Der eigentliche Tabubruch
Schade, dass die heutigen Medien kaum noch Geheimnisse zulassen! Sonst wäre dieser Roman mit dem rätselhaften Titel richtig spannend. Obwohl (oder weil?) man also vorinformiert ist und weiß, hier handelt es sich um eine Inzestgeschichte, bleibt genügend Spannung übrig,
um das Buch mit einiger Neugier und durchaus auch mit einigem Vergnügen zu lesen. Wie bei Ödipus sind…mehrDer eigentliche Tabubruch
Schade, dass die heutigen Medien kaum noch Geheimnisse zulassen! Sonst wäre dieser Roman mit dem rätselhaften Titel richtig spannend. Obwohl (oder weil?) man also vorinformiert ist und weiß, hier handelt es sich um eine Inzestgeschichte, bleibt genügend Spannung übrig, um das Buch mit einiger Neugier und durchaus auch mit einigem Vergnügen zu lesen. Wie bei Ödipus sind der Ich-Erzähler Erik und seine ältere Freundin Ines zunächst völlig ahnungslos, was sie beide neben ihrer Romanze noch verbindet. Antje Rávic Strubel erzählt diese Geschichte in einer unprätentiösen, klaren Sprache mit Hilfe eines mosaikartigen Geflechts von vielerlei Rückblenden, deren Zuordnung innerhalb des Plots aber immer sehr schnell klar ist, weil dabei dankenswerter Weise auf jedwede stilistische Mäzchen verzichtet wird. Im Gegenteil, bei etlichen der in rascher Folge wechselnden Abschnitte wird die Erzählperspektive durch die als Überschrift und auch als Satzanfang vorangestellten Namen der Protagonisten jeweils direkt benannt, eine nette Idee der Autorin!
Mit der spannungsreichen Konstruktion der Handlung geht eine seltsame Kühle aller Charaktere einher, die der beiden Hauptakteure ist dabei besonders auffällig, sie wirken seltsam emotionslos, vor allem als Liebespaar. Obwohl doch gerade Ines mit ihrer schicksalhaften Vergangenheit, aber auch der unentschlossen am vorerst verkorksten Anfang seines Lebens stehende Erik durchaus sympathische Figuren sein könnten. Hat da der kühle Norden abgefärbt, in dem die Handlung angesiedelt ist, die sturmumtoste schwedische Vogelinsel in der Ostsee westlich der Insel Gotland? Geradezu paradox dagegen, dass ausgerechnet die beiden erklärten Fieslinge als Gegenspieler, für mein Empfinden jedenfalls, immer gewinnender werden, je mehr man von ihnen erfährt. Die DDR übrigens, in der diese Geschichte ihren Anfang nahm, spielt nicht wirklich eine Rolle in diesem Roman, dieser Teil der Handlung hätte sich genau so glaubwürdig und schlüssig auch in Westdeutschland abspielen können.
Leser, denen Natur im Allgemeinen und Ornithologie im Besonderen am Herzen liegt, werden mit einer liebevoll erzählten Fülle von Beobachtungen in Flora, Fauna und Geologie der Insel verwöhnt. Dazu gehört auch der Flint oder Feuerstein und das Phänomen der Klappersteine mit dem fossilen Kieselschwamm Plinthosella squamosa, die im Wechsel mit ‚Das Meer’ gleich mehreren Kapiteln als Überschrift vorangestellt sind, eine recht eigenwillige Konstruktion in der zweiten Hälfte des Buches. Dort wird dann auch der ahnungslos praktizierte Inzest offenbar und man erfährt nach und nach, wie es überhaupt dazu kommen konnte. Mir erschien die Handlung übrigens nicht unglaubwürdig und konstruiert, wie verschiedentlich bemängelt wurde. Schon die alten Griechen sind ja auf diese faszinierende Idee gekommen, und unwahrscheinlich heißt nicht unmöglich, passieren könnte so etwas tatsächlich.
Weniger wahrscheinlich allerdings ist, wie die beiden Protagonisten mit der Aufdeckung ihrer Amour fou umgehen, sie lassen sich nicht stören, bleiben einfach ein Paar, und genau das ist der eigentliche Tabubruch in diesem Roman. Erik und Ines gehen einer ungewissen Zukunft entgegen, die sich auszudenken die Autorin Gott sei Dank dem Leser überlässt am Ende dieser ungewöhnlichen Geschichte.