Harald Behringer hat sich in der Anonymität der Großstadt häuslich eingerichtet. Doch eine kurze Reise in die Weiten Lapplands, nach Abisko, genügt, um die allzu vertraute Welt plötzlich ins Wanken zu bringen. Mit Genauigkeit und hellsichtigem Humor notiert der Held , wie alles um ihn herum in Auflösung gerät. Doch was sich über den Trümmern von Behringers kläglichem Alltag erhebt, ist vielleicht nichts Geringeres als das wahre Leben.
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 10.09.2001Stockholmer haben neun Leben
Frühromantisch: Klaus Böldl träumt von der Stille Abiskos
Harald Behringer mag keine Elstern. Denn diese Vögel, findet er, ähneln in ihrer Schläue und Gier den Menschen, und Menschen mag Behringer erst recht nicht, sie sind ihm eine "unerfreuliche Gattung". Auf die Zivilisation, die so unschöne Dinge wie Stadtautobahnen und Minigolfplätze hervorgebracht hat, möchte der vierzigjährige Gelegenheitsübersetzer, der die eigenen sonderlingshaften Züge sorgsam kultiviert, am liebsten verzichten. Nicht weit von seiner Stockholmer Wohnung befindet sich im Wald eine prähistorische Grabstätte. Dorthin, zum "Eisenzeitmann", zieht er sich gern zurück, um Frieden zu finden und die Farbschattierungen der Flechten auf dem Granitblock zu studieren. "Darüber habe ich viel nachgedacht" - wäre es nicht besser, wenn man selber eine Flechte wäre?
"O daß wir unsere Ururahnen wären / ein Klümpchen Schleim in einem warmen Moor", dichtete einst Gottfried Benn in ähnlicher Stimmungslage. Und Adorno bemerkte zu diesem lyrischen Regressionswunsch: da sei "Grinsen mitkomponiert". Auch "Südlich von Abisko", das zweite Buch des Münchner Schriftstellers Klaus Böldl, so schmal und schön wie die vorhergegangene "Studie in Kristallbildung", verfügt über viel mitkomponiertes Schmunzeln, das der Misanthropie Grenzen setzt. Im übrigen beschränkt sich Behringers Umgang keineswegs auf den Eisenzeitler; lebende Personen kommen vor, bevorzugt weiblichen Geschlechts. Da ist zum Beispiel seine Freundin Malin; aus purer Menschenliebe ist sie Krankenschwester geworden und fragt sich mit Recht, warum gerade sie an diesen Mann geraten mußte. Wir erleben die letzten Tage einer schiefen Beziehung mit. Am Ende wird Malin Behringer verlassen haben. Denn seitdem er sechs Tage in Abisko war, ist er für sie unzumutbar geworden.
Abisko ist ein kleines, 1500 Kilometer nördlich von Stockholm gelegenes Dorf, das dem am Leben leidenden Mann zur Chiffre eines anderen Zustands geworden ist. Ein verwunschener Ort der Selbstvergessenheit, wo er seine romantische Initiation erlebt hat und an den er fortwährend denkt in seinen äußerlich ereignislosen Stockholmer Tagen, wenn er morgens mal wieder ein bißchen länger liegen bleibt, in Richtung der Wolken durch die Straßen schlendert oder in der Bibliothek in den verdienten Halbschlaf fällt. In der Stille von Abisko hat er erfahren, von wie "tiefen Übereinstimmungen erfüllt die Welt im Grunde war". Die Erzählung kokettiert ein bißchen mit dem Vokabular der Frühromantik, wenn von großen träumerischen Zusammenhängen die Rede ist, von der Natur als Sprache und "den einzelnen Naturgegenständen als Buchstaben, vielleicht".
Im haargenauen Entziffern dieser Schrift sind Behringer und sein Autor Böldl jedenfalls Meister. Das betrifft glücklicherweise nicht nur Flechten und Birkenblätter, sondern auch die übersehenen Kleinigkeiten im Menschenleben, und wenn es nur ein Schuhband ist, das in eine Pfütze hängt. Das flanierende Bewußtsein wendet sich jenseits bürgerlicher Effizienz den "vollkommen gleichgültigen Dingen" zu. Die Abgrenzung von der Maschinerie des Alltags und den "Leuten, die morgens unmerklich ins Büro fahren und abends unmerklich wieder nach Hause kommen", ist Voraussetzung einer höheren Wahrnehmung der unscheinbaren Details.
Mit seiner Hauptfigur führt Böldl den romantischen Wiedergänger in doppeltem Sinn vor: liebevoll beschrieben, aber auch belächelt. In regelmäßigen Abständen setzt der Text realistische Akzente, die daran erinnern, daß "die Welt überall gleichmäßig mit Wirklichkeit bedeckt" ist. Einerseits hält sich der übergewichtige Träumer die Gegenwart möglichst weit vom Hals, andererseits könnte die Kleidung der Freundin für seinen Geschmack entschieden "zeitgemäßer" sein. "Abiskostill" ist ein verwunschenes Wort - doch wenn die Tochter des dortigen Hotelbesitzers ausreißt und unvermutet in Stockholm vor Behringers Tür auftaucht, erfährt man nebenbei, daß auch in den Tagen von Abisko "ohrenbetäubend" MTV dudelte. Und dann gibt es noch den Freund Gudmudson, einen Frührentner, der seiner Fernfahrerzeit hinterherträumt und von nichts anderem als den horizontweiten Sonnenblumenfeldern in der Türkei und dem Türkisblau des Schwarzen Meeres redet. Später entpuppt sich diese eigenwillige Verkörperung der romantischen Sehnsucht indessen als Sittenstrolch im Bahnhofsmilieu.
Böldls so exakte wie stimmungsvolle Beschreibungskunst ist mit Stifter verglichen worden; tatsächlich lassen fast überdeutliche Signalwörter wie "Hochwald", "Granit" oder "sanftes Gesetz" aufhorchen. Weit entfernt ist der gelernte Skandinavist jedoch vom knirschenden Ernst des Biedermeier-Autors. Die Erzählung bewährt sich durch ihre leichte, aufgelockerte Komposition. Bevor der Tiefsinn einer Betrachtung behäbig werden könnte, wechselt der Text zu einem komischen kleinen Dialog oder einer skurrilen Traumsequenz; immer wenn einmal zumindest ein bißchen was passieren könnte, stellt sich unvermutet eine neue Figur ein, aus deren Auftritt eine geschliffene Miniatur wird. Vor allem in den Vergleichen, zu denen Böldl eine ans Manierierte grenzende Liebe hat, wahrt der Wirklichkeitsfeind humoristische Souveränität über die Welt und ihre Tücken. "Kein Zug hat Aufenthalt in Abisko. Der Schaffner warf heftig die Tür hinter mir zu, wie aus Wut, daß man nur wegen mir hier hatte halten müssen."
Durch die Erzählung läuft eine Spur mit Todesmotiven: das alte Grab, ein Bild der verstorbenen Schwester, ein toter Vogel, die vielen Beerdigungsinstitute der Stadt. Als hätte jeder Stockholmer neun Leben, und jedes einzelne müßte mit Aufwand zu Grabe getragen werden. In einem dieser Institute arbeitet Frau Armgart, Behringers Nachbarin, in deren Wohnung er fasziniert hinüberlauscht, wenn dort dezent die Feierabendgeräusche beginnen. Die Todesdienerin ist die Gegenfigur zur krankenschwesterlichen Freundin: "Ihre Bluse ist hochgeschlossen und ganz undurchsichtig, ihre schwarzen Strümpfe signalisieren durchaus nichts anderes als diskretes immerwährendes Mitleid, und ihr Rock ist keinen Zentimeter zu kurz, damit die trauernden Klienten nicht etwa an die Leiblichkeit des Daseins erinnert werden." Mit dieser durch die Wand verehrten Frau hat Behringer den kühlen Ruhepol in der Vielfalt der Erscheinungen gefunden. Das Porträt der abiskostillen Dame ist von Robert-Walserscher Verschmitztheit: "Ich bin Frau Armgart vollständig verfallen, in gewisser Weise."
Die Klippe des zweiten Buches hat Klaus Böldl sicher umschifft, indem er das erste, in gewisser Weise, fortgesetzt hat. Man ist neugierig, wohin die Fahrt nun geht.
WOLFGANG SCHNEIDER
Klaus Böldl: "Südlich von Abisko". Erzählung. S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2000. 126 S., br., 20,- DM.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Frühromantisch: Klaus Böldl träumt von der Stille Abiskos
Harald Behringer mag keine Elstern. Denn diese Vögel, findet er, ähneln in ihrer Schläue und Gier den Menschen, und Menschen mag Behringer erst recht nicht, sie sind ihm eine "unerfreuliche Gattung". Auf die Zivilisation, die so unschöne Dinge wie Stadtautobahnen und Minigolfplätze hervorgebracht hat, möchte der vierzigjährige Gelegenheitsübersetzer, der die eigenen sonderlingshaften Züge sorgsam kultiviert, am liebsten verzichten. Nicht weit von seiner Stockholmer Wohnung befindet sich im Wald eine prähistorische Grabstätte. Dorthin, zum "Eisenzeitmann", zieht er sich gern zurück, um Frieden zu finden und die Farbschattierungen der Flechten auf dem Granitblock zu studieren. "Darüber habe ich viel nachgedacht" - wäre es nicht besser, wenn man selber eine Flechte wäre?
"O daß wir unsere Ururahnen wären / ein Klümpchen Schleim in einem warmen Moor", dichtete einst Gottfried Benn in ähnlicher Stimmungslage. Und Adorno bemerkte zu diesem lyrischen Regressionswunsch: da sei "Grinsen mitkomponiert". Auch "Südlich von Abisko", das zweite Buch des Münchner Schriftstellers Klaus Böldl, so schmal und schön wie die vorhergegangene "Studie in Kristallbildung", verfügt über viel mitkomponiertes Schmunzeln, das der Misanthropie Grenzen setzt. Im übrigen beschränkt sich Behringers Umgang keineswegs auf den Eisenzeitler; lebende Personen kommen vor, bevorzugt weiblichen Geschlechts. Da ist zum Beispiel seine Freundin Malin; aus purer Menschenliebe ist sie Krankenschwester geworden und fragt sich mit Recht, warum gerade sie an diesen Mann geraten mußte. Wir erleben die letzten Tage einer schiefen Beziehung mit. Am Ende wird Malin Behringer verlassen haben. Denn seitdem er sechs Tage in Abisko war, ist er für sie unzumutbar geworden.
Abisko ist ein kleines, 1500 Kilometer nördlich von Stockholm gelegenes Dorf, das dem am Leben leidenden Mann zur Chiffre eines anderen Zustands geworden ist. Ein verwunschener Ort der Selbstvergessenheit, wo er seine romantische Initiation erlebt hat und an den er fortwährend denkt in seinen äußerlich ereignislosen Stockholmer Tagen, wenn er morgens mal wieder ein bißchen länger liegen bleibt, in Richtung der Wolken durch die Straßen schlendert oder in der Bibliothek in den verdienten Halbschlaf fällt. In der Stille von Abisko hat er erfahren, von wie "tiefen Übereinstimmungen erfüllt die Welt im Grunde war". Die Erzählung kokettiert ein bißchen mit dem Vokabular der Frühromantik, wenn von großen träumerischen Zusammenhängen die Rede ist, von der Natur als Sprache und "den einzelnen Naturgegenständen als Buchstaben, vielleicht".
Im haargenauen Entziffern dieser Schrift sind Behringer und sein Autor Böldl jedenfalls Meister. Das betrifft glücklicherweise nicht nur Flechten und Birkenblätter, sondern auch die übersehenen Kleinigkeiten im Menschenleben, und wenn es nur ein Schuhband ist, das in eine Pfütze hängt. Das flanierende Bewußtsein wendet sich jenseits bürgerlicher Effizienz den "vollkommen gleichgültigen Dingen" zu. Die Abgrenzung von der Maschinerie des Alltags und den "Leuten, die morgens unmerklich ins Büro fahren und abends unmerklich wieder nach Hause kommen", ist Voraussetzung einer höheren Wahrnehmung der unscheinbaren Details.
Mit seiner Hauptfigur führt Böldl den romantischen Wiedergänger in doppeltem Sinn vor: liebevoll beschrieben, aber auch belächelt. In regelmäßigen Abständen setzt der Text realistische Akzente, die daran erinnern, daß "die Welt überall gleichmäßig mit Wirklichkeit bedeckt" ist. Einerseits hält sich der übergewichtige Träumer die Gegenwart möglichst weit vom Hals, andererseits könnte die Kleidung der Freundin für seinen Geschmack entschieden "zeitgemäßer" sein. "Abiskostill" ist ein verwunschenes Wort - doch wenn die Tochter des dortigen Hotelbesitzers ausreißt und unvermutet in Stockholm vor Behringers Tür auftaucht, erfährt man nebenbei, daß auch in den Tagen von Abisko "ohrenbetäubend" MTV dudelte. Und dann gibt es noch den Freund Gudmudson, einen Frührentner, der seiner Fernfahrerzeit hinterherträumt und von nichts anderem als den horizontweiten Sonnenblumenfeldern in der Türkei und dem Türkisblau des Schwarzen Meeres redet. Später entpuppt sich diese eigenwillige Verkörperung der romantischen Sehnsucht indessen als Sittenstrolch im Bahnhofsmilieu.
Böldls so exakte wie stimmungsvolle Beschreibungskunst ist mit Stifter verglichen worden; tatsächlich lassen fast überdeutliche Signalwörter wie "Hochwald", "Granit" oder "sanftes Gesetz" aufhorchen. Weit entfernt ist der gelernte Skandinavist jedoch vom knirschenden Ernst des Biedermeier-Autors. Die Erzählung bewährt sich durch ihre leichte, aufgelockerte Komposition. Bevor der Tiefsinn einer Betrachtung behäbig werden könnte, wechselt der Text zu einem komischen kleinen Dialog oder einer skurrilen Traumsequenz; immer wenn einmal zumindest ein bißchen was passieren könnte, stellt sich unvermutet eine neue Figur ein, aus deren Auftritt eine geschliffene Miniatur wird. Vor allem in den Vergleichen, zu denen Böldl eine ans Manierierte grenzende Liebe hat, wahrt der Wirklichkeitsfeind humoristische Souveränität über die Welt und ihre Tücken. "Kein Zug hat Aufenthalt in Abisko. Der Schaffner warf heftig die Tür hinter mir zu, wie aus Wut, daß man nur wegen mir hier hatte halten müssen."
Durch die Erzählung läuft eine Spur mit Todesmotiven: das alte Grab, ein Bild der verstorbenen Schwester, ein toter Vogel, die vielen Beerdigungsinstitute der Stadt. Als hätte jeder Stockholmer neun Leben, und jedes einzelne müßte mit Aufwand zu Grabe getragen werden. In einem dieser Institute arbeitet Frau Armgart, Behringers Nachbarin, in deren Wohnung er fasziniert hinüberlauscht, wenn dort dezent die Feierabendgeräusche beginnen. Die Todesdienerin ist die Gegenfigur zur krankenschwesterlichen Freundin: "Ihre Bluse ist hochgeschlossen und ganz undurchsichtig, ihre schwarzen Strümpfe signalisieren durchaus nichts anderes als diskretes immerwährendes Mitleid, und ihr Rock ist keinen Zentimeter zu kurz, damit die trauernden Klienten nicht etwa an die Leiblichkeit des Daseins erinnert werden." Mit dieser durch die Wand verehrten Frau hat Behringer den kühlen Ruhepol in der Vielfalt der Erscheinungen gefunden. Das Porträt der abiskostillen Dame ist von Robert-Walserscher Verschmitztheit: "Ich bin Frau Armgart vollständig verfallen, in gewisser Weise."
Die Klippe des zweiten Buches hat Klaus Böldl sicher umschifft, indem er das erste, in gewisser Weise, fortgesetzt hat. Man ist neugierig, wohin die Fahrt nun geht.
WOLFGANG SCHNEIDER
Klaus Böldl: "Südlich von Abisko". Erzählung. S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2000. 126 S., br., 20,- DM.
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