»Subversive Aktion« nannte sich eine Gruppe, die zwischen 1963 und 1966 neue Formen der Unruhestiftung und Wunscherfüllung erprobte - mit stimulierender Wirkung auf die folgende Studentenrevolte.Die Münchner Sektion um Dieter Kunzelmann und Frank Böckelmann war von Psychoanalyse, Situationismus und Kritischer Theorie beeinflusst und bastelte an einer Revolutionierung des Alltagslebens. Dagegen erhielt die soziologisch orientierte Berliner Sektion (Rodolphe Gasché und Herbert Nagel) nach dem Zutritt von Rudi Dutschke und Bernd Rabehl (gerade aus der DDR abgehauen) eine entschieden marxistische Ausrichtung. Die interne Auseinandersetzung nahm - auf noch erfrischende Weise - viele Debatten späterer Jahre vorweg. Die vorliegende Dokumentation der Pamphlete und Analysen der »Subversiven Aktion« ist ein verblüffendes Panoptikum von Urszenen und vergessenen Gegenentwürfen zur »permissiven« Leistungsgesellschaft.
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Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 31.08.2002Die tollkühnen Männer mit ihrer fliegenden Kiste
Der Sinn der Organisation ist ihr Scheitern: Die „Subversive Aktion” von Frank Böckelmann und Herbert Nagel neu aufgelegt / Von Ulrich Enzensberger
Ein Buch für Kenner ist wieder da, ein Desiderat, lang vergriffen, vermehrt und ergänzt herausgegeben und kommentiert von Frank Böckelmann und Herbert Nagel: „Subversive Aktion. Der Sinn der Organisation ist ihr Scheitern”. Inmitten des Wälzers das Schmankerl für den Politophilen, die sittengeschichtliche Einlage, der Blick durchs Guckloch, acht Fotos, der Keller von Dieter Kunzelmann, Schwabing 1964, 1996 im Archiv eines „Quick”- Fotografen wiederentdeckt. Ist das nicht ein Castro-Kopf aus Papiermaché, der da vom Tonnengewölbe baumelt? Und dort auf dem Kanonenofen, ist das ein Zauberhut oder eine Flüstertüte? Abflußrohre. Das Matratzenlager. Marion Steffel-Stergar. Birgit Daiber. Ist das etwa ein Asger Jorn? Das jedenfalls ist der Ausguß, da wurde reingepinkelt. Und neben den Roth-Händle, da liegen sie, die „Unverbindlichen Richtlinien”. Und da ist Frank Böckelmann, der Herausgeber der literarischen Studentenzeitschrift texturen, dem Kunzelmann 14 Tage vor dem Attentat auf Kennedy „aus dem Bewußtsein heraus, alle verstreuten Kräfte in einer neuen revolutionären Bewegung formieren zu wollen”, mitteilte, nun seien „der Worte genug gewechselt”.
Es gibt noch keinen Sozialismus
Im Advent 1963 der dumpfe Weckruf: „AUCH DU HAST KENNEDY ERSCHOSSEN!” Danach die Proklamation des „HOMO SUBVERSIVUS”, „dem es nicht genügt, innerhalb der Kohorte den Möglichkeiten des Menschlichen hic et nunc Raum zu schaffen”. Im April das erste „Konzil”. Ergebnis eine „Suchanzeige”: „WENN AUCH IHNEN DAS MISSVERHÄLTNIS VON ANALYSE UND AKTION UNERTRÄGLICH IST, SCHREIBEN SIE UNTER KENNWORT ,ANTITHESE‘ an 8 München 23, postlagernd. Verantwortlich: Th. W. Adorno”. Seine Strafanzeige wird Teil der Aktion.
Endlich ein Schlag ins Kontor exemplarischer Organisatoren des herrschenden Verblendungszusammenhangs: Jahrestagung des Bundes deutscher Werbeleiter und Werbeberater in der Stuttgarter Liederhalle, Ansprache des OB. Auf der Empore erschallen plötzlich die Matthäus-Passion und der Rülps- Schlager „Surfing Bird”, es regnet Zettel: „AUFRUF AN DIE SEELENMASSEURE”: „IHR habt die Lüge / consumo, ergo sum/ zur Wahrheit inthronisiert! Deshalb seid IHR DIE PREDIGER DER UNTERDRÜCKUNG”. Krawall, Verhör. Bundespräsidentenwahl: „Wer gegen die gütige Null Lübke ist, ficht gegen Windmühlenflügel; durch ihn soll Kritik aufgefangen werden, damit nicht das falsche Ganze negiert werden muß.” Katholikentag September 1964: „Botschaft an die Lämmer des Herrn”. 32 Stunden Polizeihaft in „dem sehr komfortablen Stammheim”. Vorwurf der Geheimbündelei.
Inzwischen hatten sich den tollkühnen Männern in der fliegenden Kiste der Kritischen Theorie zwei Abhauer aus der DDR mit schweren Leninbänden in den Taschen an die Beine gehängt. Rudi Dutschke und Bernd Rabehl sorgten sich nicht allzu sehr um die tödlichen Gefahren einer wohldosierten Narrenfreiheit, eines einschläfernden Soseins, einer subtil-verinnerlichten Konditionierung. Sie hatten ihre Grundbegriffe nicht in der Frankfurter Schule, sondern auf den Paukböden des Marxismus-Leninismus erworben: „Es gibt noch keinen Sozialismus auf der Erde ...” (Dutschke, August 1964). Sie träumten von der „Diktatur des Proletariats”. Für den Augenblick freilich galt: „Die Konstituierung der lohnabhängigen Arbeiterschaft aus der ,Klasse an sich‘ in die ,Klasse für sich‘ ist unmöglich.” Also hofften auch sie auf „rassische und nationale Minderheiten, dauernd Arbeitslose und Arme, Minoritäten innerhalb und Majoritäten außerhalb der Gesellschaft im Überfluß” (Herbert Marcuse).
Dutschke fand das Zauberwort „Dritte Welt”. Es beschrieb ein Proletariat hinter den sieben Bergen. Als Tschombé, der Mörder Lumumbas, Westberlin besuchte, funktionierte die Berliner Mikrozelle die angemeldete SDS- Schweigekundgebung um. Die Avantgarde sprintete von Tempelhof bis Schöneberg und warf Tomaten. 1968 Dutschke über die Aktion: „In der Post-festum- Betrachtung können wir sie als Beginn unserer Kulturrevolution ansetzen .. .” Post festum kann man nur staunen, wie Rabehl die deutsche Frage im Gebäude der Leninschen Imperialismustheorie bunkerte.
Der Plan, in der Gruppe „alle privaten Bereiche und exklusiven Besitzverhältnisse aufzusprengen und solidarisch-zärtliche Beziehungen vorwegzunehmen”, wurde vertagt. Man trat in den SDS ein, um ihn zu instrumentalisieren. Kontaktaufnahmen, Grundsatzdiskussionen, Taktieren mit zeitweilig Verbündeten – die subtileren Denker beschlich das „makabre Gefühl”, gar nicht mehr zu wissen, wozu man agierte. Als Kunzelmann im April 1965 zum vierten „Konzil” auch noch einen Fachmann für Gewerkschaftsfragen einlud, platzte der Mehrheit der Kragen. Es kam zu einem Akt des Vatermords. Dutschke solidarisierte sich mit dem Ausgeschlossenen. Rabehl entführte die Druckmaschine. Die Subversive Aktion zerfiel.
Um die drei Ausgestoßenen sammelten sich in Westberlin die ersten Rädelsführer der APO. Kunzelmann kehrte zur Idee der „Kohorte” zurück, von der es in den „Unverbindlichen Richtlinien 1” hieß: „Von der zärtlichen Liebe nimmt die Kohorte ihren Ausgang, in ihr vollendet sie sich.” Im November 1966 schrieb er seine „Notizen zur Gründung revolutionärer Kommunen in den Metropolen”. Die „Kommune I” war kein US-Import, was Gretchen Dutschke (wie erst kürzlich wieder in „Die 68gerinnen”) auch immer behaupten mag.
Frauen für die Dreckarbeit
Und Marion Steffel-Stergar? „Geboren in Wien. Dekorateurin. Lebensgefährtin Dieter Kunzelmanns (ein Kind). Mitglied der Berliner K2. Lebt in Hamburg.” Birgit Daiber: „Ich quälte mich mit dem Duden in der einen, dem Marx in der anderen Hand durch die Kritik der Kritik ... ich schwärmte für die großen Alleswisser ... ich kämpfte um Anerkennung, konkurrieren konnte ich nicht. Dafür hockte ich mich willig hinter die Schreibmaschine und tippte nächtelang den Kram der Männer, dafür machte ich Dreckarbeit für sie. Ich versuchte, so gut wie möglich zu funktionieren.” Sabine Goede: „Jeder kontrollierte jeden mit Argusaugen, ob er offen genug war und radikal und rückhaltslos der Gruppe sich auslieferte, um mit ihr die Denk- und Verhaltensweisen des ,homo subversivus‘ zu internalisieren ...”
Der bemerkenswerte Mut, mit dem die Herausgeber sich hier hinter die plakative historische Kulisse wagen, zeitigt ein paradoxes Resultat: Ein erschreckendes Defizit ihrer Darstellung wird deutlich, eine Kluft tut sich auf, freilich auch ein Blick in die Abgründe dieser merkwürdigen Gruppierung, die wohl zum Sonderbarsten gehörte, was die deutsche Gesellschaft in den 60ger Jahren des 20.Jahrhunderts hervorgebracht hat. Der Wiederabdruck von „Anschlag 3” kann diese Kluft nicht schließen. Man blättert vor, man blättert zurück . .. und staunt dann doch wieder über Frank Böckelmanns Abschied von der Literatur („Frühes Fazit”), über den Witz einer am 2. April 1964 in Fürth ausgearbeiteten „Liste von Einfällen für eine Aktion auf der Kasseler Documenta”, über Lebensläufe wie den von Volker Böckelmann oder von Rudolf May, genannt Baldeney.
FRANK BÖCKELMANN / HERBERT NAGEL (Hrsg.): Subversive Aktion. Der Sinn der Organisation ist ihr Scheitern. Verlag Neue Kritik, Frankfurt am Main 2002. 510 Seiten, 35 Euro.
Der Verfasser arbeitet an einer Geschichte der Berliner Kommune I, die bei Kiepenheuer & Witsch erscheinen wird.
Am 15. September 1964 besuchte Ernst Grasser mit seiner Kamera den berüchtigten Kunzelmann-Keller. Von links nach rechts: Dieter Kunzelmann, Frank Böckelmann, Marion Steffel-Stergar.
Foto: Verlag Neue
Kritik
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Der Sinn der Organisation ist ihr Scheitern: Die „Subversive Aktion” von Frank Böckelmann und Herbert Nagel neu aufgelegt / Von Ulrich Enzensberger
Ein Buch für Kenner ist wieder da, ein Desiderat, lang vergriffen, vermehrt und ergänzt herausgegeben und kommentiert von Frank Böckelmann und Herbert Nagel: „Subversive Aktion. Der Sinn der Organisation ist ihr Scheitern”. Inmitten des Wälzers das Schmankerl für den Politophilen, die sittengeschichtliche Einlage, der Blick durchs Guckloch, acht Fotos, der Keller von Dieter Kunzelmann, Schwabing 1964, 1996 im Archiv eines „Quick”- Fotografen wiederentdeckt. Ist das nicht ein Castro-Kopf aus Papiermaché, der da vom Tonnengewölbe baumelt? Und dort auf dem Kanonenofen, ist das ein Zauberhut oder eine Flüstertüte? Abflußrohre. Das Matratzenlager. Marion Steffel-Stergar. Birgit Daiber. Ist das etwa ein Asger Jorn? Das jedenfalls ist der Ausguß, da wurde reingepinkelt. Und neben den Roth-Händle, da liegen sie, die „Unverbindlichen Richtlinien”. Und da ist Frank Böckelmann, der Herausgeber der literarischen Studentenzeitschrift texturen, dem Kunzelmann 14 Tage vor dem Attentat auf Kennedy „aus dem Bewußtsein heraus, alle verstreuten Kräfte in einer neuen revolutionären Bewegung formieren zu wollen”, mitteilte, nun seien „der Worte genug gewechselt”.
Es gibt noch keinen Sozialismus
Im Advent 1963 der dumpfe Weckruf: „AUCH DU HAST KENNEDY ERSCHOSSEN!” Danach die Proklamation des „HOMO SUBVERSIVUS”, „dem es nicht genügt, innerhalb der Kohorte den Möglichkeiten des Menschlichen hic et nunc Raum zu schaffen”. Im April das erste „Konzil”. Ergebnis eine „Suchanzeige”: „WENN AUCH IHNEN DAS MISSVERHÄLTNIS VON ANALYSE UND AKTION UNERTRÄGLICH IST, SCHREIBEN SIE UNTER KENNWORT ,ANTITHESE‘ an 8 München 23, postlagernd. Verantwortlich: Th. W. Adorno”. Seine Strafanzeige wird Teil der Aktion.
Endlich ein Schlag ins Kontor exemplarischer Organisatoren des herrschenden Verblendungszusammenhangs: Jahrestagung des Bundes deutscher Werbeleiter und Werbeberater in der Stuttgarter Liederhalle, Ansprache des OB. Auf der Empore erschallen plötzlich die Matthäus-Passion und der Rülps- Schlager „Surfing Bird”, es regnet Zettel: „AUFRUF AN DIE SEELENMASSEURE”: „IHR habt die Lüge / consumo, ergo sum/ zur Wahrheit inthronisiert! Deshalb seid IHR DIE PREDIGER DER UNTERDRÜCKUNG”. Krawall, Verhör. Bundespräsidentenwahl: „Wer gegen die gütige Null Lübke ist, ficht gegen Windmühlenflügel; durch ihn soll Kritik aufgefangen werden, damit nicht das falsche Ganze negiert werden muß.” Katholikentag September 1964: „Botschaft an die Lämmer des Herrn”. 32 Stunden Polizeihaft in „dem sehr komfortablen Stammheim”. Vorwurf der Geheimbündelei.
Inzwischen hatten sich den tollkühnen Männern in der fliegenden Kiste der Kritischen Theorie zwei Abhauer aus der DDR mit schweren Leninbänden in den Taschen an die Beine gehängt. Rudi Dutschke und Bernd Rabehl sorgten sich nicht allzu sehr um die tödlichen Gefahren einer wohldosierten Narrenfreiheit, eines einschläfernden Soseins, einer subtil-verinnerlichten Konditionierung. Sie hatten ihre Grundbegriffe nicht in der Frankfurter Schule, sondern auf den Paukböden des Marxismus-Leninismus erworben: „Es gibt noch keinen Sozialismus auf der Erde ...” (Dutschke, August 1964). Sie träumten von der „Diktatur des Proletariats”. Für den Augenblick freilich galt: „Die Konstituierung der lohnabhängigen Arbeiterschaft aus der ,Klasse an sich‘ in die ,Klasse für sich‘ ist unmöglich.” Also hofften auch sie auf „rassische und nationale Minderheiten, dauernd Arbeitslose und Arme, Minoritäten innerhalb und Majoritäten außerhalb der Gesellschaft im Überfluß” (Herbert Marcuse).
Dutschke fand das Zauberwort „Dritte Welt”. Es beschrieb ein Proletariat hinter den sieben Bergen. Als Tschombé, der Mörder Lumumbas, Westberlin besuchte, funktionierte die Berliner Mikrozelle die angemeldete SDS- Schweigekundgebung um. Die Avantgarde sprintete von Tempelhof bis Schöneberg und warf Tomaten. 1968 Dutschke über die Aktion: „In der Post-festum- Betrachtung können wir sie als Beginn unserer Kulturrevolution ansetzen .. .” Post festum kann man nur staunen, wie Rabehl die deutsche Frage im Gebäude der Leninschen Imperialismustheorie bunkerte.
Der Plan, in der Gruppe „alle privaten Bereiche und exklusiven Besitzverhältnisse aufzusprengen und solidarisch-zärtliche Beziehungen vorwegzunehmen”, wurde vertagt. Man trat in den SDS ein, um ihn zu instrumentalisieren. Kontaktaufnahmen, Grundsatzdiskussionen, Taktieren mit zeitweilig Verbündeten – die subtileren Denker beschlich das „makabre Gefühl”, gar nicht mehr zu wissen, wozu man agierte. Als Kunzelmann im April 1965 zum vierten „Konzil” auch noch einen Fachmann für Gewerkschaftsfragen einlud, platzte der Mehrheit der Kragen. Es kam zu einem Akt des Vatermords. Dutschke solidarisierte sich mit dem Ausgeschlossenen. Rabehl entführte die Druckmaschine. Die Subversive Aktion zerfiel.
Um die drei Ausgestoßenen sammelten sich in Westberlin die ersten Rädelsführer der APO. Kunzelmann kehrte zur Idee der „Kohorte” zurück, von der es in den „Unverbindlichen Richtlinien 1” hieß: „Von der zärtlichen Liebe nimmt die Kohorte ihren Ausgang, in ihr vollendet sie sich.” Im November 1966 schrieb er seine „Notizen zur Gründung revolutionärer Kommunen in den Metropolen”. Die „Kommune I” war kein US-Import, was Gretchen Dutschke (wie erst kürzlich wieder in „Die 68gerinnen”) auch immer behaupten mag.
Frauen für die Dreckarbeit
Und Marion Steffel-Stergar? „Geboren in Wien. Dekorateurin. Lebensgefährtin Dieter Kunzelmanns (ein Kind). Mitglied der Berliner K2. Lebt in Hamburg.” Birgit Daiber: „Ich quälte mich mit dem Duden in der einen, dem Marx in der anderen Hand durch die Kritik der Kritik ... ich schwärmte für die großen Alleswisser ... ich kämpfte um Anerkennung, konkurrieren konnte ich nicht. Dafür hockte ich mich willig hinter die Schreibmaschine und tippte nächtelang den Kram der Männer, dafür machte ich Dreckarbeit für sie. Ich versuchte, so gut wie möglich zu funktionieren.” Sabine Goede: „Jeder kontrollierte jeden mit Argusaugen, ob er offen genug war und radikal und rückhaltslos der Gruppe sich auslieferte, um mit ihr die Denk- und Verhaltensweisen des ,homo subversivus‘ zu internalisieren ...”
Der bemerkenswerte Mut, mit dem die Herausgeber sich hier hinter die plakative historische Kulisse wagen, zeitigt ein paradoxes Resultat: Ein erschreckendes Defizit ihrer Darstellung wird deutlich, eine Kluft tut sich auf, freilich auch ein Blick in die Abgründe dieser merkwürdigen Gruppierung, die wohl zum Sonderbarsten gehörte, was die deutsche Gesellschaft in den 60ger Jahren des 20.Jahrhunderts hervorgebracht hat. Der Wiederabdruck von „Anschlag 3” kann diese Kluft nicht schließen. Man blättert vor, man blättert zurück . .. und staunt dann doch wieder über Frank Böckelmanns Abschied von der Literatur („Frühes Fazit”), über den Witz einer am 2. April 1964 in Fürth ausgearbeiteten „Liste von Einfällen für eine Aktion auf der Kasseler Documenta”, über Lebensläufe wie den von Volker Böckelmann oder von Rudolf May, genannt Baldeney.
FRANK BÖCKELMANN / HERBERT NAGEL (Hrsg.): Subversive Aktion. Der Sinn der Organisation ist ihr Scheitern. Verlag Neue Kritik, Frankfurt am Main 2002. 510 Seiten, 35 Euro.
Der Verfasser arbeitet an einer Geschichte der Berliner Kommune I, die bei Kiepenheuer & Witsch erscheinen wird.
Am 15. September 1964 besuchte Ernst Grasser mit seiner Kamera den berüchtigten Kunzelmann-Keller. Von links nach rechts: Dieter Kunzelmann, Frank Böckelmann, Marion Steffel-Stergar.
Foto: Verlag Neue
Kritik
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Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
Mit ihren ebenso provokativen wie spaßigen, antikapitalistischen Aktionen waren der "subversiven Aktion" in den sechziger Jahren immer wieder heftige gesellschaftliche und staatliche Reaktionen sicher. Der jetzt neu aufgelegte Band der einstigen Mitglieder Frank Böckelmann und Herbert Nagel dokumentiert Aktionen und Reden der Politgruppe um Dieter Kunzelmann, der auch Rudi Dutschke eine Weile angehörte. "Ein Buch für Kenner ist wieder da", bejubelt Rezensent Ulrich Enzensberger die Neuauflage des Bandes. Der enthält nun auch einige Fotos, die ein Journalist von Quick 1964 in Kunzelmanns Schwabinger Keller gemacht und 1996 wieder entdeckt hat - ein "Schmankerl für den Politophilen", freut sich Enzensberger, um dann eine ganze Reihe von mehr oder weniger subversiven Aktionen nachzuerzählen. "Wenn auch Ihnen das Missverhältnis von Analyse und Aktion unerträglich ist, schreiben Sie unter Kennwort 'Antithese' an 8 München 23, Postlagernd. Verantwortlich: Th. W. Adorno", zitiert er beispielsweise eine "Suchanzeige" der Gruppe - Adornos Strafanzeige wurde Teil der Aktion. Kritisch weißt Enzensberger darauf hin, dass Frauen in der angeblich so fortschrittlichen Gruppe oft nur "für die Dreckarbeit" zuständig waren. Hier tue sich eine Kluft auf sowie ein Blick "in die Abgründe dieser merkwürdigen Gruppierung, die wohl zum Sonderbarsten gehörte, was die deutsche Gesellschaft in den sechziger Jahren des 20.Jahrhunderts hervorgebracht hat".
© Perlentaucher Medien GmbH
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