»In ihren Gedichten ist Martynova eine wilde Anarchistin.« Ulrich Rüdenauer, Badische Zeitung
Gedichte sind Flaschenpost, das wissen wir seit Mandelstam und Celan. Diese Post ist Gesang und Gebet, Protokoll und Analyse. Im Idealfall spricht sie aus, was sonst ungesagt und ausgegrenzt bleibt. Olga Martynova arbeitet als Lyrikerin im Bewusstsein des reichen Erbes, das die avantgardistische Kunst des 20. Jahrhunderts hinterlassen hat. Zugleich gibt sie ältere Traditionen nicht preis und bezieht sich etwa mit Dantes »Commedia« auf eine der Hauptquellen der europäischen Poesie, die aus der Trauer um eine gestorbene Frau entstand.
Olga Martynovas Gedichte lassen Raum für Trauer und Krieg, für Befragung und Wut, aber auch für das Alltägliche und die Bewunderung der Welt. Vom Ende der neunziger Jahre an hat sie ihre Prosa auf Deutsch, ihre Gedichte auf Russisch geschrieben. Seit dem Tod ihres Mannes, des Dichters Oleg Jurjew, schreibt sie nicht mehr in russischer Sprache.
Gedichte sind Flaschenpost, das wissen wir seit Mandelstam und Celan. Diese Post ist Gesang und Gebet, Protokoll und Analyse. Im Idealfall spricht sie aus, was sonst ungesagt und ausgegrenzt bleibt. Olga Martynova arbeitet als Lyrikerin im Bewusstsein des reichen Erbes, das die avantgardistische Kunst des 20. Jahrhunderts hinterlassen hat. Zugleich gibt sie ältere Traditionen nicht preis und bezieht sich etwa mit Dantes »Commedia« auf eine der Hauptquellen der europäischen Poesie, die aus der Trauer um eine gestorbene Frau entstand.
Olga Martynovas Gedichte lassen Raum für Trauer und Krieg, für Befragung und Wut, aber auch für das Alltägliche und die Bewunderung der Welt. Vom Ende der neunziger Jahre an hat sie ihre Prosa auf Deutsch, ihre Gedichte auf Russisch geschrieben. Seit dem Tod ihres Mannes, des Dichters Oleg Jurjew, schreibt sie nicht mehr in russischer Sprache.
Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Rezensent Christian Metz zeugt sich beeindruckt von Olga Martynovas neuem Gedichtband. In sieben Zyklen wendet sich die Autorin, so der Rezensent, dem Abwesenden, genauer: Martynovas 2018 gestorbenem Geliebten, dem Schriftsteller Oleg Jurjew, zu. Dabei fällt Metz vor allem die vielfältigen Bilder, die Martynova benutzt, auf: In verschiedenen Variationen werden zum Beispiel das titelgebende Bild des Windes und das der Elster verwendet. Zudem treten diese Gedichte laut dem Rezensenten immer wieder in Kontakt mit literarischen Vorgängern wie Hölderlin oder Elke Erb - auch das ein Versuch, mit dem Vergangenen umzugehen, bei dem Martynova Metz zufolge eine "Poetik der Prägnanz" anwendet, die den sprachlichen Kontakt mit dem dichterisch Aufgerufenen ermöglicht. Eine, lässt sich folgern, lesenswerte lyrische Neuerscheinung.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 03.07.2024Zwei Mondflecken ohne Ahnung vom Tod
Verse an das, was fehlt, aber doch präsent bleibt, legt Olga Martynova in ihrem neuen Lyrikband "Such nach dem Namen des Windes" vor. Schmerzliche, hoffende, mit der Trauer ringende und doch auch heitere Zwiegespräche mit Toten inszeniert sie. Ihre Gedichte sind Kontaktfiguren mit dem verstorbenen Geliebten, nachdem sie mit dem Verlust einen eigenen Tod gestorben ist: "Nun, d.h. nach deinem Tod, / mache ich alles mit, was man so tut / bin nur im fünften Jahr tot / und trage den Brutkasten auf dem Kopf, / in dem ein Todesküken piepst. / Lächelst du mit ob der Komik des Ganzen . . .?" Nicht erst das gemeinsame Lächeln würde für ein Einverständnis sorgen. Schon der versgewordene, behutsam als Frage formulierte Gedanke reicht aus, um Geister-, Geistes- und Gefühlswelt zu verschränken.
"O.J." ist dieser Band gewidmet. 2018 ist Olga Martynovas Mann, der Schriftsteller Oleg Jurjew, verstorben, und man kommt nicht umhin, in den eindringlichen Zwiegesprächen auch diese Beziehung mitzulesen. Olga Martynova schafft über die sieben Zyklen ihres Bandes hinweg zahlreiche Variationen dieser Dies- und Jenseits verbindenden Kontaktfigur, indem sie auf immer neues Bildmaterial zurückgreift. Für diejenigen, welche die berühmte ball- und schlägerlose Tennisszene aus Michelangelo Antonionis Filmklassiker "Blow up" nie aus der Erinnerung verloren haben - hier erfährt sie als Traumvision eine Neuauflage: "Ich sah mich Tennis spielen, / der Gegner unsichtbar / nur die Art seiner Schläge verriet / die Bewegung hinter dem Netz, / das ebenso nicht sichtbar war."
Poetische Totengespräche führt man, wenn einem neben dem Equipment auch das Gegenüber verloren geht. Wer keine Tennisträume hat, begleite den titelgebenden Wind ins Jenseits. Wer für diesen keinen passenden Namen findet, folge der in diesem Band so auffällig inszenierten Elster. Schwarz-weiß gefiedert, als verkörperte sie als Sinnbild die schwarz auf weiß gedruckte Schrift, fliegt sie zu Beginn des zweiten Zyklus in den Fokus der Aufmerksamkeit ein: "Die Elster, die jeden Mittag / vor mir in der Luft steht / und nicht weiß, / was sie mir zu sagen hätte." Mit den Zügen eines komischen Vogels ("Die Elster trägt heute einen Ziegenbart") vermag sie sowohl im derben Register ("nehmt eure hohe Antike / und steckt sie euch in den Arsch") wie auch in seliger Hölderlintrunkenheit zu kommunizieren: "Trunken von Nüchternheit sind die Menschen geworden / können weder klar denken noch wirklich fühlen."
Für Martynova gilt das Prinzip der Kontaktaufnahme auch im Umgang mit den dichterischen Vorgängerinnen. Neben Elke Erb, Pasolini und Tolstoi ist in diesem Band vor allem von Hölderlin zu lesen. Bereits der erste Vers des Bandes setzt mit einem Pastiche (oder ist das schon Parodie?) zu "Hälfte des Lebens" ein: "Weh mir, wo nehm ich / die Suppe". Kurz darauf findet man sich vor Hölderlins Wohnort in Bordeaux wieder, um die eigene Gefühlslage zu analysieren: "Ich spüre nichts. / Ich höre zu. / Nichts. / Hölderlin ist tot." Für einen Augenblick reißt der Kontakt ab, um in den Buchstabenfolgen des Geschriebenen doch zu Leben erweckt zu werden.
Wie ließe sich diese Verbindung zum Verstorbenen auf Dauer bewahren? Zwei Möglichkeiten entfalten Martynovas Gedichte dieses Bandes: Zum einen erarbeiten die Verse eine Poetik der Prägnanz. Sie arbeiten mit zahlreichen kompositorischen Überlagerungen. Schicht für Schicht nähern sie sich dem Fremden an: "Außer den fahlen, falb leuchtenden Buchstaben / ist niemand da, nur noch Fetzchen dahintauender Luft / in deinen Platanen, nur das letzte Eis / in diesem Flussdelta, / das Licht lichtet sich - / irgendwie in beiden Sinnen des Wortes." Da falb eigentlich "fahl gelb" heißt, überlagern sich - über den alliterativen Klang hinaus - das "Fahle und das Falbe". Weil zudem das Bild des Tauens schon Vergänglichkeit einschließt, sorgt auch die Vorsilbe "dahin" für eine Verdoppelung.
Sprachliche Präzision führt zur Prägnanz, zur Anreicherung und Schichtung von Ähnlichem, die gleich darauf in der (an Sklovskijs "Steine steinen") erinnernden Vorstellung weitergeführt wird: "das Licht lichtet sich - / irgendwie in beiden Sinnen des Wortes." Auf diese Weise erzeugt Martynova aus den "leuchtenden Buchstaben", was Baumgarten einst als "anschauliche Dichte" und "prägnanten Vergegenwärtigung" zum poetisch Schönen erklärt hatte. Sie wird zur Bedingung und Möglichkeit sprachlichen Kontakts. Das ist die eine Möglichkeit. Die zweite besteht Olga Martynovas Versen nach in einer sorgsam gehüteten Ahnungslosigkeit. Etwa dort, "wo wir auf dem feuchten, quadratischen Mond / zwei Mondflecken sind, / ohne Ahnung vom Tod zwischen uns". Oder auch gegenüber einem einzelnen Halm, der seine Spitze aus dem Irdischen hebt: "Angenommen, er hat keine Ahnung vom eigenen Sterben, / aber merkt er, wenn ein anderer Halm / vertrocknet? Wenn nicht, würde ihm meine ganze Würde / für dieses Unwissen geben?"
Unwissend bleiben, um Raum zu Begegnung zu geben, so tastet sich Martynovas eindrückliche Lyrik über den Rand des Lebendigen hinaus. CHRISTIAN METZ
Olga Martynova:
"Such nach dem Namen des Windes". Gedichte.
Verlag S. Fischer,
Frankfurt am Main 2024.
128 S., geb., 25,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © Frankfurter Allgemeine Zeitung GmbH, Frankfurt am Main.
Verse an das, was fehlt, aber doch präsent bleibt, legt Olga Martynova in ihrem neuen Lyrikband "Such nach dem Namen des Windes" vor. Schmerzliche, hoffende, mit der Trauer ringende und doch auch heitere Zwiegespräche mit Toten inszeniert sie. Ihre Gedichte sind Kontaktfiguren mit dem verstorbenen Geliebten, nachdem sie mit dem Verlust einen eigenen Tod gestorben ist: "Nun, d.h. nach deinem Tod, / mache ich alles mit, was man so tut / bin nur im fünften Jahr tot / und trage den Brutkasten auf dem Kopf, / in dem ein Todesküken piepst. / Lächelst du mit ob der Komik des Ganzen . . .?" Nicht erst das gemeinsame Lächeln würde für ein Einverständnis sorgen. Schon der versgewordene, behutsam als Frage formulierte Gedanke reicht aus, um Geister-, Geistes- und Gefühlswelt zu verschränken.
"O.J." ist dieser Band gewidmet. 2018 ist Olga Martynovas Mann, der Schriftsteller Oleg Jurjew, verstorben, und man kommt nicht umhin, in den eindringlichen Zwiegesprächen auch diese Beziehung mitzulesen. Olga Martynova schafft über die sieben Zyklen ihres Bandes hinweg zahlreiche Variationen dieser Dies- und Jenseits verbindenden Kontaktfigur, indem sie auf immer neues Bildmaterial zurückgreift. Für diejenigen, welche die berühmte ball- und schlägerlose Tennisszene aus Michelangelo Antonionis Filmklassiker "Blow up" nie aus der Erinnerung verloren haben - hier erfährt sie als Traumvision eine Neuauflage: "Ich sah mich Tennis spielen, / der Gegner unsichtbar / nur die Art seiner Schläge verriet / die Bewegung hinter dem Netz, / das ebenso nicht sichtbar war."
Poetische Totengespräche führt man, wenn einem neben dem Equipment auch das Gegenüber verloren geht. Wer keine Tennisträume hat, begleite den titelgebenden Wind ins Jenseits. Wer für diesen keinen passenden Namen findet, folge der in diesem Band so auffällig inszenierten Elster. Schwarz-weiß gefiedert, als verkörperte sie als Sinnbild die schwarz auf weiß gedruckte Schrift, fliegt sie zu Beginn des zweiten Zyklus in den Fokus der Aufmerksamkeit ein: "Die Elster, die jeden Mittag / vor mir in der Luft steht / und nicht weiß, / was sie mir zu sagen hätte." Mit den Zügen eines komischen Vogels ("Die Elster trägt heute einen Ziegenbart") vermag sie sowohl im derben Register ("nehmt eure hohe Antike / und steckt sie euch in den Arsch") wie auch in seliger Hölderlintrunkenheit zu kommunizieren: "Trunken von Nüchternheit sind die Menschen geworden / können weder klar denken noch wirklich fühlen."
Für Martynova gilt das Prinzip der Kontaktaufnahme auch im Umgang mit den dichterischen Vorgängerinnen. Neben Elke Erb, Pasolini und Tolstoi ist in diesem Band vor allem von Hölderlin zu lesen. Bereits der erste Vers des Bandes setzt mit einem Pastiche (oder ist das schon Parodie?) zu "Hälfte des Lebens" ein: "Weh mir, wo nehm ich / die Suppe". Kurz darauf findet man sich vor Hölderlins Wohnort in Bordeaux wieder, um die eigene Gefühlslage zu analysieren: "Ich spüre nichts. / Ich höre zu. / Nichts. / Hölderlin ist tot." Für einen Augenblick reißt der Kontakt ab, um in den Buchstabenfolgen des Geschriebenen doch zu Leben erweckt zu werden.
Wie ließe sich diese Verbindung zum Verstorbenen auf Dauer bewahren? Zwei Möglichkeiten entfalten Martynovas Gedichte dieses Bandes: Zum einen erarbeiten die Verse eine Poetik der Prägnanz. Sie arbeiten mit zahlreichen kompositorischen Überlagerungen. Schicht für Schicht nähern sie sich dem Fremden an: "Außer den fahlen, falb leuchtenden Buchstaben / ist niemand da, nur noch Fetzchen dahintauender Luft / in deinen Platanen, nur das letzte Eis / in diesem Flussdelta, / das Licht lichtet sich - / irgendwie in beiden Sinnen des Wortes." Da falb eigentlich "fahl gelb" heißt, überlagern sich - über den alliterativen Klang hinaus - das "Fahle und das Falbe". Weil zudem das Bild des Tauens schon Vergänglichkeit einschließt, sorgt auch die Vorsilbe "dahin" für eine Verdoppelung.
Sprachliche Präzision führt zur Prägnanz, zur Anreicherung und Schichtung von Ähnlichem, die gleich darauf in der (an Sklovskijs "Steine steinen") erinnernden Vorstellung weitergeführt wird: "das Licht lichtet sich - / irgendwie in beiden Sinnen des Wortes." Auf diese Weise erzeugt Martynova aus den "leuchtenden Buchstaben", was Baumgarten einst als "anschauliche Dichte" und "prägnanten Vergegenwärtigung" zum poetisch Schönen erklärt hatte. Sie wird zur Bedingung und Möglichkeit sprachlichen Kontakts. Das ist die eine Möglichkeit. Die zweite besteht Olga Martynovas Versen nach in einer sorgsam gehüteten Ahnungslosigkeit. Etwa dort, "wo wir auf dem feuchten, quadratischen Mond / zwei Mondflecken sind, / ohne Ahnung vom Tod zwischen uns". Oder auch gegenüber einem einzelnen Halm, der seine Spitze aus dem Irdischen hebt: "Angenommen, er hat keine Ahnung vom eigenen Sterben, / aber merkt er, wenn ein anderer Halm / vertrocknet? Wenn nicht, würde ihm meine ganze Würde / für dieses Unwissen geben?"
Unwissend bleiben, um Raum zu Begegnung zu geben, so tastet sich Martynovas eindrückliche Lyrik über den Rand des Lebendigen hinaus. CHRISTIAN METZ
Olga Martynova:
"Such nach dem Namen des Windes". Gedichte.
Verlag S. Fischer,
Frankfurt am Main 2024.
128 S., geb., 25,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © Frankfurter Allgemeine Zeitung GmbH, Frankfurt am Main.
Olga Martynova ist eine überaus belesene Literatin [...] Die Erweiterung des eigenen Bewusstseins ist selten so günstig und gesund zu haben. Moritz Holler Westdeutscher Rundfunk, WDR 5 (Bücher) 20240713