Andor Endre Gelléri (1906-1945) galt schon zu Lebzeiten als Meister der kurzen Erzählform. »Stromern« versammelt 31 Geschichten aus den 1920er- und 1930er-Jahren, in denen er sich den Ausgegrenzten, den Zu-kurz-Gekommenen und Durch-das Raster-Gefallenen zuwendet. Budapest ist geprägt von den Folgen der Weltwirtschaftskrise, und die Protagonisten der Erzählungen bekommen das am eigenen Leib zu spüren. Gelléri kannte die Lebenswirklichkeit seiner Figuren nur zu gut, er selbst arbeitete in unzähligen Berufen, musste für seine täglichen Mahlzeiten schuften - und brachte es doch immer wieder fertig, eine ganz einzigartige Literatur zu schaffen.Die große Kunst Gelléris, die Timea Tankó farbenprächtig und mit ansteckender Verspieltheit übersetzt hat, besteht darin, jeder Figur ihr Schicksal zuzuerkennen. Sie mögen einander ähneln, die Färbergesellen und Weberlehrlinge, die Schuhmacher und Möbelpacker, die Arbeitssuchenden und Arbeitsverlierenden. Doch jeder Einzelne hat tiefe Wünsche, versucht, seinen Alltag mit Schönheit und Würde zu erleichtern. So wird immer auch sinnenfreudig gezecht, angebandelt, verehrt, gehasst, Trübsal geblasen, gefürchtet und geträumt. Gelléris existenziellen Erzählungen wohnt eine Lebenskraft inne, die sich von keinem Elend und keinem Schicksalsschlag zum Versiegen bringen lässt und die mit feinem Humor und ehrlichem Mitgefühl auf zauberische Weise selbst dem Tod die Stirn bieten. Das Streben nach Glück oder zumindest einem würdevollen Leben hat kein Verfallsdatum, es berührt und ergreift auch heute jeden, der davon liest.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 06.11.2018Traurige Müdigkeit huscht durchs Zimmer
Die verschollenen Kurznovellen des ungarischen Autors Andor Endre Gelléri zeichnen eine Welt ohne Mitleid
"Alle in diesem Keller plagen sich ab. In ihrem Atem lodert Feuer, und immer wieder flammt der Wunsch auf, die Arbeit möge endlich verrichtet sein. Ein Färber mit Stupsnase eilt in polternden Holzschuhen zu den Kesseln . . . Aus der Kragenabteilung entschweben bleiche Engel in weißen Gewändern. Auf der Stirn des schwindsüchtigen, gebrechlichen Waschmeisters perlt Schweiß, er fächelt sich Luft zu. Die ganze Wäscherei ringt hier im Keller fern von der Sonne, in größter Verschwommenheit um Atem."
Diese Szene aus der nebelgeschwängerten Kellerhöhle könnte aus Gelléris Roman "Die Großwäscherei" stammen; es ist jedoch eine Erzählung, die vier Jahre früher, 1927, in einer Budapester Tageszeitung erschien. Der Titel des Beitrags lautet: "Leben" - nur dass hier nicht vom Leben geschrieben wird, sondern vom qualvollen Tod, der früher oder später alle Arbeiter in dieser Schinderstätte ereilt. Gelléri erzählt über die große Wirtschaftskrise Ende der zwanziger Jahre. Der Mittelstand bricht zusammen, die Armen werden noch ärmer, die Obdachlosen erfrieren auf offener Straße, Kinder verhungern. Der Wirtschaftskollaps ergreift die ganze Welt, aber jedes Elend trägt sein eigenes Gesicht, das die Schriftsteller in diesen Jahren von Amerika bis Europa in Atem hält.
Viele Szenen erinnern an Charly Chaplins Film "Modern Times". Der gnadenlose Takt der Maschinen tötet alles ab: "Wir sind müde. Unsere Arme und Beine sind wie Blei, unsere Herzen spüren wir schon gar nicht mehr. Allein die Maschinen halten uns noch in Bewegung, sie lenken unsere Arme und Beine, die elektrischen Lampen halten unsere Augen offen. Warum wir das alles machen? Das wissen wir nicht; sterben werden wir so oder so."
Der Blick von unten, die trostlose Perspektive der kleinen Leute fesselt die Aufmerksamkeit des ungarischen Autors, der vor allem durch seine kurzen, pointierten Geschichten seit Beginn der zwanziger Jahre sein Publikum fesselte. Die Welt des Adels und der Wirtschaftsbosse, des Glamours und der orgiastischen Vergnügungen liegt ihm fern. Seine roaring twenties sind grau, kümmerlich, glanzlos und ohne Zukunft. Geboren 1906 als Sohn eines Schlossers und einer Kantinenfrau, ist sein Leben vorgezeichnet. Mit fünfzehn muss er das Gymnasium verlassen, er erlernt nie einen richtigen Beruf, sondern schlägt sich mit Hilfsarbeiten durchs Leben, wie seine literarischen Figuren. Seine Novellen finden Anklang, selbst die führende Literatur-Zeitschrift des modernen Ungarns, "Nyugat", druckt ihn ab, aber leben kann Gelléri von diesen Einnahmen nicht. Auch sein einziger Roman bleibt ohne großen Widerhall. Als Jude wird der Autor von 1940 an in verschiedene Arbeitslager deportiert. Noch schreibt er einzelne Kurzgeschichten, aber die Feder versiegt angesichts der menschenvernichtenden faschistischen Gewalt. Er wird auf einen der berüchtigten Todesmärsche nach Mauthausen geschickt. Nach der Befreiung des Lagers stirbt Gelléri im Mai 1945 an Typhus. Übriggeblieben sind Fragmente einer Autobiographie, und - sein größter Schatz - die Novellen über das Elendsleben der an den Rand der Gesellschaft gedrängten Menschen.
Der Schauplatz ist nicht am Rande der Welt, er liegt in der Mitte Europas, in Budapest. Hier bevölkern Weber, Wäscher, Färber, Schuhmacher, Metzger, Kisten- und Tresorträger, Dienstmädchen die Gassen und Hinterhöfe. Sie leben auf Müllhalden, in windschiefen Hütten, in Kellerlöchern. Kein Mensch hat mit ihnen Erbarmen, auch sie selbst nicht. Diese Menschen haben sich an die Aussichtslosigkeit des Lebens gewöhnt. Nur selten gibt es kleine Momente des Glücks, die schnell wieder in sich zusammenfallen. "Ich möchte Trompete spielen" ist eine Geschichte überschrieben. Ein Lungenkranker will sich ein letztes Mal eine Freude machen und verlangt von seiner Frau, dass sie ihm seine alte Trompete bringt. Er scheitert. Kläglich, alle Töne missraten. Zu seiner Frau flüstert der Kranke: "Schließ bitte das Fenster. Die Trompete kannst du auch mitnehmen." Und die Geschichte klingt aus mit den Sätzen: "Eine traurige Müdigkeit huscht durchs Zimmer. Die Frau nahm das Tablett und die Trompete und ging mit feuchten Augen hinaus."
Melancholie und Hoffnungslosigkeit scheint durch die Geschichten der Gestrandeten. Sie sind verzweifelt, und doch glimmt immer wieder ein Schein von Zuversicht auf. Die Arbeiter rebellieren nie offen, ihr Protest bleibt stumm, aber umso nachhaltiger. Gelléri war kein Sozialist oder gar Kommunist, durch viele seiner Geschichten schimmern wahre politische Vorfälle von Verurteilungen und Hinrichtungen. Vor allem aber schreibt er, was er täglich auf den Straßen und in den Fabriken erlebt. Er ist wie ein Ethnologe, der subtil und vorsichtig die Schichten menschlichen Daseins bloßlegt. Je grausamer die Wirklichkeit, desto poetischer nähert sich der Schriftsteller seinen Personen. Gelléri ist ein Meister der kurz erzählten Prosa. Seine Protagonisten sind Sklaven eines ausbeuterischen Systems, das sie nicht verändern wollen, sie wollen nur schlicht nicht mehr leiden, wollen keinen Hunger und Durst mehr haben. Hinter allen Kurznovellen steckt eine berührende, traurige Humanität.
Gelléri hat zu Lebzeiten keine große Anerkennung gefunden, er blieb ein stiller und bescheidener Chronist der Armut des Budapester Arbeiterlebens. Langsam werden seine literarischen Qualitäten entdeckt mit neuen Ausgaben in Ungarn. Im Deutschen hat die Ungarndeutsche Timea Tankó, geboren 1978 in Leipzig, bereits den einzigen Roman des Autors, "Die Großwäscherei", mit sprachlicher Wucht und Eleganz übersetzt, nun liegen von ihr ebenso feinfühlig übertragen die Kurzgeschichten des Autors vor. Zu hoffen ist, dass wir auch eines Tages die Fragmente der Autobiographie "Geschichte eines Selbstgefühls" von Andor Endre Gelléri werden lesen können. Der Guggolz Verlag hat mit der Wiederentdeckung dieses Autors einen wichtigen Beitrag geleistet, die kaum bekannte Zwischenkriegsliteratur im östlichen Teil Europa ans Licht der literarischen Öffentlichkeit zu heben.
LERKE VON SAALFELD
Andor Endre Gelléri: "Stromern". Erzählungen aus den Jahren 1924-1942.
Aus dem Ungarischen von Timea Tankó. Mit einem Nachwort von György Dalos. Guggolz Verlag, Berlin 2018. 269 S., geb., 24,70 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Die verschollenen Kurznovellen des ungarischen Autors Andor Endre Gelléri zeichnen eine Welt ohne Mitleid
"Alle in diesem Keller plagen sich ab. In ihrem Atem lodert Feuer, und immer wieder flammt der Wunsch auf, die Arbeit möge endlich verrichtet sein. Ein Färber mit Stupsnase eilt in polternden Holzschuhen zu den Kesseln . . . Aus der Kragenabteilung entschweben bleiche Engel in weißen Gewändern. Auf der Stirn des schwindsüchtigen, gebrechlichen Waschmeisters perlt Schweiß, er fächelt sich Luft zu. Die ganze Wäscherei ringt hier im Keller fern von der Sonne, in größter Verschwommenheit um Atem."
Diese Szene aus der nebelgeschwängerten Kellerhöhle könnte aus Gelléris Roman "Die Großwäscherei" stammen; es ist jedoch eine Erzählung, die vier Jahre früher, 1927, in einer Budapester Tageszeitung erschien. Der Titel des Beitrags lautet: "Leben" - nur dass hier nicht vom Leben geschrieben wird, sondern vom qualvollen Tod, der früher oder später alle Arbeiter in dieser Schinderstätte ereilt. Gelléri erzählt über die große Wirtschaftskrise Ende der zwanziger Jahre. Der Mittelstand bricht zusammen, die Armen werden noch ärmer, die Obdachlosen erfrieren auf offener Straße, Kinder verhungern. Der Wirtschaftskollaps ergreift die ganze Welt, aber jedes Elend trägt sein eigenes Gesicht, das die Schriftsteller in diesen Jahren von Amerika bis Europa in Atem hält.
Viele Szenen erinnern an Charly Chaplins Film "Modern Times". Der gnadenlose Takt der Maschinen tötet alles ab: "Wir sind müde. Unsere Arme und Beine sind wie Blei, unsere Herzen spüren wir schon gar nicht mehr. Allein die Maschinen halten uns noch in Bewegung, sie lenken unsere Arme und Beine, die elektrischen Lampen halten unsere Augen offen. Warum wir das alles machen? Das wissen wir nicht; sterben werden wir so oder so."
Der Blick von unten, die trostlose Perspektive der kleinen Leute fesselt die Aufmerksamkeit des ungarischen Autors, der vor allem durch seine kurzen, pointierten Geschichten seit Beginn der zwanziger Jahre sein Publikum fesselte. Die Welt des Adels und der Wirtschaftsbosse, des Glamours und der orgiastischen Vergnügungen liegt ihm fern. Seine roaring twenties sind grau, kümmerlich, glanzlos und ohne Zukunft. Geboren 1906 als Sohn eines Schlossers und einer Kantinenfrau, ist sein Leben vorgezeichnet. Mit fünfzehn muss er das Gymnasium verlassen, er erlernt nie einen richtigen Beruf, sondern schlägt sich mit Hilfsarbeiten durchs Leben, wie seine literarischen Figuren. Seine Novellen finden Anklang, selbst die führende Literatur-Zeitschrift des modernen Ungarns, "Nyugat", druckt ihn ab, aber leben kann Gelléri von diesen Einnahmen nicht. Auch sein einziger Roman bleibt ohne großen Widerhall. Als Jude wird der Autor von 1940 an in verschiedene Arbeitslager deportiert. Noch schreibt er einzelne Kurzgeschichten, aber die Feder versiegt angesichts der menschenvernichtenden faschistischen Gewalt. Er wird auf einen der berüchtigten Todesmärsche nach Mauthausen geschickt. Nach der Befreiung des Lagers stirbt Gelléri im Mai 1945 an Typhus. Übriggeblieben sind Fragmente einer Autobiographie, und - sein größter Schatz - die Novellen über das Elendsleben der an den Rand der Gesellschaft gedrängten Menschen.
Der Schauplatz ist nicht am Rande der Welt, er liegt in der Mitte Europas, in Budapest. Hier bevölkern Weber, Wäscher, Färber, Schuhmacher, Metzger, Kisten- und Tresorträger, Dienstmädchen die Gassen und Hinterhöfe. Sie leben auf Müllhalden, in windschiefen Hütten, in Kellerlöchern. Kein Mensch hat mit ihnen Erbarmen, auch sie selbst nicht. Diese Menschen haben sich an die Aussichtslosigkeit des Lebens gewöhnt. Nur selten gibt es kleine Momente des Glücks, die schnell wieder in sich zusammenfallen. "Ich möchte Trompete spielen" ist eine Geschichte überschrieben. Ein Lungenkranker will sich ein letztes Mal eine Freude machen und verlangt von seiner Frau, dass sie ihm seine alte Trompete bringt. Er scheitert. Kläglich, alle Töne missraten. Zu seiner Frau flüstert der Kranke: "Schließ bitte das Fenster. Die Trompete kannst du auch mitnehmen." Und die Geschichte klingt aus mit den Sätzen: "Eine traurige Müdigkeit huscht durchs Zimmer. Die Frau nahm das Tablett und die Trompete und ging mit feuchten Augen hinaus."
Melancholie und Hoffnungslosigkeit scheint durch die Geschichten der Gestrandeten. Sie sind verzweifelt, und doch glimmt immer wieder ein Schein von Zuversicht auf. Die Arbeiter rebellieren nie offen, ihr Protest bleibt stumm, aber umso nachhaltiger. Gelléri war kein Sozialist oder gar Kommunist, durch viele seiner Geschichten schimmern wahre politische Vorfälle von Verurteilungen und Hinrichtungen. Vor allem aber schreibt er, was er täglich auf den Straßen und in den Fabriken erlebt. Er ist wie ein Ethnologe, der subtil und vorsichtig die Schichten menschlichen Daseins bloßlegt. Je grausamer die Wirklichkeit, desto poetischer nähert sich der Schriftsteller seinen Personen. Gelléri ist ein Meister der kurz erzählten Prosa. Seine Protagonisten sind Sklaven eines ausbeuterischen Systems, das sie nicht verändern wollen, sie wollen nur schlicht nicht mehr leiden, wollen keinen Hunger und Durst mehr haben. Hinter allen Kurznovellen steckt eine berührende, traurige Humanität.
Gelléri hat zu Lebzeiten keine große Anerkennung gefunden, er blieb ein stiller und bescheidener Chronist der Armut des Budapester Arbeiterlebens. Langsam werden seine literarischen Qualitäten entdeckt mit neuen Ausgaben in Ungarn. Im Deutschen hat die Ungarndeutsche Timea Tankó, geboren 1978 in Leipzig, bereits den einzigen Roman des Autors, "Die Großwäscherei", mit sprachlicher Wucht und Eleganz übersetzt, nun liegen von ihr ebenso feinfühlig übertragen die Kurzgeschichten des Autors vor. Zu hoffen ist, dass wir auch eines Tages die Fragmente der Autobiographie "Geschichte eines Selbstgefühls" von Andor Endre Gelléri werden lesen können. Der Guggolz Verlag hat mit der Wiederentdeckung dieses Autors einen wichtigen Beitrag geleistet, die kaum bekannte Zwischenkriegsliteratur im östlichen Teil Europa ans Licht der literarischen Öffentlichkeit zu heben.
LERKE VON SAALFELD
Andor Endre Gelléri: "Stromern". Erzählungen aus den Jahren 1924-1942.
Aus dem Ungarischen von Timea Tankó. Mit einem Nachwort von György Dalos. Guggolz Verlag, Berlin 2018. 269 S., geb., 24,70 [Euro].
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