Die erotische Entkleidung mit ihren gekonnten Andeutungen und raffinierten Verzögerungen ist in unserer Zeit, in der phantasielos alle Hüllen sofort fallen, zu einer aussterbenden Kunst geworden. Von der Verführung durch diese hohe Kunst erzählt das vorliegende Buch, vor allem aber von den Frauen, die sich ausgezogen haben und immer noch ausziehen. Es schildert die Geschichte des Striptease als einen ewigen Reigen von Stärken und Schwächen, Macht und Kalkül.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 10.01.2000Eine Rose ist eine Rose
Doch wo ist ihr Stachel: Lucinda Jarretts Geschichte des Striptease
Zu den Ikonen erotisch knisternder Darbietung gehört Marlene Dietrichs Auftritt als Lola Lola im "Blauen Engel". Ihr Bühnenkostüm im Film zitiert das Kostüm, in welchem sie einige Jahre zuvor als Mitglied einer Revuetruppe in Berliner Varietés aufgetreten war. Den Zylinder schräg gesetzt, die Strapse freiliegend, so paradierten in den Zwanzigern zahlreiche Truppen vor dem Publikum. Mittels Synchrontanz bei uniformer Kostümierung brachten sie die Ästhetik des Seriellen und Kinetischen auf die Bühne. Die Erotik jedoch blieb knisterfrei auch dort, wo die Mädchen oben ohne auftraten. Denn das Konzept dieser Revuen, vertreten etwa durch Flo Ziegfeld, dem Impresario der legendären Ziegfeld Folies, ging dahin, Aufreizendes zu vermeiden, Anstößiges zu unterbinden. Verbannt wurde all das, was in der Lola Lola des "Blauen Engels" sein Bild findet. Dieser Form der erotischen Darbietung, die zwar ins Amüsement eingebettet, aber fraglos keine ist, die per se kunstlos zu nennen wäre, ihrer Geschichte also, ihrer Stars, hat sich Lucinda Jarrett angenommen.
Die Anfänge der modernen Vergnügungskultur sind engstens mit denen der Industrialisierung verflochten. In dem Maße, wie sich die Arbeitsbedingungen verbesserten, erhöhte sich die Zeit, die als Freizeit zur Verfügung stand. Das Novum der Massenfreizeit brachte einen eigenen Unterhaltungsbetrieb hervor: die Welt der Music Halls, Varietés, Spezialitätentheater und Vaudevilles. Einer der frühesten Stars dieser Bühnen war Lydia Thompson mit ihrer Truppe "British Blondes". Furore machte das mit Wasserstoffperoxyd blondierte Haar der Tänzerinnen, vor allem aber die rockfreie Darbietung seidenbestrumpfter Beine. 1868 gastierte ihre Truppe in New York mit solchem Erfolg, dass sie in kurzer Zeit vielfach imitiert wurde. Ein anderer Star war Louise Weber, genannt "La Goulue", die Unersättliche. In den Neunzigern tanzte sie im "Moulin Rouge" und trieb die Sensation der beim Cancan hochfliegenden Röcke auf die Spitze, indem sie in den Schritt ihres Schlüpfers eine kleine Rose einstickte. Für die Nachwelt tanzt sie auf den Plakaten von Toulouse-Lautrec. Ohne Rose allerdings.
1889 ließen sich Louise Weber und andere Tänzerinnen von den ägyptischen Bauchtänzerinnen inspirieren, die auf der Pariser Weltausstellung in den Nachbauten einer Kairoer Straße präsentiert worden waren. Die Veranstalter der Weltausstellung von 1893 in Chicago übernahmen die Idee dieser Straße und lösten damit in den Staaten eine Begeisterungswelle für den Solotanz ohne Korsett aus. In der Variety Show etablierte er sich unter der Bezeichnung "cooch" und gilt von seinen Bewegungselementen her, so Jarrett, als Vorläufer des Striptease. Ihn aufzuführen bedurfte es jedoch der Legitimation durch theatralische Einbindung. Entsprechend häufig stand der Salome-Stoff auf dem Programm amerikanischer und europäischer Bühnen.
Nach 1918 lockerten sich zwar die Rahmenbedingungen für den erotischen Tanz, der Vorwurf der Pornographie und Vulgarität blieb indes weiterhin allgegenwärtig. Jarrett verdeutlicht dies am Beispiel von Anita Berber, der Ausdruckstänzerin expressionistischer Ekstase. Unbekleidetes Auftreten wurde offiziell nur so lange goutiert, wie es im Horizont des asexuellen Ideals der Freikörperkultur stattfand.
Josephine Baker bewegte sich diesbezüglich auf der Grenze, die Revuegirls hielten sie ein. Während die Mädchen in den Filmrevuen der Dreißiger kaum mehr als der schöne Stoff für Ornamente waren, etablierte sich zeitgleich am Broadway jene Solonummer, die Jarretts Buch den Titel gibt: der Striptease. Seine Stars hießen Gypsy Rose Lee, Georgia Sothern und Margery Hart, ihre Manager Billy und Abe Minsky. Den Aufstieg des Burlesque-Theaters der Brüder schildert die Autorin ebenso detailreich wie den Niedergang infolge der restriktiven Stadtpolitik gegen das dort Aufgeführte. Ein Streifzug durch die Fünfziger, insbesondere durch das Programm des "Crazy Horse", beschließt den Sachteil des Buches. Ihm folgt eine Reihe von Tänzerinnenporträts. Sie sind in die Form fiktiver Monologe gebracht und zeugen dergestelt mehr von den literarischen Ambitionen der Autorin, als dass sie etwas über die Porträtierten aussagten.
So interessant die Thematik ist, Lucinda Jarretts Darstellung bleibt aus mehreren Gründen unbefriedigend. Zu selten wird klar, was genau auf der Bühne dargeboten wurde, weil Jarrett nicht hinreichend zwischen dem Auftritt in aufreizender Kleidung und dem Entkleidungsauftritt unterscheidet. Kaum ein Wort über die Verwendung hautfarbener Ganzkörpertrikots zwecks Camouflage, kaum eines über die Dramaturgie der Entkleidung, über Posen, Musik und jeweils letzte Tabus. Zu oft regiert die Anekdote, zu oft die Phrase. Da steigt das Paris der Jahrhundertwende zur "erotischen Hauptstadt Europas" auf, während es zu Zeiten Sartres einer "deprimierenden intellektuellen Atmosphäre" erliegt.
Nachgerade ärgerlich fällt Jarretts postfeministisch deklarierte Ehrenrettung des Striptease aus. Stripperinnen, schreibt sie, seien "starke, unabhängige Nonkonformistinnen" und "Frauen, die auf ihre sexuelle Ausdruckskraft stolz sind". Einzelfälle ausgenommen, gilt: Stripperinnen stehen zwar auf den Brettern, die die Welt bedeuten. Aber diese Bretter sind von Männern für die männliche Welt gezimmert. Bei Jarrett jedoch kommt das Publikum des Strips so wenig in den Blick wie ein Phänomen der Neunziger, das in einem Buch über den Striptase eigentlich nicht fehlen dürfte: der Männerstrip für Frauen.
RALF DROST
Lucinda Jarrett: "Striptease". Die Geschichte der erotischen Entkleidung. Aus dem Englischen von Andrea von Struve und Petra Post. Verlag Rütten & Loening, Berlin 1999. 280 S., Abb., br., 39,90 DM.
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Doch wo ist ihr Stachel: Lucinda Jarretts Geschichte des Striptease
Zu den Ikonen erotisch knisternder Darbietung gehört Marlene Dietrichs Auftritt als Lola Lola im "Blauen Engel". Ihr Bühnenkostüm im Film zitiert das Kostüm, in welchem sie einige Jahre zuvor als Mitglied einer Revuetruppe in Berliner Varietés aufgetreten war. Den Zylinder schräg gesetzt, die Strapse freiliegend, so paradierten in den Zwanzigern zahlreiche Truppen vor dem Publikum. Mittels Synchrontanz bei uniformer Kostümierung brachten sie die Ästhetik des Seriellen und Kinetischen auf die Bühne. Die Erotik jedoch blieb knisterfrei auch dort, wo die Mädchen oben ohne auftraten. Denn das Konzept dieser Revuen, vertreten etwa durch Flo Ziegfeld, dem Impresario der legendären Ziegfeld Folies, ging dahin, Aufreizendes zu vermeiden, Anstößiges zu unterbinden. Verbannt wurde all das, was in der Lola Lola des "Blauen Engels" sein Bild findet. Dieser Form der erotischen Darbietung, die zwar ins Amüsement eingebettet, aber fraglos keine ist, die per se kunstlos zu nennen wäre, ihrer Geschichte also, ihrer Stars, hat sich Lucinda Jarrett angenommen.
Die Anfänge der modernen Vergnügungskultur sind engstens mit denen der Industrialisierung verflochten. In dem Maße, wie sich die Arbeitsbedingungen verbesserten, erhöhte sich die Zeit, die als Freizeit zur Verfügung stand. Das Novum der Massenfreizeit brachte einen eigenen Unterhaltungsbetrieb hervor: die Welt der Music Halls, Varietés, Spezialitätentheater und Vaudevilles. Einer der frühesten Stars dieser Bühnen war Lydia Thompson mit ihrer Truppe "British Blondes". Furore machte das mit Wasserstoffperoxyd blondierte Haar der Tänzerinnen, vor allem aber die rockfreie Darbietung seidenbestrumpfter Beine. 1868 gastierte ihre Truppe in New York mit solchem Erfolg, dass sie in kurzer Zeit vielfach imitiert wurde. Ein anderer Star war Louise Weber, genannt "La Goulue", die Unersättliche. In den Neunzigern tanzte sie im "Moulin Rouge" und trieb die Sensation der beim Cancan hochfliegenden Röcke auf die Spitze, indem sie in den Schritt ihres Schlüpfers eine kleine Rose einstickte. Für die Nachwelt tanzt sie auf den Plakaten von Toulouse-Lautrec. Ohne Rose allerdings.
1889 ließen sich Louise Weber und andere Tänzerinnen von den ägyptischen Bauchtänzerinnen inspirieren, die auf der Pariser Weltausstellung in den Nachbauten einer Kairoer Straße präsentiert worden waren. Die Veranstalter der Weltausstellung von 1893 in Chicago übernahmen die Idee dieser Straße und lösten damit in den Staaten eine Begeisterungswelle für den Solotanz ohne Korsett aus. In der Variety Show etablierte er sich unter der Bezeichnung "cooch" und gilt von seinen Bewegungselementen her, so Jarrett, als Vorläufer des Striptease. Ihn aufzuführen bedurfte es jedoch der Legitimation durch theatralische Einbindung. Entsprechend häufig stand der Salome-Stoff auf dem Programm amerikanischer und europäischer Bühnen.
Nach 1918 lockerten sich zwar die Rahmenbedingungen für den erotischen Tanz, der Vorwurf der Pornographie und Vulgarität blieb indes weiterhin allgegenwärtig. Jarrett verdeutlicht dies am Beispiel von Anita Berber, der Ausdruckstänzerin expressionistischer Ekstase. Unbekleidetes Auftreten wurde offiziell nur so lange goutiert, wie es im Horizont des asexuellen Ideals der Freikörperkultur stattfand.
Josephine Baker bewegte sich diesbezüglich auf der Grenze, die Revuegirls hielten sie ein. Während die Mädchen in den Filmrevuen der Dreißiger kaum mehr als der schöne Stoff für Ornamente waren, etablierte sich zeitgleich am Broadway jene Solonummer, die Jarretts Buch den Titel gibt: der Striptease. Seine Stars hießen Gypsy Rose Lee, Georgia Sothern und Margery Hart, ihre Manager Billy und Abe Minsky. Den Aufstieg des Burlesque-Theaters der Brüder schildert die Autorin ebenso detailreich wie den Niedergang infolge der restriktiven Stadtpolitik gegen das dort Aufgeführte. Ein Streifzug durch die Fünfziger, insbesondere durch das Programm des "Crazy Horse", beschließt den Sachteil des Buches. Ihm folgt eine Reihe von Tänzerinnenporträts. Sie sind in die Form fiktiver Monologe gebracht und zeugen dergestelt mehr von den literarischen Ambitionen der Autorin, als dass sie etwas über die Porträtierten aussagten.
So interessant die Thematik ist, Lucinda Jarretts Darstellung bleibt aus mehreren Gründen unbefriedigend. Zu selten wird klar, was genau auf der Bühne dargeboten wurde, weil Jarrett nicht hinreichend zwischen dem Auftritt in aufreizender Kleidung und dem Entkleidungsauftritt unterscheidet. Kaum ein Wort über die Verwendung hautfarbener Ganzkörpertrikots zwecks Camouflage, kaum eines über die Dramaturgie der Entkleidung, über Posen, Musik und jeweils letzte Tabus. Zu oft regiert die Anekdote, zu oft die Phrase. Da steigt das Paris der Jahrhundertwende zur "erotischen Hauptstadt Europas" auf, während es zu Zeiten Sartres einer "deprimierenden intellektuellen Atmosphäre" erliegt.
Nachgerade ärgerlich fällt Jarretts postfeministisch deklarierte Ehrenrettung des Striptease aus. Stripperinnen, schreibt sie, seien "starke, unabhängige Nonkonformistinnen" und "Frauen, die auf ihre sexuelle Ausdruckskraft stolz sind". Einzelfälle ausgenommen, gilt: Stripperinnen stehen zwar auf den Brettern, die die Welt bedeuten. Aber diese Bretter sind von Männern für die männliche Welt gezimmert. Bei Jarrett jedoch kommt das Publikum des Strips so wenig in den Blick wie ein Phänomen der Neunziger, das in einem Buch über den Striptase eigentlich nicht fehlen dürfte: der Männerstrip für Frauen.
RALF DROST
Lucinda Jarrett: "Striptease". Die Geschichte der erotischen Entkleidung. Aus dem Englischen von Andrea von Struve und Petra Post. Verlag Rütten & Loening, Berlin 1999. 280 S., Abb., br., 39,90 DM.
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