ZEIT FÜR MICH - ZEIT FÜR SIMENON
»Georges Simenon ist der wichtigste Schriftsteller des 20. Jahrhunderts.«
Gabriel García Márquez
Célita, Stripteasetänzerin in Cannes, hat ihren Beruf satt. Um dieses Leben hinter sich zu lassen, will sie ihren Chef Léon dazu bringen, sie zu heiraten, obwohl der bereits vergeben ist. Léon liegt ihr zu Füßen, und sie scheint fast am Ziel, als plötzlich die junge Tänzerin Maud auftaucht. Mit ihrer vermeintlichen Naivität und Hilflosigkeit stiehlt die Neue allen die Show und erobert den Chef im Sturm. Er hat nur noch Augen für Maud, und Célita muss zusehen, wie ihr der perfekte Lebensplan aus den Händen gleitet.
Bandnummer: 90
»Georges Simenon ist der wichtigste Schriftsteller des 20. Jahrhunderts.«
Gabriel García Márquez
Célita, Stripteasetänzerin in Cannes, hat ihren Beruf satt. Um dieses Leben hinter sich zu lassen, will sie ihren Chef Léon dazu bringen, sie zu heiraten, obwohl der bereits vergeben ist. Léon liegt ihr zu Füßen, und sie scheint fast am Ziel, als plötzlich die junge Tänzerin Maud auftaucht. Mit ihrer vermeintlichen Naivität und Hilflosigkeit stiehlt die Neue allen die Show und erobert den Chef im Sturm. Er hat nur noch Augen für Maud, und Célita muss zusehen, wie ihr der perfekte Lebensplan aus den Händen gleitet.
Bandnummer: 90
»ein zeitloses, stilles Drama im Schummerlicht« Günter Keil Playboy 20181011
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 06.10.2018Neues von Georges Sim bis Simenon
Kommissar Maigret wird numeriert, Kollege G7 entdeckt: Zwei Verlage zelebrieren die Rückkehr von Georges Simenon auf den deutschen Buchmarkt.
Von Jürg Altwegg
Man durfte skeptisch sein. Und traurig sowieso. Deutschsprachige Simenon-Leser hatten im Diogenes Verlag eine Heimat gefunden. Von dieser Zürcher Adresse aus wurden sie drei Jahrzehnte lang üppig mit Lesestoff versorgt. Der Verlagschef Daniel Keel war ein Wagnis eingegangen, als er sich zur Herausgabe des gesammelten Werks von Georges Simenon entschloss. Damals galt der Krimi noch als minderwertige Gattung. Keels Wette bestand darin, den bestenfalls als Geheimtipp von Schriftstellern und Kritikern gehandelten belgischen Fließbandproduzenten bei einem breiteren deutschsprachigen Publikum durchzusetzen. Das Unterfangen gelang.
Dann 2017 der Schock: Das Werk von Simenon verlässt Diogenes. Daniel Kampa, der dort jahrelang Simenon betreute, hat von dessen Sohn John die Rechte erworben, um mit ihnen einen eigenen Verlag aufzubauen. C'est la vie.
Und jetzt ist es so weit: In diesem Herbst bringt Daniel Kampa sein erstes Programm heraus und Georges Simenon mit - Zählirrtum vorbehalten - gleich 23 Titeln auf einen Schlag in den Buchhandel zurück. Allerdings nicht allein, sondern in Kooperation mit dem Hamburger Verlag Hofmann und Campe, den Kampa leitete, bis er sich selbständig machte. Den Rechte-Deal mit John Simenon hatte er noch vorher eingefädelt, also profitiert jetzt auch der alte Arbeitgeber. Mit gleicher Frequenz soll es danach im Halbjahresrhythmus weitergehen. Da mag es sogar sinnvoll sein, die insgesamt 75 Maigret-Romane und 28 Maigret-Erzählungen, das Herzstück des Simenonschen Werks, erstmals zu numerieren. Allerdings hält sich der Editionsplan nicht an die Chronologie.
Das Maigret-Programm soll schon bis 2020 abgeschlossen sein, das war wohl ein Grund für John Simenons Zustimmung. Er hatte sich über mangelnde Verfügbarkeit im deutschen Buchhandel beklagt: "Der ganze Maigret endlich lieferbar", steht im vierzig Seiten starken Katalog zur Edition: "Der ganze Simenon". Hoffentlich ist mit "ganz" nicht notwendig "alles" gemeint. Der geniale Georges Simenon hat auch Schrott produziert.
Er war ein besessener Autodidakt, der das Schreiben wie ein Handwerk von der Pike auf zu lernen bestrebt war und auf Bestellung arbeitete. Geld verdienen wollte er. In den Jahren seiner Anfänge war die Literatur Standbein einer florierenden Unterhaltungsindustrie, die Simenon mit Hunderten von Romanen und Erzählungen fütterte. Doch von Beginn an verfolgte er einen ehrgeizigen Plan: Er wollte mit seiner Literatur den "nackten Menschen" entdecken, dessen innerstes Wesen erschließen, das, was ihn ausmacht und uns allen gemein ist. Simenon glaubte an einen Archetyp. Und genauso wollte er über alle sozialen, kulturellen, nationalen Differenzen hinweg von allen verstanden werden; überall.
Um dieses Ziel zu erreichen, war Simenon bestrebt, einfachste Sätze zu bilden und ein maximal beschränktes Vokabular zu gebrauchen. Auch Racines Tragödien, so sagte er, bestünden aus wenigen hundert Wörtern. An dem Klassiker und an den Groschenromanen, die er im Dutzend las, studierte Simenon, wie man Personen einführt und wieder abtreten lässt. Seine Krimis nannte er semi-littérature, Halbliteratur, in der das Verbrechen den Leser auch über schlechtere Abschnitte hinweg bei der Stange halten sollte.
Bevor Simenon seine populären Ermittler Jules Maigret erfand, hatte er schon mit mehr als fünfzehn anderen geprobt. Einer, so sagt jedenfalls Daniel Kampa, hatte sogar das Zeug zum Rivalen für Maigret: G7. Unter dem Titel "Das Rätsel der Maria Galanda" hat Kampa nun "Vier Fälle für Kommissar G7" (so der Untertitel) in einem Band versammelt. Dabei handelt es sich um die einzige deutsche Erstausgabe der neuen Simenon-Edition: eine schöne Trouvaille, in der Tat. Dass Kampa in seinem informativen Nachwort die Bedeutung des Kommissars ein bisschen übertreibt und ihn zu "Maigrets gefährlichstem Gegner" hochstilisiert, kann man nachvollziehen. Immerhin hat Simenon, der 37 Pseudonyme benutzte, ziemlich lange an G7 festgehalten. G7 ist übrigens der Name einer Taxigesellschaft, deren Markenzeichen das rote Dach ihrer Wagen war - so rot wie die Haare des Kommissars. Maigret mit seiner Pfeife hatte dann doch die besseren Karten.
Simenon publizierte die G7-Krimis unter dem Namen "Georges Sim", und tritt als dieser in der Geschichte als Begleiter seines Kommissars auf. Mit vollem Namen zeichnete er erst seinen ersten Maigret, "Pietr der Lette" (der im Programm noch fehlt). Einmal taucht aber auch Georges Sim an der Seite jenes Kommissars auf, der seinen Autor weltberühmt machte: Aus "Maigrets Memoiren" - die er neu auflegt - zitiert Kampa eine Szene, in der Sim dem Kommissar als Reporter vorgestellt wird und gegen diese Berufsbezeichnung protestiert: "Nicht Journalist, Schriftsteller."
Ein großer, ein unsterblicher Dichter ist er geworden. Der erste Schub seiner Neuedition umfasst auch jenen "Brief an meine Mutter", den sie nicht mehr lesen konnte, und die im Alter diktierten "Intimen Memoiren" mit dem "Buch von Marie-Jo", Simenons Tochter, die sich in jungen Jahren aus verbotener Liebe zum Vater das Leben nahm. Ein Schwerpunkt wird bei den Romanen der Reife gesetzt, den Meisterwerken, deren Verfasser freihändig und ohne Kommissar in die Abgründe der menschlichen Existenz tauchte. "Das blaue Zimmer" ist kürzlich wieder verfilmt worden und erreichte in Frankreich mehr als eine Million Kinozuschauer. Zu "Der Schnee war schmutzig", von Simenon 1948 in Amerika auf der Flucht vor seiner nicht ganz lupenreinen Kriegsvergangenheit geschrieben, merkt Daniel Kehlmann im erhellenden Nachwort an: "Ein politischer Roman, in dem die Politik nie erwähnt wird, ein Kriegsroman, in dem der Krieg nicht vorkommt."
Für "Striptease" wurde Ulrich Wickert mit dem Nachwort betraut: "Schreiben gehört zu meinem Leben wie Essen und Trinken", und Krimis schreiben wollte Wickert schon während seines Studiums. Es blieb zunächst bei "Sachbüchern", Wickert selbst setzt den Begriff in Anführungszeichen. Als er sich dann doch an die erträumte Gattung wagte, stand ihm Maigret im Weg. So kam er auf die Figur des Untersuchungsrichters, "eine in Frankreich gefürchtete Institution, die alle Macht besitzt, um auch äußerst komplizierte Fälle zu lösen". "Striptease" habe ihm Günter Grass in die Hände gedrückt, gegenüber dem sich Wickert ziemlich schnöde über Simenon geäußert hatte.
Sehr genau konnte Wickert beurteilen, dass Simenon den Schauplatz Cannes in allen seinen "Besonderheiten" bestens kannte, "ich wohne nur eine halbe Stunden entfernt". Für die literarische Beurteilung dieser "Studie weiblichen Verlangens" (so Wickert) wusste er sich genauso galant anderweitig zu helfen: "Besonders reizend fand Simenon eine Amateurstripperin, ähnlich der Maud in ,Striptease', die bei ihrer Vorführung so erregt war, dass sie scheinbar einen Orgasmus erlebte und Barbesuchern, Orchester und Simenon den Atem verschlug." So stand es allerdings bereits in der Biographie von Stanley G. Eskin, die Wickert nicht erwähnt. Als Quelle des Zitats suggeriert er die "Intimen Memoiren".
Wickerts etwas verpatztes und nicht ganz aufrichtiges Nachwort macht schlagartig das Unbehagen an der Marketing-Kampagne für diese Neuausgabe bewusst. Man freut sich über ihre Dynamik und wünscht ihr hohe Auflagen. Aber das namedropping mit Zitaten berühmter Kollegen, die sich zu einem "literarischen Phänomen" bekennen, und die editorische Durchsetzungsschlacht mit Nach- wie Vorworten hatten vielleicht vor drei Jahrzehnten im deutschen Kulturraum ihre Berechtigung. Inzwischen wirken sie wie eine Beleidigung des Autors und Bemutterung seiner "normalen" Leser. Als ob ausgerechnet seine Meisterwerke einer Erklärung bedürften. Simenon - es sollte sich herumgesprochen haben - ist etabliert. Ein Genie der Dichtung, er hätte den Nobelpreis verdient.
In Frankreich wurden ihm kürzlich mit der Aufnahme in die "Bibliothèque de la Pléïade" endgültig die Klassikerweihen verliehen. Seiner literaturwissenschaftlichen Rezeption mag das förderlich sein, neue Leser haben ihm die Bände kaum gebracht. Immerhin: Sie sparen Platz im Bücherregal. Simenon liest man aber am besten in handlichen Ausgaben, die durchaus l zerfleddert sein dürfen; 1200 Seiten "Intime Memoiren" in Leinen und im Schuber sind gewöhnungsbedürftig. Und die frühen Groschenromane brauchen kein Kollegen-Lob und keine Kritiker-Kür. Lasst die Texte sprechen.
Georges Simenon: "Das Rätsel der Maria Galanda". Vier Fälle für Kommissar G7.
Aus dem Französischen von Kristian Wachinger. Kampa Verlag, Zürich 2018. 286 S., geb., 19,90 [Euro].
Georges Simenon: "Striptease". Roman.
Mit einem Nachwort von Ulrich Wickert. Aus dem Französischen von Sophia Marzolff. Verlag Hoffmann und Campe, Hamburg 2018. 208 S., geb., 22,90 [Euro].
Georges Simenon: "Intime Memoiren" und "Das Buch von Marie-Jo".
Aus dem Französischen von Hans-Joachim Hartstein u. a. Vollst. überarb. Übersetzung. Verlag Hoffmann und Campe, Hamburg 2018. 1376 S., geb. im Schuber, 58,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Kommissar Maigret wird numeriert, Kollege G7 entdeckt: Zwei Verlage zelebrieren die Rückkehr von Georges Simenon auf den deutschen Buchmarkt.
Von Jürg Altwegg
Man durfte skeptisch sein. Und traurig sowieso. Deutschsprachige Simenon-Leser hatten im Diogenes Verlag eine Heimat gefunden. Von dieser Zürcher Adresse aus wurden sie drei Jahrzehnte lang üppig mit Lesestoff versorgt. Der Verlagschef Daniel Keel war ein Wagnis eingegangen, als er sich zur Herausgabe des gesammelten Werks von Georges Simenon entschloss. Damals galt der Krimi noch als minderwertige Gattung. Keels Wette bestand darin, den bestenfalls als Geheimtipp von Schriftstellern und Kritikern gehandelten belgischen Fließbandproduzenten bei einem breiteren deutschsprachigen Publikum durchzusetzen. Das Unterfangen gelang.
Dann 2017 der Schock: Das Werk von Simenon verlässt Diogenes. Daniel Kampa, der dort jahrelang Simenon betreute, hat von dessen Sohn John die Rechte erworben, um mit ihnen einen eigenen Verlag aufzubauen. C'est la vie.
Und jetzt ist es so weit: In diesem Herbst bringt Daniel Kampa sein erstes Programm heraus und Georges Simenon mit - Zählirrtum vorbehalten - gleich 23 Titeln auf einen Schlag in den Buchhandel zurück. Allerdings nicht allein, sondern in Kooperation mit dem Hamburger Verlag Hofmann und Campe, den Kampa leitete, bis er sich selbständig machte. Den Rechte-Deal mit John Simenon hatte er noch vorher eingefädelt, also profitiert jetzt auch der alte Arbeitgeber. Mit gleicher Frequenz soll es danach im Halbjahresrhythmus weitergehen. Da mag es sogar sinnvoll sein, die insgesamt 75 Maigret-Romane und 28 Maigret-Erzählungen, das Herzstück des Simenonschen Werks, erstmals zu numerieren. Allerdings hält sich der Editionsplan nicht an die Chronologie.
Das Maigret-Programm soll schon bis 2020 abgeschlossen sein, das war wohl ein Grund für John Simenons Zustimmung. Er hatte sich über mangelnde Verfügbarkeit im deutschen Buchhandel beklagt: "Der ganze Maigret endlich lieferbar", steht im vierzig Seiten starken Katalog zur Edition: "Der ganze Simenon". Hoffentlich ist mit "ganz" nicht notwendig "alles" gemeint. Der geniale Georges Simenon hat auch Schrott produziert.
Er war ein besessener Autodidakt, der das Schreiben wie ein Handwerk von der Pike auf zu lernen bestrebt war und auf Bestellung arbeitete. Geld verdienen wollte er. In den Jahren seiner Anfänge war die Literatur Standbein einer florierenden Unterhaltungsindustrie, die Simenon mit Hunderten von Romanen und Erzählungen fütterte. Doch von Beginn an verfolgte er einen ehrgeizigen Plan: Er wollte mit seiner Literatur den "nackten Menschen" entdecken, dessen innerstes Wesen erschließen, das, was ihn ausmacht und uns allen gemein ist. Simenon glaubte an einen Archetyp. Und genauso wollte er über alle sozialen, kulturellen, nationalen Differenzen hinweg von allen verstanden werden; überall.
Um dieses Ziel zu erreichen, war Simenon bestrebt, einfachste Sätze zu bilden und ein maximal beschränktes Vokabular zu gebrauchen. Auch Racines Tragödien, so sagte er, bestünden aus wenigen hundert Wörtern. An dem Klassiker und an den Groschenromanen, die er im Dutzend las, studierte Simenon, wie man Personen einführt und wieder abtreten lässt. Seine Krimis nannte er semi-littérature, Halbliteratur, in der das Verbrechen den Leser auch über schlechtere Abschnitte hinweg bei der Stange halten sollte.
Bevor Simenon seine populären Ermittler Jules Maigret erfand, hatte er schon mit mehr als fünfzehn anderen geprobt. Einer, so sagt jedenfalls Daniel Kampa, hatte sogar das Zeug zum Rivalen für Maigret: G7. Unter dem Titel "Das Rätsel der Maria Galanda" hat Kampa nun "Vier Fälle für Kommissar G7" (so der Untertitel) in einem Band versammelt. Dabei handelt es sich um die einzige deutsche Erstausgabe der neuen Simenon-Edition: eine schöne Trouvaille, in der Tat. Dass Kampa in seinem informativen Nachwort die Bedeutung des Kommissars ein bisschen übertreibt und ihn zu "Maigrets gefährlichstem Gegner" hochstilisiert, kann man nachvollziehen. Immerhin hat Simenon, der 37 Pseudonyme benutzte, ziemlich lange an G7 festgehalten. G7 ist übrigens der Name einer Taxigesellschaft, deren Markenzeichen das rote Dach ihrer Wagen war - so rot wie die Haare des Kommissars. Maigret mit seiner Pfeife hatte dann doch die besseren Karten.
Simenon publizierte die G7-Krimis unter dem Namen "Georges Sim", und tritt als dieser in der Geschichte als Begleiter seines Kommissars auf. Mit vollem Namen zeichnete er erst seinen ersten Maigret, "Pietr der Lette" (der im Programm noch fehlt). Einmal taucht aber auch Georges Sim an der Seite jenes Kommissars auf, der seinen Autor weltberühmt machte: Aus "Maigrets Memoiren" - die er neu auflegt - zitiert Kampa eine Szene, in der Sim dem Kommissar als Reporter vorgestellt wird und gegen diese Berufsbezeichnung protestiert: "Nicht Journalist, Schriftsteller."
Ein großer, ein unsterblicher Dichter ist er geworden. Der erste Schub seiner Neuedition umfasst auch jenen "Brief an meine Mutter", den sie nicht mehr lesen konnte, und die im Alter diktierten "Intimen Memoiren" mit dem "Buch von Marie-Jo", Simenons Tochter, die sich in jungen Jahren aus verbotener Liebe zum Vater das Leben nahm. Ein Schwerpunkt wird bei den Romanen der Reife gesetzt, den Meisterwerken, deren Verfasser freihändig und ohne Kommissar in die Abgründe der menschlichen Existenz tauchte. "Das blaue Zimmer" ist kürzlich wieder verfilmt worden und erreichte in Frankreich mehr als eine Million Kinozuschauer. Zu "Der Schnee war schmutzig", von Simenon 1948 in Amerika auf der Flucht vor seiner nicht ganz lupenreinen Kriegsvergangenheit geschrieben, merkt Daniel Kehlmann im erhellenden Nachwort an: "Ein politischer Roman, in dem die Politik nie erwähnt wird, ein Kriegsroman, in dem der Krieg nicht vorkommt."
Für "Striptease" wurde Ulrich Wickert mit dem Nachwort betraut: "Schreiben gehört zu meinem Leben wie Essen und Trinken", und Krimis schreiben wollte Wickert schon während seines Studiums. Es blieb zunächst bei "Sachbüchern", Wickert selbst setzt den Begriff in Anführungszeichen. Als er sich dann doch an die erträumte Gattung wagte, stand ihm Maigret im Weg. So kam er auf die Figur des Untersuchungsrichters, "eine in Frankreich gefürchtete Institution, die alle Macht besitzt, um auch äußerst komplizierte Fälle zu lösen". "Striptease" habe ihm Günter Grass in die Hände gedrückt, gegenüber dem sich Wickert ziemlich schnöde über Simenon geäußert hatte.
Sehr genau konnte Wickert beurteilen, dass Simenon den Schauplatz Cannes in allen seinen "Besonderheiten" bestens kannte, "ich wohne nur eine halbe Stunden entfernt". Für die literarische Beurteilung dieser "Studie weiblichen Verlangens" (so Wickert) wusste er sich genauso galant anderweitig zu helfen: "Besonders reizend fand Simenon eine Amateurstripperin, ähnlich der Maud in ,Striptease', die bei ihrer Vorführung so erregt war, dass sie scheinbar einen Orgasmus erlebte und Barbesuchern, Orchester und Simenon den Atem verschlug." So stand es allerdings bereits in der Biographie von Stanley G. Eskin, die Wickert nicht erwähnt. Als Quelle des Zitats suggeriert er die "Intimen Memoiren".
Wickerts etwas verpatztes und nicht ganz aufrichtiges Nachwort macht schlagartig das Unbehagen an der Marketing-Kampagne für diese Neuausgabe bewusst. Man freut sich über ihre Dynamik und wünscht ihr hohe Auflagen. Aber das namedropping mit Zitaten berühmter Kollegen, die sich zu einem "literarischen Phänomen" bekennen, und die editorische Durchsetzungsschlacht mit Nach- wie Vorworten hatten vielleicht vor drei Jahrzehnten im deutschen Kulturraum ihre Berechtigung. Inzwischen wirken sie wie eine Beleidigung des Autors und Bemutterung seiner "normalen" Leser. Als ob ausgerechnet seine Meisterwerke einer Erklärung bedürften. Simenon - es sollte sich herumgesprochen haben - ist etabliert. Ein Genie der Dichtung, er hätte den Nobelpreis verdient.
In Frankreich wurden ihm kürzlich mit der Aufnahme in die "Bibliothèque de la Pléïade" endgültig die Klassikerweihen verliehen. Seiner literaturwissenschaftlichen Rezeption mag das förderlich sein, neue Leser haben ihm die Bände kaum gebracht. Immerhin: Sie sparen Platz im Bücherregal. Simenon liest man aber am besten in handlichen Ausgaben, die durchaus l zerfleddert sein dürfen; 1200 Seiten "Intime Memoiren" in Leinen und im Schuber sind gewöhnungsbedürftig. Und die frühen Groschenromane brauchen kein Kollegen-Lob und keine Kritiker-Kür. Lasst die Texte sprechen.
Georges Simenon: "Das Rätsel der Maria Galanda". Vier Fälle für Kommissar G7.
Aus dem Französischen von Kristian Wachinger. Kampa Verlag, Zürich 2018. 286 S., geb., 19,90 [Euro].
Georges Simenon: "Striptease". Roman.
Mit einem Nachwort von Ulrich Wickert. Aus dem Französischen von Sophia Marzolff. Verlag Hoffmann und Campe, Hamburg 2018. 208 S., geb., 22,90 [Euro].
Georges Simenon: "Intime Memoiren" und "Das Buch von Marie-Jo".
Aus dem Französischen von Hans-Joachim Hartstein u. a. Vollst. überarb. Übersetzung. Verlag Hoffmann und Campe, Hamburg 2018. 1376 S., geb. im Schuber, 58,- [Euro].
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