Die präzise und unvoreingenommene Untersuchung der Lebenswelt war und ist einer der zentralen Bereiche der Philosophie. Manfred Sommer unternimmt in seinen Arbeiten eine immer wieder überraschende und höchst originelle Deutung dessen, was unseren Alltag ausmacht. Suchen und Finden sind entscheidende Formen unserer Orientierung und unserer Selbstvergewisserung, die eine Vielfalt spannender philosophischer Aspekte eröffnen.
Wir suchen zum einen nach Dingen und nach Zeichen, die auf sie verweisen; zum anderen nach Stellen und nach Wegen, die zu ihnen führen. Dabei helfen uns Geräte, Pläne und Navigationssysteme. Suchen müssen wir, weil das, was wir sehen, uns anderes verdeckt. Was also steckt in, was hinter den Dingen? Was liegt jenseits des Horizonts? Was birgt die Erde in sich? Ein zu enges Gesichtsfeld und eine sprunghafte Aufmerksamkeit zwingen uns zu Methode und Kooperation. Zum Glück fehlt uns dann nur noch der Zufall.
Suchen müssen wir auch, weil wir nicht überall schon sind, sondern oft zu Orten erst hinwollen. In unserer vertrauten Lebenswelt kennen wir uns zwar aus, außerhalb jedoch müssen wir Selbstlokalisierung und Orientierung eigens zustande bringen. Dazu sichern wir uns aus der Vogelperspektive eine übersicht, die wir durch Kartographie objektiv darstellen.
Dann gehen wir aufs Ganze: Die Welt mit einem geographischen Koordinatensystem zu überziehen, macht jeden Ort genau benennbar; sie mit dem Satellitensystem GPS zu umgeben, heißt: Jeder kann jederzeit wissen, wo er ist und wohin er sich bewegt. Es ist, als ob die Welt unsere Lebenswelt wäre. Und der Routenführer nimmt dem Autofahrer die Wegsuche ab.
Wir suchen zum einen nach Dingen und nach Zeichen, die auf sie verweisen; zum anderen nach Stellen und nach Wegen, die zu ihnen führen. Dabei helfen uns Geräte, Pläne und Navigationssysteme. Suchen müssen wir, weil das, was wir sehen, uns anderes verdeckt. Was also steckt in, was hinter den Dingen? Was liegt jenseits des Horizonts? Was birgt die Erde in sich? Ein zu enges Gesichtsfeld und eine sprunghafte Aufmerksamkeit zwingen uns zu Methode und Kooperation. Zum Glück fehlt uns dann nur noch der Zufall.
Suchen müssen wir auch, weil wir nicht überall schon sind, sondern oft zu Orten erst hinwollen. In unserer vertrauten Lebenswelt kennen wir uns zwar aus, außerhalb jedoch müssen wir Selbstlokalisierung und Orientierung eigens zustande bringen. Dazu sichern wir uns aus der Vogelperspektive eine übersicht, die wir durch Kartographie objektiv darstellen.
Dann gehen wir aufs Ganze: Die Welt mit einem geographischen Koordinatensystem zu überziehen, macht jeden Ort genau benennbar; sie mit dem Satellitensystem GPS zu umgeben, heißt: Jeder kann jederzeit wissen, wo er ist und wohin er sich bewegt. Es ist, als ob die Welt unsere Lebenswelt wäre. Und der Routenführer nimmt dem Autofahrer die Wegsuche ab.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 08.10.2002Wir sind gewissermaßen entdeckt
Manfred Sommer macht Suchen und Finden so süß, daß uns ganz schlecht wird / Von Gustav Falke
Zum Suchen gehört Disziplin. Denn unser Augenmerk ist sprunghaft. Wir haben die Augen eines Jagdtieres, das sehen muß, ob irgendwo Beute sich regt. So sind wir schlecht gerüstet für die Suche von Dingen, die sich nicht bewegen. Mühsam müssen wir uns zwingen, nicht von jedem Blickfang den Blick fangen zu lassen und nicht jeder Versuchung zu erliegen. Statt großer Sprünge müssen wir kleine Schritte machen, ruhig und systematisch müssen wir das Feld durchlaufen, damit keine Lücke entsteht. Jedes einzelne, wie unscheinbar es auch sein mag, müssen wir ins Auge fassen. Die Disziplin freilich macht sich bald bezahlt. Die Ausübung einer Tätigkeit ist immer auch die Einübung in sie. Wir lernen die Dinge, die wir suchen, an prominenten Merkmalen zu erkennen. Wir wissen, in welchen Umgebungen sie sich typischerweise befinden, welche Zeichen und Spuren auf sie hindeuten. Wir sind zu Spezialisten geworden und können die Aufmerksamkeit anderer so lenken, daß auch sie das erkennen, was wir bereits herausgefunden haben.
Disziplin gehört a fortiori zu Manfred Sommers eigener Suche. Er will in phänomenologischer Einstellung die lebensweltlich elementaren Formen des Suchens und Findens beschreiben und damit aufdecken, welche Voraussetzungen in ihnen enthalten sind. Eine solche Ausfaltung des selbstverständlich Gewußten und Gekonnten müsse, ohne auf Ergebnisse zu schielen, nacheinander einzelne Stücke oder Aspekte, Bewegungsformen oder Handlungsfäden ins Auge fassen und sie in Ausschnittvergrößerungen betrachten und in Zeitlupenstudien vorführen. Wenn auf diese Art das Triviale und Altbekannte auch noch ausgewalzt und in die Länge gezogen wird, könne es nicht ausbleiben, daß mitunter das Ergebnis danach ist. Das sei indes der Preis dafür, daß gelegentlich doch am Vertrauten Befremdliches und am Selbstverständlichen Unverstandenes in Erscheinung treten kann. Da obendrein die phänomenologische Betrachtung das gesondert Untersuchte immer zugleich in seinem Funktionsgefüge betrachte, könne es dann in seltenen Glücksfällen dazu kommen, daß das auffällige Detail uns das Vertraute insgesamt fremd vorkommen läßt und das Gewohnte als Ganzes sich sonderbar ausnimmt.
Insgesamt, als Ganzes. Es braucht einiges Hinundherwenden, um herauszufinden, was Sommer in seinem Suchen eigentlich sucht. Das Feld von Intentionalität, Horizont, Rückansicht, Perspektive, Auffälligkeit jedenfalls ist in der Phänomenologie so gründlich vermessen wie das Gelände einer technischen Hochschule, an der Geodäsie gelehrt wird. Warum unter den Leitbegriffen "Suchen und Finden" noch einmal von vorne angefangen werden sollte, ist nicht einzusehen und wird auch nicht begründet. Ja, nach Schulbegriffen arbeitet Sommer eher nachlässig, disziplinlos sozusagen. Der Blick auf die Ausstattung des Auges und seine gattungsgeschichtliche Funktion wechselt in eine andere Gattung der Betrachtung. Die vielfältigen schulinternen Polemiken - etwa gegen (den nie genannten) Heidegger und dessen Kritik am vergegenständlichenden, praxisvergessenen Primat des Sehens - bleiben dem Außenstehenden unverständlich und dem Kundigen bloße Anspielung. Vor allem überzieht Sommer seine Analyse, als wolle er uns ihre Trivialität schmackhaft machen, mit einem Zuckerguß von Doppeldeutigkeiten: "Wer oder was eine Stelle besetzt hielt (auf Sommers Stelle saß Hermann Schmitz), gibt das Maß vor, dem der mögliche Nachfolger gerecht werden muß." Der Text wird über weite Strecken allegorisch, wobei der moralische den historischen Sinn oft geradezu verdeckt. Eigentlich gemeint allerdings ist der spirituelle. Sommer betreibt mit dem Mittel der Phänomenologie Metaphysik. Er sucht nach dem Insgesamt, dem Sinn der Welt als Ganzen.
Was Sommer dabei eigentlich sagen will, sagt er nur indirekt oder nebenbei. Er benutzt die Maske des in äußerster Disziplin nur um das Triviale und Alltägliche bemühten phänomenologischen Suchens, um uns behutsam zum Metaphysischen hinanzuführen. In Wahrheit ist noch dieser behutsam hinanführende Lehrer eine Maske. Hinter ihr steckt die Furcht vor dem, was die Aufgabe wäre: die metaphysischen Implikationen der Phänomenologie des Suchens und Findens zu entfalten in Abgrenzung etwa gegen das pragmatische Planen auf der einen und Heideggers Danken auf der anderen Seite.
Manfred Sommer: "Suchen und Finden". Lebensweltliche Formen. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2002. 416 S., geb., 35,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Manfred Sommer macht Suchen und Finden so süß, daß uns ganz schlecht wird / Von Gustav Falke
Zum Suchen gehört Disziplin. Denn unser Augenmerk ist sprunghaft. Wir haben die Augen eines Jagdtieres, das sehen muß, ob irgendwo Beute sich regt. So sind wir schlecht gerüstet für die Suche von Dingen, die sich nicht bewegen. Mühsam müssen wir uns zwingen, nicht von jedem Blickfang den Blick fangen zu lassen und nicht jeder Versuchung zu erliegen. Statt großer Sprünge müssen wir kleine Schritte machen, ruhig und systematisch müssen wir das Feld durchlaufen, damit keine Lücke entsteht. Jedes einzelne, wie unscheinbar es auch sein mag, müssen wir ins Auge fassen. Die Disziplin freilich macht sich bald bezahlt. Die Ausübung einer Tätigkeit ist immer auch die Einübung in sie. Wir lernen die Dinge, die wir suchen, an prominenten Merkmalen zu erkennen. Wir wissen, in welchen Umgebungen sie sich typischerweise befinden, welche Zeichen und Spuren auf sie hindeuten. Wir sind zu Spezialisten geworden und können die Aufmerksamkeit anderer so lenken, daß auch sie das erkennen, was wir bereits herausgefunden haben.
Disziplin gehört a fortiori zu Manfred Sommers eigener Suche. Er will in phänomenologischer Einstellung die lebensweltlich elementaren Formen des Suchens und Findens beschreiben und damit aufdecken, welche Voraussetzungen in ihnen enthalten sind. Eine solche Ausfaltung des selbstverständlich Gewußten und Gekonnten müsse, ohne auf Ergebnisse zu schielen, nacheinander einzelne Stücke oder Aspekte, Bewegungsformen oder Handlungsfäden ins Auge fassen und sie in Ausschnittvergrößerungen betrachten und in Zeitlupenstudien vorführen. Wenn auf diese Art das Triviale und Altbekannte auch noch ausgewalzt und in die Länge gezogen wird, könne es nicht ausbleiben, daß mitunter das Ergebnis danach ist. Das sei indes der Preis dafür, daß gelegentlich doch am Vertrauten Befremdliches und am Selbstverständlichen Unverstandenes in Erscheinung treten kann. Da obendrein die phänomenologische Betrachtung das gesondert Untersuchte immer zugleich in seinem Funktionsgefüge betrachte, könne es dann in seltenen Glücksfällen dazu kommen, daß das auffällige Detail uns das Vertraute insgesamt fremd vorkommen läßt und das Gewohnte als Ganzes sich sonderbar ausnimmt.
Insgesamt, als Ganzes. Es braucht einiges Hinundherwenden, um herauszufinden, was Sommer in seinem Suchen eigentlich sucht. Das Feld von Intentionalität, Horizont, Rückansicht, Perspektive, Auffälligkeit jedenfalls ist in der Phänomenologie so gründlich vermessen wie das Gelände einer technischen Hochschule, an der Geodäsie gelehrt wird. Warum unter den Leitbegriffen "Suchen und Finden" noch einmal von vorne angefangen werden sollte, ist nicht einzusehen und wird auch nicht begründet. Ja, nach Schulbegriffen arbeitet Sommer eher nachlässig, disziplinlos sozusagen. Der Blick auf die Ausstattung des Auges und seine gattungsgeschichtliche Funktion wechselt in eine andere Gattung der Betrachtung. Die vielfältigen schulinternen Polemiken - etwa gegen (den nie genannten) Heidegger und dessen Kritik am vergegenständlichenden, praxisvergessenen Primat des Sehens - bleiben dem Außenstehenden unverständlich und dem Kundigen bloße Anspielung. Vor allem überzieht Sommer seine Analyse, als wolle er uns ihre Trivialität schmackhaft machen, mit einem Zuckerguß von Doppeldeutigkeiten: "Wer oder was eine Stelle besetzt hielt (auf Sommers Stelle saß Hermann Schmitz), gibt das Maß vor, dem der mögliche Nachfolger gerecht werden muß." Der Text wird über weite Strecken allegorisch, wobei der moralische den historischen Sinn oft geradezu verdeckt. Eigentlich gemeint allerdings ist der spirituelle. Sommer betreibt mit dem Mittel der Phänomenologie Metaphysik. Er sucht nach dem Insgesamt, dem Sinn der Welt als Ganzen.
Was Sommer dabei eigentlich sagen will, sagt er nur indirekt oder nebenbei. Er benutzt die Maske des in äußerster Disziplin nur um das Triviale und Alltägliche bemühten phänomenologischen Suchens, um uns behutsam zum Metaphysischen hinanzuführen. In Wahrheit ist noch dieser behutsam hinanführende Lehrer eine Maske. Hinter ihr steckt die Furcht vor dem, was die Aufgabe wäre: die metaphysischen Implikationen der Phänomenologie des Suchens und Findens zu entfalten in Abgrenzung etwa gegen das pragmatische Planen auf der einen und Heideggers Danken auf der anderen Seite.
Manfred Sommer: "Suchen und Finden". Lebensweltliche Formen. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2002. 416 S., geb., 35,90 [Euro].
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
"Manfred Sommer möchte das Suchen beschreiben und das Finden, und zwar in phänomenologischer Einstellung. Das Resultat könnte sein, in der Neubeschreibung der Vorgänge - und zwar in der, so Gustav Falke skeptisch, "ausgewalzten" - Neubeschreibung auf Unvertrautes zu stoßen, der Selbstverständlichkeit der Suchroutinen "Befremdliches" abzugewinnen. Nobles Ziel, allein gelungen ist es nicht. Erst einmal gibt es einen Neudurchlauf durch die Schlüsselbegriffe und -absichten der Phänomenologie. Der aber bietet, beklagt Falke, rein gar nichts Neues. Es gibt "schulinterne Polemiken", der Normalleser wird sie nicht verstehen. Am wenigsten gefällt dem Rezensenten jedoch, worauf das alles hinausläuft: auf Metaphysik nämlich. Die eigentliche Aufgabe wird so verfehlt: das Feld zwischen Pragmatik und Heidegger phänomenologisch neu zu vermessen.
© Perlentaucher Medien GmbH"
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