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Über die Kultur der "einfachen" Menschen im Mittelalter ist nur wenig bekannt. Auf breiter Quellenbasis und höchst anschaulich gelingt es dem berühmten russischen Historiker, in länderübergreifender Perspektive Alltag, Kultur und Leitbilder dieser angeblich "stummen Zeugen" mittelalterlicher Geschichte zu rekonstruieren.

Produktbeschreibung
Über die Kultur der "einfachen" Menschen im Mittelalter ist nur wenig bekannt. Auf breiter Quellenbasis und höchst anschaulich gelingt es dem berühmten russischen Historiker, in länderübergreifender Perspektive Alltag, Kultur und Leitbilder dieser angeblich "stummen Zeugen" mittelalterlicher Geschichte zu rekonstruieren.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 07.08.1997

Mittelalterliche Lästermäuler
Was zwischen den Zeilen steht: Aaron Gurjewitsch sucht die Nähe zur vergangenen Volkskultur

Seit Beginn der ethnologischen Sammeltätigkeit im achtzehnten Jahrhundert ist die sogenannte Volkskultur beständiges Thema. Oft war jedoch den Gelehrten das damals schon im Rückgang befindliche Aufgefundene nicht volkstümlich genug, und sie verfälschten es oder erfanden eigenes Volksgut. In ihren Anfängen diente die Ethnologie noch der nationalistischen bis chauvinistischen Verklärung der Folklore, später wurde sie dann - auch unter dem Einfluß von der Schule der Annales - zu einer ernstzunehmenden Wissenschaft von den Völkern. Damit trat der Gegensatz von Elitenkultur und Volkskultur immer stärker in das Blickfeld der Forschung. Der sowjetische Historiker Aaron Gurjewitsch fühlt sich, auch angeregt durch die Arbeiten Carlo Ginzburgs oder Peter Burkes, zu einer weiteren Betrachtung des Mittelalters aufgerufen. Im englisch-amerikanischen Raum wird die Zeit normalerweise als eine Epoche betrachtet, die sich bis zur Zeit Isaac Newtons erstreckt. Ausgehend von der Theorie der "longue durée", erblickt auch Gurjewitsch keine scharfen Unterschiede, die da plötzlich mit der Renaissance hereingebrochen wären.

Von den Anfängen des Mittelalters bis hin zu den Hexenprozessen versucht er, Teilaspekte der Raum- und Zeitvorstellung, aber auch der alltäglichen Probleme der Menschen aufzuzeigen. Das Problem eines solchen Buches ist die Dauer, die zwischen Erscheinen, Rezeption und Verarbeitung liegt. Denn im Gegensatz zur weitläufigen Ansicht schläft auch die Geschichtswissenschaft nicht. Gurjewitschs Buch erschien 1990 in Moskau. Es ist sehr gut aufbereitet, hat ein nützliches Register und einen erstklassig angelegten wissenschaftlichen Apparat. Aber trotz eines Vorwortes für die deutsche Ausgabe vom Dezember 1995 spiegelt das Buch den Stand der Forschung der späten achtziger Jahre wider. Für manchen Leser mag alles neu sein, was er liest. Es kann nicht oft genug wiederholt werden, daß weder die Lebenspyramide noch die Drei-Stände-Lehre ein taugliches Instrument für die Vorstellung des Mittelalters hergeben. Der Eindruck, daß Hexenprozesse lediglich ins finstere Mittelalter gehörten, wird ebenso kritisch untersucht wie das System der Volkspredigten und die sich daraus ergebende judenfeindliche Stimmung im Volk (das Wort Antisemitismus wäre in diesem Zusammenhang ein Anachronismus).

Breiter Raum wird auch der Zeitvorstellung im Mittelalter gewidmet. In dem Maße, wie eine genaue Stundeneinteilung des Tages seit dem vierzehnten Jahrhundert üblich wurde, trennten sich die Eliten-und die Volkskultur, trennte sich das Zeitverständnis von Stadt und Land. Die Bestimmung der Tageszeit machte den Unterschied aus, der zum Auseinanderdriften der Kulturen führen sollte. War in der Zeit der Sagas der Isländer und Skandinavier oder in der Epoche der Niederschrift des Nibelungenliedes die Zeit für jedermann (bis auf die Mönche) zyklisch und an den Lauf der Sonne gebunden, änderte sich das mit dem ersten Glockenschlag einer Uhr an einem städtischen Uhrturm.

Gurjewitsch zeigt dies anhand von Predigten und der Literaturgattung der Exempla, volkstümlicher Erzählungen von Wundertaten. Auch auf die Berichte von Visionen von Bauern oder auf die Volkspredigten des Berthold von Regensburg greift er zurück. "In den Exempla", schreibt er, "findet sozusagen eine Interferenz der Stimme des gelehrten Autors oder Predigers und der Stimme der ihn umgebenden Menge von Gemeindemitgliedern statt, mit denen er unmittelbares Einvernehmen und emotionalen Kontakt sucht und an die er sich in der ihr verständlichen Sprache anschaulicher Bilder wendet."

Viel näher kommt Gurjewitsch der Stimme des einfachen Volkes jedoch nicht mehr. Vor allem die Auswahl der Predigttexte aus dem süddeutschen Raum, wo die staufische Tradition die längste Nachwirkung hatte, läßt auch ihn der Illusion des Interregnums aufsitzen. Diese Zeitepoche, die schon nördlich des Mains nicht nur ignoriert wurde, sondern dort eben auch nie stattgefunden hat, wird in den "Stummen Zeugen des Mittelalters" für einige Probleme zum Angelpunkt.

Die immer wieder vorgebrachte Klage über "Raubritter" in Predigten, Exempla oder auch Chroniken der Zeit zeigt aber nicht so sehr ein reales Bild der Zustände im dreizehnten Jahrhundert (Ritter haben immer geraubt), sondern vielmehr eine Wunschvorstellung der Schriftkundigen, die mit der zunehmenden Territorialisierung seit dem zwölften Jahrhundert eine andere Gesellschaftsordnung forderten.

Daß es schwierig ist, die Volkskultur des Mittelalters zu rekonstruieren, hat Gurjewitsch selbst zugegeben: "Die Zugangswege zur Kultur der schweigenden Mehrheit", bemerkt er in seinem Nachwort, "sind äußerst beschränkt." Nur ein "folgerichtiges und vollständiges Bild" habe er zeichnen wollen. Das ist ihm gelungen. Für Fachleute und interessierte Laien hat er ein schönes Buch geschrieben, das leider sieben oder acht Jahre zu spät zu uns kommt. MARTIN LHOTZKY

Aaron J. Gurjewitsch: "Stumme Zeugen des Mittelalters". Weltbild und Kultur der einfachen Menschen. Aus dem Russischen von Ulrike Fromm. Böhlau Verlag, Köln, Wien 1997. 340 S., geb., 68,- DM.

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