Gustav Stresemann war der bedeutendste Politiker der Weimarer Republik und ist bis heute der umstrittenste. War der langjährige Außenminister ein friedlich-demokratischer Verständigungspolitiker, ein Vorreiter der europäischen Integration? Oder verbarg sich hinter dieser Maske doch der wilhelminische Monarchist, der unbelehrbare Nationalist? Stresemanns Haltung gegenüber England ist ein Prüfstein seiner gesamten außenpolitischen Konzeption. Das vorliegende Buch behandelt seine Einschätzung Englands während der gesamten Zeit seiner politischen Tätigkeit 1907 bis 1929. Es zeigt, daß sich das Englandbild des DVP-Politikers zweimal wesentlich änderte, einmal vor dem Krieg und dann nach der Niederlage. Auf dieser Einschätzung der Weltmacht Großbritannien baute Stresemann seine Außenpolitik auf. Zur entscheidenden Frage der Stresemann-Forschung trägt die Autorin neue Erkenntnisse bei: Der Außenminister versuchte, eine friedliche, eigenständige Partnerschaft mit England aufzubauen. Diese Konzeption blieb auch in der internationalen Politik nach 1945 aktuell.
Ein weiteres Buch über den Außenpolitiker Stresemann
Constanze Baumgart: Stresemann und England. Böhlau Verlag, Köln, Weimar und Wien 1996. 331 Seiten, 78,- Mark.
Etliche kleinere biographische Arbeiten oder Studien zu Teilaspekten der Politik Gustav Stresemanns sind in den letzten Jahren erschienen; vor wenigen Wochen wurde gar die über 900 Seiten starke erste umfassende wissenschaftliche Stresemann-Biographie der letzten Jahrzehnte publiziert; allerdings geschah das nicht in Deutschland, wo immer mal wieder entsprechende Absichtsbekundungen zu hören waren, sondern in Frankreich durch den Straßburger Historiker Christian Baechler.
Die Stresemann-Renaissance hat sicher mehrere Gründe. Zum einen ist der öffentlichkeitswirksame laute Ton derjenigen, die Geschichte als Sozialwissenschaft etablieren wollten, etwas leiser geworden; biographische und diplomatiegeschichtlich orientierte Arbeiten werden wieder als ernste historiographische Aufgabe betrachtet, ohne daß deren Autoren dafür einen Ablaß durch eingestreute Statistiken, sozialpsychologische Exkurse oder ähnliches erwerben müßten. Zum anderen hat sich die Stresemann-Diskussion der ersten Nachkriegsjahrzehnte überholt, als im Rahmen der Kontinuitätsfrage heftig debattiert wurde, ob der bedeutendste Außenminister der Weimarer Politik wohl eher ein Vorkämpfer der europäischen Einigung oder aber der Schrittmacher für Hitler gewesen sei.
In der neueren Forschung ist diese Fragestellung überwunden, ja als unhistorisch entlarvt worden: Stresemann war weder das eine noch das andere, sondern wie die europäischen Außenminister-Kollegen seiner Zeit ein Politiker, der nationalstaatliche Ziele verfolgte; diese Ziele mußten angesichts der breiten Überzeugung der Öffentlichkeit und nahezu aller Politiker der Weimarer Republik die Revision des Versailler Vertrags und die Bemühung um gleichberechtigte Aufnahme Deutschlands in ein neu zu etablierendes Konzert der Großmächte einschließen. Von seinen Vorgängern und Nachfolgern im Amt des Außenministers unterschied er sich jedoch in zweierlei Hinsicht: Er hatte bereits in der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg und mit seiner beruflichen Herkunft aus der Wirtschaft die heute selbstverständliche, damals aber noch nicht unbedingt sehr verbreitete Erkenntnis erworben, daß wegen der zunehmenden Verknüpfung der Weltwirtschaft das Schicksal Deutschlands und seine politische Macht von seiner wirtschaftlichen Stellung abhingen. Und zum anderen hatte er nach dem Ersten Weltkrieg erkannt, daß keine Politik der Konfrontation die Revision des Versailler Vertrags ermöglichen würde, sondern nur eine auf die Methode der Verständigung setzende und auf der wirtschaftlichen Potenz und Bedeutung Deutschlands für den Welthandel und damit auch für die ehemaligen Kriegsgegner aufbauende Diplomatie. Wenn aber nicht nur die Ziele, sondern auch die Methoden - bei Stresemann also die Verständigung - die Qualität einer Außenpolitik ausmachen, wird man ihn wohl kaum in die Ahnengalerie Hitlers, ja nicht einmal in die Nachfolge des Wilhelminismus oder als Vorläufer Brüningscher Außenpolitik einordnen können.
In ihrer Arbeit vollzieht Constanze Baumgart diesen etablierten Forschungsstand nach, indem sie aus den außenpolitischen Vorstellungen Stresemanns der letzten Vor- und ersten Nachkriegsjahre sowie aus der Politik des Außenministers in den Jahren 1923 bis 1929 dessen Einstellung gegenüber England und die Bedeutung Londons für seine Politik gewissermaßen herauspräpariert. In weiten Teilen kann dabei nur bereits Bekanntes dargestellt und bestätigt werden, und lediglich Nuancen erscheinen neu: der Haß auf England, den Stresemann in den Jahren unmittelbar vor dem Weltkrieg und während des Krieges mit seinen nationalliberalen Zeitgenossen teilte, und die gleichzeitige Bewunderung für die Effektivität, die das britische innenpolitische System im Krieg an den Tag legte; die neue Rolle Englands in Stresemanns politischer Anschauung, die er Anfang der zwanziger Jahre entwickelte und die von der Auffassung ausging, daß London aus Gründen des Gleichgewichts und der Handelspolitik kein Interesse an französischer Hegemonie und einem wirtschaftlich runinierten Deutschland haben konnte; die Inanspruchnahme Austen Chamberlains als "honest broker" beim Zustandekommen der Verträge von Locarno, die gemeinhin als Höhepunkt der Verständigungspolitik Stresemanns gelten. Nach dem deutschen Völkerbundsbeitritt 1926 spielte der eher frankophile Chamberlain diese Rolle nicht mehr weiter; er sicherte damit Stresemann nicht die Erfolge, etwa die vorzeitige Räumung des von den Siegermächten besetzten Rheinlands, die dieser zur innenpolitischen Stabilisierung der Verständigungspolitik benötigt hätte. Da Frau Baumgart nur recht spärlich die publizierten britischen Akten nutzt und überhaupt nicht die ungedruckten, bleibt sie eine Erklärung für diese englische Haltung schuldig.
WOLFGANG ELZ
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