Nobelpreisträger J.M.G. Le Clézio - der Meister des Subtilen
Die beiden Novellen in J.M.G. Le Clézios neuem Buch sind wie die zwei Seiten einer Medaille. Mit viel Einfühlungsvermögen und Gespür für Details erzählt er von Menschen, die fernab der Schauplätze der Geschichte - auf einer japanischen Insel, in Afrika, in der Pariser Banlieue - nach schweren Schicksalsschlägen die Kraft für einen Neuanfang finden.
So wie in der Titelgeschichte der Journalist Philip Kyo, der auf der japanischen Insel Udo einer verlorenen Liebe nachspürt und der schwer an einer Verfehlung in seiner Vergangenheit trägt. Zwischen ihm und der 13-jährigen, vaterlosen June, Tochter einer Muscheltaucherin, entspinnt sich eine besondere Beziehung, die für beide zum Auslöser wird, ihrem Leben eine neue Richtung zu geben.
Anders die Geschichte von Rachel aus der zweiten Novelle. Als ihre Familie zerbricht und sie ihr geliebtes Afrika verlassen muss, um nach Frankreich zu ziehen, ist sie gezwungen, sich nicht nur nach außen, sondern auch im Verhältnis zu ihrer Familie völlig neu zu orientieren. Ein schmerzhafter und langwieriger Prozess, bei dem nur die Liebe zu ihrer Schwester sie vor einer Katastrophe bewahrt und ihr am Ende hilft, eine wegweisende Entscheidung zu treffen.
Licht und Schatten, Tod und Neuanfang, Wissen und Nicht-Wissen, zwischen diesen Polen siedelt Le Clézio seine Geschichten an. Den Blick gleichermaßen nach innen und nach außen gerichtet. Meisterhaft.
Hinweis: Dieser Artikel kann nur an eine deutsche Lieferadresse ausgeliefert werden.
Die beiden Novellen in J.M.G. Le Clézios neuem Buch sind wie die zwei Seiten einer Medaille. Mit viel Einfühlungsvermögen und Gespür für Details erzählt er von Menschen, die fernab der Schauplätze der Geschichte - auf einer japanischen Insel, in Afrika, in der Pariser Banlieue - nach schweren Schicksalsschlägen die Kraft für einen Neuanfang finden.
So wie in der Titelgeschichte der Journalist Philip Kyo, der auf der japanischen Insel Udo einer verlorenen Liebe nachspürt und der schwer an einer Verfehlung in seiner Vergangenheit trägt. Zwischen ihm und der 13-jährigen, vaterlosen June, Tochter einer Muscheltaucherin, entspinnt sich eine besondere Beziehung, die für beide zum Auslöser wird, ihrem Leben eine neue Richtung zu geben.
Anders die Geschichte von Rachel aus der zweiten Novelle. Als ihre Familie zerbricht und sie ihr geliebtes Afrika verlassen muss, um nach Frankreich zu ziehen, ist sie gezwungen, sich nicht nur nach außen, sondern auch im Verhältnis zu ihrer Familie völlig neu zu orientieren. Ein schmerzhafter und langwieriger Prozess, bei dem nur die Liebe zu ihrer Schwester sie vor einer Katastrophe bewahrt und ihr am Ende hilft, eine wegweisende Entscheidung zu treffen.
Licht und Schatten, Tod und Neuanfang, Wissen und Nicht-Wissen, zwischen diesen Polen siedelt Le Clézio seine Geschichten an. Den Blick gleichermaßen nach innen und nach außen gerichtet. Meisterhaft.
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 13.06.2017Gefährliche Gestade
Zwei Novellen des Literaturnobelpreisträgers Le Clézio erzählen von der Not des Erwachsenwerdens
Unter dem Titel "Sturm" veröffentlicht Jean-Marie Gustave Le Clézio zwei exotische Novellen: "Sturm" und "Eine Frau ohne Identität". Beide erzählen die Krisen des Erwachsenwerdens: Zwei Mädchen müssen sich in familiärer und sozialer Problemlage bewähren; das aufgewühlte Meer dient als Setting und als Metapher für den emotionalen Ausnahmezustand. Le Clézio selbst segelt gewohnt hart am Wind und lässt es darauf ankommen: Er kentert mitunter, aber problematisch wird es erst, wenn er es sich in badewannenwarmen Plätscherwellen gemütlich macht. Die Gründe sind bekannt: Der Nobelpreisträger für Literatur des Jahres 2008 pflegt mitunter mehr das gefällige Gefühl als die literarische Feinarbeit.
Genau genommen erzählt die Novelle "Sturm" von gleich zwei Existenzkrisen: Philip Kyo, ein ehemaliger Häftling, gescheiterter Journalist und Möchtegernschriftsteller, kehrt auf die koreanische Insel Udo zurück, wo er vor dreißig Jahren seine Geliebte ans Meer verloren hat. Kyo sucht einen Anknüpfungspunkt, der es ihm erlaubte, seine Existenz wieder ins Gleis zu bringen; er residiert im Hotel "Happy Days" und versucht lust- und erfolglos zu angeln. Die Lage scheint verzweifelt: "Die Insel ist die Bestätigung für die Unmöglichkeit der Erlösung. Der Beweis für die Unfähigkeit. Die Insel ist der letzte Hafenkai, die letzte Zwischenstation vor dem Nichts. Deshalb bin ich wieder hergekommen." Hintergrund ist die Schuld, die Kyo als junger Mann auf sich geladen hat: Als Voyeur hat er einer Vergewaltigung beigewohnt, eine Tat, die er trotz Strafe weder gebüßt noch verarbeitet hat.
Bevor Kyo der suizidalen Tendenz nachgeben kann, trifft er auf June, ein dreizehnjähriges Mädchen, das ihn nicht nur das Angeln lehrt, sondern ihm auch rasch Zutrauen schenkt. June ist die Frucht einer Affäre mit einem amerikanischen Soldaten, ihre Mutter war gezwungen, das Studium abzubrechen und die Stadt zu verlassen; sie hat sich als Seefrau auf Udo niedergelassen, wo June vaterlos und stigmatisiert aufwächst. Neben den Demütigungen ihrer Schulkameraden muss June den schlüpfrigen Lebensgefährten ihrer Mutter ertragen. Dank Kyo entdeckt June Horizonte jenseits der Insel; für ihn stellt das Kind eine Verbindung zur Welt dar. Zwischen beiden entwickelt sich eine - in den Augen des Mädchens - zweideutige Zuneigung, die es June jedoch erlaubt, sich von ihrer bornierten Umgebung zu emanzipieren.
Die Novelle wechselt zwischen Kyos und Junes Perspektive: Beide Situationen - Kyos schuldige Vergangenheit, Junes elende Gegenwart - werden glaubwürdig entwickelt, ebenso die ambivalente Zuneigung der beiden Einzelgänger. Le Clézio findet einen Ausstieg aus der Lolita-Falle: Tatsächlich unterhält Kyo eine sinnenfrohe Affäre mit der einsamen Apothekerin. Diese Entdeckung verkraftet June zunächst nicht: Für sie ist Kyo halb Vater, halb Liebhaber. Die Verwirrung ihrer Gefühle ist so groß, dass sie Kyos Todeswunsch sozusagen übernimmt und ins Meer geht; die Seefrauen wachen jedoch über die Heranwachsende, und die Geschichte kann eine versöhnliche Wendung nehmen.
Große Emotionen branden gewohnt mächtig, die Figuren werden den Elementen plakativ angenähert: "Wenn ich mit ihm spreche, gleitet plötzlich so etwas wie eine Wolke vor seinen Augen her über seine Stirn." Dennoch, "Sturm" hat Kraft und Charme, nicht nur durch die Verschränkung zweier Krisen an Anfang und Ende des Erwachsenenlebens. Le Clézio nutzt auch das pittoreske Setting: Auf Udo gibt es tatsächlich die Haenyo, Seefrauen, die nach Muscheln tauchen und diese mit einem charakteristischen Schrei an die Oberfläche bringen. Indem Le Clézio seine Heldin zu einer der ihren werden lässt, kann er das poetische Potential des Motivs für eine lange, komplexe, klar konstruierte Novelle nutzen.
"Eine Frau ohne Identität" hingegen bietet eher Kabbelwasser: Die zweite Novelle kann sich nicht recht entscheiden. Erzählt wird die Geschichte Rachels, die bei der Familie Badou in Takoradi (Ghana) aufwächst. Ihre Herkunft ist noch unerfreulicher als die von June: Herr Badou hat ihre Mutter vergewaltigt und nimmt sich des Resultats ungern an; das Verhältnis zu Stiefmutter Madame Badou und Halbschwester Bibi ist konfliktreich. Le Clézio berichtet von vielen Dingen: Der Vater, ein Autoverkäufer, geht nach üppigen Jahren pleite, eine politische Krise erzwingt die Rückkehr nach Europa. Die Familie zerfällt, erst bleiben die drei Frauen in Paris zusammen, dann ist Rachel auf sich allein gestellt. Während Madame Badou einen reichen Zweitmann und Bibi in Beruf und Familie findet, verwahrlost sie und landet auf der Straße. Erst am Ende erlaubt eine Rückkehr nach Takoradi der nunmehr 33 Jahre alten Rachel einen Neuanfang.
Man könnte behaupten, dass die Irrungen der Novelle jenen Rachels entsprechen. Tatsächlich wird das Mädchen in dem Moment aus der Bahn geworfen, als es an der Schlafzimmertür lauscht und aus dem Mund der giftenden Stiefmutter erfährt, wer es ist: "Rachel Namenlos", "die Tochter einer Nutte", "gezeugt bei einer Zufallsbegegnung in einem Keller", "ein Straßenkind". So schrecklich das Zerbrechen einer Kindheit ist, so widerstandslos gefällt sich die Folge im Elend - auch eine Zersetzung will komponiert sein. Le Clézio jedoch weigert sich, Akzente zu setzen: Stattdessen mischt er ein Potpourri des Schreckens, in dem Pubertät, Frauenhass und Entwurzelung monoton ineinanderlaufen.
Zirka zwanzig Jahre Irrungen werden angerissen, aber weder Stufen noch Dynamik zeichnen sich ab. Selbst die Auflösung - eine Begegnung mit der leiblichen Mutter, die Rückkehr an den Geburtsort - kann nur ansatzweise überzeugen. Symptomatisch: Das Meer bleibt in "Eine Frau ohne Identität" Kulisse und schwappt einem lau um die Füße. Da riskiert man lieber die frische Brandung der ersten Novelle.
NIKLAS BENDER
J.-M. G. Le Clézio: "Sturm". Zwei Novellen.
Aus dem Französischen von Uli Wittmann. Kiepenheuer & Witsch, Köln 2017. 240 S., geb., 20,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Zwei Novellen des Literaturnobelpreisträgers Le Clézio erzählen von der Not des Erwachsenwerdens
Unter dem Titel "Sturm" veröffentlicht Jean-Marie Gustave Le Clézio zwei exotische Novellen: "Sturm" und "Eine Frau ohne Identität". Beide erzählen die Krisen des Erwachsenwerdens: Zwei Mädchen müssen sich in familiärer und sozialer Problemlage bewähren; das aufgewühlte Meer dient als Setting und als Metapher für den emotionalen Ausnahmezustand. Le Clézio selbst segelt gewohnt hart am Wind und lässt es darauf ankommen: Er kentert mitunter, aber problematisch wird es erst, wenn er es sich in badewannenwarmen Plätscherwellen gemütlich macht. Die Gründe sind bekannt: Der Nobelpreisträger für Literatur des Jahres 2008 pflegt mitunter mehr das gefällige Gefühl als die literarische Feinarbeit.
Genau genommen erzählt die Novelle "Sturm" von gleich zwei Existenzkrisen: Philip Kyo, ein ehemaliger Häftling, gescheiterter Journalist und Möchtegernschriftsteller, kehrt auf die koreanische Insel Udo zurück, wo er vor dreißig Jahren seine Geliebte ans Meer verloren hat. Kyo sucht einen Anknüpfungspunkt, der es ihm erlaubte, seine Existenz wieder ins Gleis zu bringen; er residiert im Hotel "Happy Days" und versucht lust- und erfolglos zu angeln. Die Lage scheint verzweifelt: "Die Insel ist die Bestätigung für die Unmöglichkeit der Erlösung. Der Beweis für die Unfähigkeit. Die Insel ist der letzte Hafenkai, die letzte Zwischenstation vor dem Nichts. Deshalb bin ich wieder hergekommen." Hintergrund ist die Schuld, die Kyo als junger Mann auf sich geladen hat: Als Voyeur hat er einer Vergewaltigung beigewohnt, eine Tat, die er trotz Strafe weder gebüßt noch verarbeitet hat.
Bevor Kyo der suizidalen Tendenz nachgeben kann, trifft er auf June, ein dreizehnjähriges Mädchen, das ihn nicht nur das Angeln lehrt, sondern ihm auch rasch Zutrauen schenkt. June ist die Frucht einer Affäre mit einem amerikanischen Soldaten, ihre Mutter war gezwungen, das Studium abzubrechen und die Stadt zu verlassen; sie hat sich als Seefrau auf Udo niedergelassen, wo June vaterlos und stigmatisiert aufwächst. Neben den Demütigungen ihrer Schulkameraden muss June den schlüpfrigen Lebensgefährten ihrer Mutter ertragen. Dank Kyo entdeckt June Horizonte jenseits der Insel; für ihn stellt das Kind eine Verbindung zur Welt dar. Zwischen beiden entwickelt sich eine - in den Augen des Mädchens - zweideutige Zuneigung, die es June jedoch erlaubt, sich von ihrer bornierten Umgebung zu emanzipieren.
Die Novelle wechselt zwischen Kyos und Junes Perspektive: Beide Situationen - Kyos schuldige Vergangenheit, Junes elende Gegenwart - werden glaubwürdig entwickelt, ebenso die ambivalente Zuneigung der beiden Einzelgänger. Le Clézio findet einen Ausstieg aus der Lolita-Falle: Tatsächlich unterhält Kyo eine sinnenfrohe Affäre mit der einsamen Apothekerin. Diese Entdeckung verkraftet June zunächst nicht: Für sie ist Kyo halb Vater, halb Liebhaber. Die Verwirrung ihrer Gefühle ist so groß, dass sie Kyos Todeswunsch sozusagen übernimmt und ins Meer geht; die Seefrauen wachen jedoch über die Heranwachsende, und die Geschichte kann eine versöhnliche Wendung nehmen.
Große Emotionen branden gewohnt mächtig, die Figuren werden den Elementen plakativ angenähert: "Wenn ich mit ihm spreche, gleitet plötzlich so etwas wie eine Wolke vor seinen Augen her über seine Stirn." Dennoch, "Sturm" hat Kraft und Charme, nicht nur durch die Verschränkung zweier Krisen an Anfang und Ende des Erwachsenenlebens. Le Clézio nutzt auch das pittoreske Setting: Auf Udo gibt es tatsächlich die Haenyo, Seefrauen, die nach Muscheln tauchen und diese mit einem charakteristischen Schrei an die Oberfläche bringen. Indem Le Clézio seine Heldin zu einer der ihren werden lässt, kann er das poetische Potential des Motivs für eine lange, komplexe, klar konstruierte Novelle nutzen.
"Eine Frau ohne Identität" hingegen bietet eher Kabbelwasser: Die zweite Novelle kann sich nicht recht entscheiden. Erzählt wird die Geschichte Rachels, die bei der Familie Badou in Takoradi (Ghana) aufwächst. Ihre Herkunft ist noch unerfreulicher als die von June: Herr Badou hat ihre Mutter vergewaltigt und nimmt sich des Resultats ungern an; das Verhältnis zu Stiefmutter Madame Badou und Halbschwester Bibi ist konfliktreich. Le Clézio berichtet von vielen Dingen: Der Vater, ein Autoverkäufer, geht nach üppigen Jahren pleite, eine politische Krise erzwingt die Rückkehr nach Europa. Die Familie zerfällt, erst bleiben die drei Frauen in Paris zusammen, dann ist Rachel auf sich allein gestellt. Während Madame Badou einen reichen Zweitmann und Bibi in Beruf und Familie findet, verwahrlost sie und landet auf der Straße. Erst am Ende erlaubt eine Rückkehr nach Takoradi der nunmehr 33 Jahre alten Rachel einen Neuanfang.
Man könnte behaupten, dass die Irrungen der Novelle jenen Rachels entsprechen. Tatsächlich wird das Mädchen in dem Moment aus der Bahn geworfen, als es an der Schlafzimmertür lauscht und aus dem Mund der giftenden Stiefmutter erfährt, wer es ist: "Rachel Namenlos", "die Tochter einer Nutte", "gezeugt bei einer Zufallsbegegnung in einem Keller", "ein Straßenkind". So schrecklich das Zerbrechen einer Kindheit ist, so widerstandslos gefällt sich die Folge im Elend - auch eine Zersetzung will komponiert sein. Le Clézio jedoch weigert sich, Akzente zu setzen: Stattdessen mischt er ein Potpourri des Schreckens, in dem Pubertät, Frauenhass und Entwurzelung monoton ineinanderlaufen.
Zirka zwanzig Jahre Irrungen werden angerissen, aber weder Stufen noch Dynamik zeichnen sich ab. Selbst die Auflösung - eine Begegnung mit der leiblichen Mutter, die Rückkehr an den Geburtsort - kann nur ansatzweise überzeugen. Symptomatisch: Das Meer bleibt in "Eine Frau ohne Identität" Kulisse und schwappt einem lau um die Füße. Da riskiert man lieber die frische Brandung der ersten Novelle.
NIKLAS BENDER
J.-M. G. Le Clézio: "Sturm". Zwei Novellen.
Aus dem Französischen von Uli Wittmann. Kiepenheuer & Witsch, Köln 2017. 240 S., geb., 20,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
»Er [J.M.G. Le Clézio] ist ein Meister der Sprache, der ruhige Fluss der Worte trägt den Leser fort auf die koreanische Insel Udo, nach Afrika und wieder nach Frankreich.« Gerhild Heyder Die Tagespost 20171009