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Julio Llamazares (Jahrgang 1955) blättert in einem Fotoalbum aus seiner Kindheit. Erinnerungen an die Zeit der 60er Jahre in einem abgelegenen Bergarbeiterdorf Asturiens steigen auf. Jedes dieser Fotos stellt uns das Leben in dieser vernachlässigten Region zu jener Zeit vor: Asturien ist ein grüner, kalter Landstrich Spaniens. Im Winter gibt es viel Schnee, und die Kälte kriecht in alle Wohnungen. Der Weg zur Schule wird zum Martyrium. Es ist immer noch bittere Nachkriegszeit, es fehlt an vielem, sogar am Essen. Vergnügen bereitet das wöchentlich stattfindende Freilichtkino, von dem der Autor…mehr

Produktbeschreibung
Julio Llamazares (Jahrgang 1955) blättert in einem Fotoalbum aus seiner Kindheit. Erinnerungen an die Zeit der 60er Jahre in einem abgelegenen Bergarbeiterdorf Asturiens steigen auf. Jedes dieser Fotos stellt uns das Leben in dieser vernachlässigten Region zu jener Zeit vor: Asturien ist ein grüner, kalter Landstrich Spaniens. Im Winter gibt es viel Schnee, und die Kälte kriecht in alle Wohnungen. Der Weg zur Schule wird zum Martyrium. Es ist immer noch bittere Nachkriegszeit, es fehlt an vielem, sogar am Essen. Vergnügen bereitet das wöchentlich stattfindende Freilichtkino, von dem der Autor nur die Töne hört, die Bilder jedoch nicht sehen darf. So erfindet er sich die Filme selbst, und dies ist eine seiner stärksten Kindheitserinnerungen. Er bewegt, ohne große Gesten zu benötigen, in wenigen wahren Worten, die vom alltäglichen Leben zeugen.
Autorenporträt
Willi Zurbrüggen, geboren 1949 in Borghorst, ist Literaturübersetzer und Schriftsteller. Er absolvierte eine Banklehre und arbeitete bei einer Investmentbank. Nach mehreren Reisen in den Maghreb und den Vorderen Orient sowie einem zweijährigen Aufenthalt in Mexiko und Mittelamerika arbeitet er seit 1980 als freier Literaturübersetzer. Zurbrüggen hat zahlreiche bedeutende Werke aus dem Spanischen ins Deutsche übertragen. Für seine Übersetzungen erhielt er internationale Preise. Willi Zurbrüggen lebt und arbeitet in Heidelberg. 1990: Übersetzerpreis des Spanischen Kulturministeriums in Madrid, 1995: Übersetzerpreis der Spanischen Botschaft in Bonn, 1996: Literaturpreis der Stadt Stuttgart 2005: Stipendium des Deutschen Literaturfonds. 2012 erhielt Willi Zurbrüggen den "Jane Scatcherd-Preis" für seine Lebensarbeit. Er hat mit seinem übersetzerischen Werk einen großen Beitrag zur Wahrnehmung sowohl spanischer als auch lateinamerikanischer Autoren in Deutschland geleistet; Javier Cercas, Antonio Munoz Molina, Luis Sepúlveda, Antonio Skármeta, Manuel Vázquez Montalbán sind darunter die bekanntesten Namen.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 20.03.1999

Welt auf der Kinnspitze
Kindheitsszenen des Julio Llamazares · Von Paul Ingendaay

Jeder hatte eine Kindheit, und jeder erinnert sich daran. Aber wer weiß schon, warum manche Bilder sich randscharf erhalten, andere dagegen nicht, oder was die alten Eindrücke, die von so vielen frischeren Schichten überlagert wurden, dem forschenden Blick überhaupt noch mitzuteilen haben. So bleibt das meiste in Nebel gehüllt, und da es nur einmal pro Jahrhundert einen Proust gibt, steht die Frage, wie sich die Erinnerung des Erwachsenen in die Kindheit zurückgräbt, bei Literaten nicht allzu oft auf der Tagesordnung. Es handelt sich ja, sofern weder Generalabrechnungen noch wilde Beichten geplant sind, um ein ziemlich unspektakuläres Geschäft. Bei dem Spanier Julio Llamazares, geboren 1955, geht es nun tatsächlich um das "Wie". Zunächst scheint gar nicht mehr viel da zu sein, woran der Schriftsteller sich erinnern könnte. Also greift er zu einem Trick und verrät bis zum Ende seines Buches nicht, ob er damit sich selbst oder nicht auch den Leser überlistet: Vor ihm, so schreibt er, liegen achtundzwanzig Fotos aus dem Nachlaß seiner Mutter, die er als Material für achtundzwanzig kurze Prosastücke benutzt, "Stummfilmszenen" eben, um mit dem Titel des 1994 im Original erschienenen Buches zu reden. Dadurch befreit er sich nicht nur von dem Problem, seine Kindheit mit einer Bedeutung aufladen zu müssen, die sie vielleicht gar nicht hatte, er entgeht auch der autobiographischen Anmaßung, einem geneigten Publikum zu erklären, wie er wurde, was er ist. Für die Pedanten unter seinen Lesern hat er schon am Anfang ein Warnschild aufgestellt: Sein Buch sei ein Roman, denn "jeder Roman ist autobiographisch, und jede Autobiographie ist eine Fiktion". Von Olleros, dem kleinen Dorf im Kohlerevier Asturiens, in dem Llamazares acht Jahre seiner Kindheit verbracht hat, spricht heute niemand mehr. Die Zechen sind stillgelegt, die hastig zusammengeschusterten Unterkünfte, in denen sich Generationen von Bergleuten, darunter die ersten nordafrikanischen "Gastarbeiter", zu Tode gehustet haben, großenteils verlassen. Natürlich ist Olleros kein verschwundenes Paradies, sondern nur eine unter vielen wuchernden Ansiedlungen im Nordwesten Spaniens, die schon im vergangenen Jahrhundert entstanden und keinen Touristen je interessiert haben. Für das Buch ist diese Abseitigkeit eher von Vorteil. Denn Llamazares ersetzt den wirklichen Ort, der Olleros einst gewesen sein mag, durch eine mit Kinderaugen gesehene intime Szenerie, die nur aus zwei Farben besteht, dem Weiß des Schnees und dem Schwarz der Kohle. Mit diesem Kontrast, den die Erinnerung als unauslöschliches Bild gespeichert hat, beschreibt der Autor auch die früheste Faszination seiner Kinderzeit: wie der Siebenjährige an Winterabenden vor dem Dorfkino steht und sich mit Hilfe der schwarzweißen Plakate in die Filme hineinphantasiert, die er selbst noch nicht sehen darf. Auch heute noch schlendert er in Gedanken zwischen amerikanischen Hotels dahin, "in denen eine blonde Frau auf ihn wartet, um ihn zu küssen". Aber es weht kein Hauch von Eskapismus durch die Seiten dieses unaufdringlich und intelligent erzählten Buches, das in der Rückgewinnung einer Kindheit mehr leistet als manches hochtönende Selbsterkundungsprojekt. Wir erfahren, daß der kleine Julio am Rand saß, während seine Kameraden vom Hügel herunterrodelten; wie es sich anfühlte, der Sohn des Dorfschullehrers zu sein; wann der erste Fernseher nach Olleros kam und zweihundert Leute in die Dorfkneipe lockte; wie die Außenseiter der Gemeinschaft ihr Leben fristeten, von den arabischen Arbeitern, die ihre traurige Musik mitbrachten, bis zu dem jungen Motorradfahrer, der sich als argentinischer Gaucho stilisierte und eines Tages vor den Augen des Erzählers starb: "Er kam heran, fuhr an mir vorbei (er fuhr nicht schnell, auf der Straße lag Schnee), noch zwanzig oder dreißig Meter weiter, und plötzlich, als er gerade von der Bildfläche verschwinden wollte, schoß er wie eine Rakete seitlich weg und prallte gegen einen Baum. Danach sah ich nur noch eine Kette durch die Luft fliegen, ein Rad zu Boden torkeln und dann ihn, wie er vom Baum auf die Straße zurückgeschleudert wurde, wo er liegenblieb, so wie er auf dem Foto daliegt, nur ohne die Leute drumherum." Das Franco-Regime der späten fünfziger und sechziger Jahre, von dem Llamazares erzählt, betrieb Disziplinierung nach innen und Abschottung nach außen. In diesem Buch hat man den Eindruck, von einer noch tieferen Vergangenheit zu lesen, als wäre jegliche Hoffnung auf Fortschritt zusammen mit den kohleverschmierten Kumpels in die Grube gefahren. Was aus einer Welt der Knochenarbeit, der armseligen Wohnungen und strengen Winter herausleuchtet, sind Erinnerungen an die dreizehnköpfige Kapelle aus Compostela oder an den Wanderzirkus, dessen spektakulärste Attraktion, "Barbachey der Seehund-Mann", einen Stuhl mit einem Kind darauf auf seiner Kinnspitze balancieren konnte. Wer in den "Stummfilmszenen" nach Politik Ausschau hält, muß sich mit zwei oder drei kleinen Vignetten bescheiden, die schön illustrieren, wie Kinder die hochernsten Belange der Erwachsenen umwerten. Einmal werden die Bewohner von Olleros frühmorgens mit Bussen in ein anderes Dorf gekarrt, wo demnächst Franco und sein Gefolge vorbeifahren sollen. Die Kinder sind aufgeregt; die Menge wartet, die Menge winkt, aber der "Caudillo" rauscht in Sekundenschnelle vorbei, ohne ein Baby gestreichelt oder eine einzige schmutzige Hand geschüttelt zu haben. Später erzählt man sich, er habe es eilig gehabt, um in der Nähe Lachse zu fischen. Ein völlig hinreichender Kommentar zum Aufbau des "neuen Spanien". Als die Guardia Civil Jahre darauf in Olleros einen Streik der bekanntermaßen rebellischen Bergleute niederschlägt, steht das Urteil des Kindes über den Diktator längst fest: "daß jemand nicht gut sein konnte, der niemals lachte und immer nur schlecht gelaunt war". Julio Llamazares hat auf deutsch bisher zwei kurze, aber bemerkenswerte Romane herausgebracht, "Wolfsmond" und "Der gelbe Regen" (beide 1991). In Spanien ist seine Veröffentlichungsliste viermal so lang. Bei allem, was er schreibt - Kolumnen, Reportagen, Essays und Reisebücher -, bleibt er als persönlich haftender Beobachter spürbar, und da er langsamer und sorgfältiger arbeitet als viele seiner Kollegen, haben seine verstreuten Klein- bis Kleinstwerke eine beeindruckende Kohärenz angenommen. Willi Zurbrüggen, der Nachfolger des früh verstorbenen Llamazares-Übersetzers Wilfried Böhringer, hat für die lakonische Eleganz dieses Buches einen stimmigen Ton gefunden. Bei der Interpunktion allerdings, von zahlreichen Druckfehlern einmal abgesehen, hat ihn das Lektorat im Stich gelassen. Das mag damit zusammenhängen, daß bei den bunten Heften der Edition Suhrkamp, in der Llamazares nun schon zum zweitenmal erscheint, für die Betreuung nicht mehr viel Zeit übrig ist. Entweder also man nimmt sie sich - oder man bringt Julio Llamazares gleich ins Hauptprogramm, wohin er gehört.

Julio Llamazares: "Stummfilmszenen". Roman. Aus dem Spanischen übersetzt von Willi Zurbrüggen. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 1998. 173 S., br., 18,80 DM.

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