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An der Stanford Universität arbeiten der calvinistisch-strenge Kunsthistoriker Chuck und die lebensfrohe, katholische, portugiesische Biologin Ana Maria an einem ungewöhnlichen Projekt. Sie versuchen zu ergründen, welch geheimer Zusammenhang bestehen könnte zwischen Schriften aus dem 17. Und 18. Jahrhundert, die von rätselhaften Ungeheuern und Missgeburten berichten, und dem Erdbeben von Lissabon 1755. Voneinander fasziniert und einander doch abgrundtief fremd versuchen sie, die Grenzen des Rationalen, die Abgründe zwischen der neuen und der alten Welt zu begreifen. In einem vielschichtigen…mehr

Produktbeschreibung
An der Stanford Universität arbeiten der calvinistisch-strenge Kunsthistoriker Chuck und die lebensfrohe, katholische, portugiesische Biologin Ana Maria an einem ungewöhnlichen Projekt. Sie versuchen zu ergründen, welch geheimer Zusammenhang bestehen könnte zwischen Schriften aus dem 17. Und 18. Jahrhundert, die von rätselhaften Ungeheuern und Missgeburten berichten, und dem Erdbeben von Lissabon 1755.
Voneinander fasziniert und einander doch abgrundtief fremd versuchen sie, die Grenzen des Rationalen, die Abgründe zwischen der neuen und der alten Welt zu begreifen.
In einem vielschichtigen Ideen- und Liebesroman verbindet Clara Pinto-Correia Vorahnung und Weisheit, Erotik und Moral.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 31.12.1999

Augenglut und Herzenskühle
Im Frontalunterricht: Clara Pinto-Correira doziert einen Roman

Die Versuchsanordnung dieses Romans ist bescheiden. Ein ebenso schlichter wie verkrampfter amerikanischer Kunsthistoriker und eine ebenso feurige wie unverkrampfte portugiesische Biologin treffen sich durch Zufall auf einem wissenschaftlichen Kongress. Sie entdecken, dass sich nicht nur die Gegensätze ihrer Mentalitäten anziehen, sondern dass sie an denselben Themen Interesse zeigen. Es sind Themen aus den klassischen Grenzbereichen zwischen strenger Theorie und chaotisch unvernünftigem Leben, Themen, an denen Chuck, der Geisteswissenschaftler, sich ebenso abrackert wie Ana Maria, die Naturwissenschaftlerin.

Die Autorin Clara Pinto-Correira, 1960 in Lissabon geboren, ist Biologieprofessorin, sie lehrt in Harvard. Was lag da näher, als ihrer Heldin Ana Maria ein Semester in Stanford zu gönnen? Ana Maria erhält eine Auszeit, ein Stipendium bei Chuck, sie steigt um in die geisteswissenschaftliche Forschung, denn Chuck arbeitet an einer Studie über das Lissabonner Erdbeben des Jahres 1755. Ana Maria darf die portugiesischen Quellen für ihn übersetzen und auch gleich kommentieren.

So weit die Ausgangslage: Sie ist grob geschnitzt und weist einen beachtlichen Mangel an romantauglichen Motiven auf. Denn wovon soll hier erzählt werden? Wie Ana Maria und Chuck sich beide über die Quellen beugen und gleichsam nebenbei alle Rätsel über das Erdbeben von Lissabon lösen? Schon auf den ersten Blick liegen die Schwächen der Konzeption auf der Hand. Die beiden zentralen Figuren haben keine eigene Geschichte, und ihre Charaktere sind zu flach, als dass sie das Interesse des Lesers fesseln würden. Kann es einen hilfloseren Romanplot geben als den, dass zwei nicht einmal besonders intensiv miteinander beschäftigte Menschen sich an ein gemeinsames Forschungsprojekt machen? Clara Pinto-Correira ist hier einiges durcheinander geraten. Vielleicht hatte sie den Traum vom postmodernen Wissenschaftsroman, in dem die Gespräche über das Forschungsthema die Biographien bloßlegen. Doch um diesen Roman zu schreiben, hätte es einer raffinierteren Erzählerin bedurft. "Stumme Boten" wirkt wie eine Stunde Frontalunterricht, die durch einige Anekdoten vergnüglicher werden soll. Die Autorin mustert die ganze Fülle der Themen und Ideen ohne den geringsten Schimmer, wie diese Themen eine Erzählung vorantreiben oder gar zu Erzählmaterial werden könnten. So haben wir es mit dem Schlachtfeld eines Romanprojekts zu tun, und am Ende warten die bösen Überraschungen.

Das Studium der Quellen bildet den Hauptteil des Romans. Clara Pinto-Correira ist auf diesem Gebiet ebenso fleißig und vor allem unermüdlich wie ihre Heldin. Beschreibungen und zeitgenössische Kommentare zum Lissabonner Erdbeben werden aber nicht etwa umerzählt oder auf geschickte Weise in den Roman integriert, sondern seitenweise zitiert. Leider sind die Zitate nicht ausschließlich Trouvaillen der Forschung, sondern häufig ganz vom Zeitgeist geprägte Texte, die den beiden Forschern höchstens ein paar Stoßseufzer oder einige knappe Bemerkungen entlocken.

In den Jahrzehnten vor dem Erdbeben haben sich, stellen unsere Forschungsbeauftragten fest, in aller Welt Erscheinungen von Monstern und anderen wunderbaren Wesen gehäuft. Je näher das Erdbeben rückt, umso näher rücken diese Erscheinungen seltsamerweise an Lissabon heran, schließlich werden die Beobachtungen in der Stadt selbst gemacht. Es ist, als hätte eine ferne, lenkende Macht das bevorstehende Unglück mit einigen wohl überlegten Fingerzeigen - mit Hilfe also von "stummen Boten" gleichsam - andeuten wollen. Hätte ein zeitgenössischer Beobachter all diese Quellen nacheinander und mit Überblick zu lesen verstanden, so hätte er Ort und Zeit des Erdbebens in etwa voraussagen können.

Die lange Reihe der Quellen und Beweise, die für diese Untersuchungsergebnisse herhalten müssen, soll jedoch in diesem Roman einen Erzählfaden bilden. Das gelingt nicht, weil die Quellen den beiden Forschenden im Grunde fremd bleiben. Sie reagieren auf diese Quellen wie matte Reflexmelder von heute, denn all diese Berichte sollen den Roman ja nicht dominieren. Clara Pinto-Correira will, dass sich Ana Maria und Chuck aufeinander zubewegen, genau so, wie sich die Meldungen von schrecklichen Erscheinungen und Monstern im Jahr 1755 auf Lissabon zubewegt haben.

Gerade diese Ebene des Romans, die psychologische, ist viel zu schwach konturiert. Chuck, der Kunsthistoriker, bleibt den Roman über der steife Holzklotz aus Kansas, dessen Berufung auf einen Lehrstuhl in Stanford ein Irrtum gewesen sein muss. Viel schwerer aber noch wiegt, dass er mit Ana Maria so wenig anfangen kann. In seinen Augen ist sie so etwas wie die Erscheinung des Schönen, die Frau, bei deren bloßem Anblick man bereits ins Stottern gerät, ganz zu schweigen von den mentalen Ausfällen beim Einatmen ihres Parfüms. "Wer ist?", "Wo ist?", "Was ist?" - an dieses einfache Fragenwerk klammert sich Chuck, und es ist nicht zu verstehen, was eine gescheite Frau wie Ana Maria an solchen Elementarfragen berauscht.

Als gestrenge Lehrerin und Lebenskünstlerin triumphiert sie vor den Augen des Lesers in jeder Hinsicht. Sie weiß, dass Oscar Hertwig "ein berühmter Biologe aus dem neunzehnten Jahrhundert", dass E. W. Sutherland der "Begründer dieser ganzen Idee der sekundären Botenstoffe" oder dass ein sekundärer Botenstoff "ein kleines Molekül ist, das als Antwort auf ein extrazelluläres Signal entweder im Zytosol gebildet oder ins Zytosol hinein freigesetzt wird".

Genau darauf aber wartet der Leser: dass in den beiden Hauptfiguren endlich etwas freigesetzt wird. Nach über zweihundert Seiten ist es so weit. Im Finale des Romans packt die Autorin die wohl begründete Panik. Die bisher künstlich hochgezogenen Schleusen werden wie auf ein extrazelluläres Signal hin geöffnet und die Welt der kleinen seelischen Moleküle gerät in jene Turbulenzen, die man sich früher und geschickter auf die Langlaufstrecke des Romans verteilt gewünscht hätte. Also übernimmt Ana Maria die Rolle der "stummen Botin". Damit sie sich in unserem Holzklotz aus Kansas "freisetzen" kann, darf sie völlig unerwartet und vor allem unvorbereitet mit einer Lebensgeschichte aufwarten, die den Abenteuerromanen des achtzehnten Jahrhunderts alle Ehre gemacht hätte. Plötzlich ist Tempo in diesem Roman, doch jetzt wirkt die Geschwindigkeit überdreht, als müssten vor dem Ende noch ein paar Loopings gefahren werden, die das Schneckentempo der vorausgegangenen zweihundert Seiten vergessen machen sollen.

Es hilft aber nichts. Der schwach geknüpfte Erzählfaden zerreißt, denn das Finale ist zu stark, zu dick aufgetragen, als dass eine schmächtige Forschungsvergangenheit das alles stützen könnte. "Wer lacht hier zuletzt? Was sagen uns die Zeichen? Was hat es zu bedeuten, Chuck?", fragt sich Chuck, die ehrliche Haut. Und als hätte sie nun doch Mitleid mit ihm und dem Leser, drückt ihm Clara Pinto-Correira zum Schluss ein geheimes Tagebuch seiner Frau in die Hand, über dessen rätselvollen Zeilen er nun darüber nachgrübeln darf, wie das ist, wenn man ein Leben lang mit der Falschen verbringt, im Glauben, die Falsche fände das ganz in Ordnung, während die Falsche sich ein Leben lang nach nichts anderem sehnte, als die Richtige zu sein, eben eine Ana Maria, das glutäugige Idol so manchen eintönigen Forschungserlebnisses.

HANNS-JOSEF ORTHEIL

Clara Pinto-Correira: "Stumme Boten". Roman. Aus dem Englischen übersetzt von Esther Kinsky. Eichborn Verlag, Frankfurt am Main 1999. 267 S., geb., 39,80 DM.

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