassischen Art" mehr. Winkler spricht vom "postklassischen Nationalstaat", der klassische Souveränitätsrechte an supranationale Gemeinschaften wie die Europäische Union und die Nato abgegeben habe. An Souveränität gewonnen hat Deutschland nach der Wiedervereinigung gleichwohl.
Winkler glaubt zu wissen, wie es sie einzusetzen hat. Die alte Bundesrepublik habe sich aus vielen Weltkonflikten heraushalten können. Das wiedervereinte Deutschland, so Winkler, müsse auch auf militärischem Gebiet mehr Verantwortung übernehmen und "eine konstruktive Rolle in Europa und der Welt" spielen. Man staunt: Zum Ende des Jahrhunderts kommt Winkler wieder bei Reichskanzler von Bülow an. Vor bald hundert Jahren forderte der Reichskanzler Kolonien und pochte auf Deutschlands moralisches Recht auf den "Platz an der Sonne". Winkler spricht politisch korrekt von der moralischen Pflicht zur Intervention in "Weltkonflikten". Weltpolitik ist beides. Es ist erlaubt, darüber nachzudenken, ob Winklers Empfehlungen heute besser sind als vor elf Jahren. HEINRICH MAETZKE
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