'Alle sind unterwegs', sagt die Erzählerin in Zsuzsanna Gahses zweiteiligem Sudelbuch, und diese Erzählerin ist mitunter selbst unterwegs, z. B. in Spanien auf den Spuren des legendären Großvaters Endre, der als Barpianist in Granada gelebt haben soll, oder mit Horaz im Valsertal. Die leidenschaftliche 'Reisephilosophin' zeigt die krassen Unterschiede zwischen Flüchtlingen und Urlaubern, zwischen Landlosen und Geschäftsreisenden, und im Hintergrund spielen die Alpen mit, der Süden leuchtet auf, Iberien, die Po-Ebene und das Karpatenbecken. Im zweiten Teil des Südsudelbuches beschleunigt sich die Erzählweise, aber von Anfang an schaut sich die Icherzählerin zusammen mit Tokoll, dem Fotografen, nach Gangarten um, nach Fingersprachen, Mundarbeiten und Sprechweisen der Leute in unterschiedlichen Landschaften. Unterbrochen wird das europäische Schweifen und Schlingern ab und an durch einzelne Sudelsagas, die sich wie Dellen und Kuhlen ausnehmen.Erzähllust, präzises Beobachten und Sprachwitz treffen hier mit Gahses Kunst des scheinbar Hingeworfenen und des gekonnten Auslassens zusammen und fügen sich zu einem wunderbar lakonischen, welthaltigen Buch.
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 30.10.2012Mehr Tropfen
Was alles sickert: Zsuzsanna Gahses "Südsudelbuch"
Gedankenbücher nannte er sie, gern auch Schmierbücher. Das war untertrieben, denn Lichtenbergs "Sudelbücher", wie sie schließlich hießen, sollten neben Klecksern brillante Sätze enthalten, die bis heute Denkanstöße geben. Auch Zsuzsanna Gahse treibt die Leidenschaft am Wort. Entstanden sind bislang Bücher unterschiedlichster Art, lyrisch geformt, wie der letzte Band, "Donauwürfel" (2010) - oder eben frei fließend, wie das neue "Südsudelbuch". Es enthält "nachtragende Notizen" zu Alltag und Reisen einer unbenannten, gern zu Fuß die Welt erkundenden Ich-Erzählerin. Ihre Aufzeichnungen sind oft einen Absatz lang, die kürzeste nur eine Zeile, eher ein Ausruf als ein Satz: "Was alles sickert! Ein großes Tropfen, Rieseln, Nässen."
Zsuzsanna Gahse legt uns die Welt in vielen schönen Sätzen vor die Füße wie ein vielköpfiges Wesen, um das man sich kümmern sollte. Die in Müllheim in der Schweiz lebende Autorin und Übersetzerin ist eine nachdenkliche, aber auch äußerst bewegliche, verspielte Wanderin zwischen Sprachen und Regionen. 1946 in Budapest geboren, wuchs sie in Wien und Kassel auf. Längere Zeit lebte sie in Stuttgart und Luzern. Und so schickt sie, nach vielen verschiedenen, lyrisch geprägten Büchern (zuletzt "Donauwürfel", 2010), diesmal eine Erzählerin durch halb Europa, schwindelerregend nah an den Rand der Alpen. Von dort lässt es sich südwärts schauen, hinab in die Länder, die dominiert sind von Nachrichten ums "europäische Geld, das abstürzen will, was nicht zugelassen wird". Klare Positionen stehen dabei direkt neben Träumen, in denen es duftet: "Spanien kann ich mir als Reiseland vorstellen. Eine knochige, trockene, ätherische Gegend mit öligen Dünsten. Mandellandschaft. Hier in der Gegend lebe ich in einer Nusslandschaft. Und südlich der Alpen liegt der Kastaniengürtel, fügt Tokoll hinzu."
Tokoll ist der Begleiter der Ich-Erzählerin, ein verlässlicher Fluchtpunkt im Buch. Er ist Fotograf von Beruf, ein Aufzeichner wie sie selbst. Auch er sammelt nichts Ganzes, nichts Abgeschlossenes, sondern lieber "Porträtfragmente": Füße, Hände, Rückenlandschaften. Das ständige Unterwegssein und das nicht immer nur bedrohliche, sondern möglicherweise auch befreiende Gefühl, "kein Land im Rücken zu haben", gibt diesen bewegten, weltläufigen Notaten eine federnde Leichtigkeit. Wie eine Kamera geht die Erzählerin mal schamlos nah heran, bis man in einem Gesicht nur noch den Goldzahn sieht. In anderen Szenen weicht sie lieber zurück, bedrängt von einer Handleserin. Notiert wird nur, was eine "Erzählinsel" bildet. Das Wort, auch Titel eines älteren Gahse-Werks, beschreibt gut die Wirkung dieser akrobatischen Gedankenstücke: Sie schreiten mit dem Leser einen Horizont ab, von dem aus man ins Weite blickt - oder auf andere kleine Erzählinseln; schön klingende Wörter zum Beispiel, wie "Kopfzüngler". Zsuzsanna Gahses formbewusstes Sudeln und Kleckern, ihr ernsthaftes Spiel mit Worten verändert den eigenen Blick auf die Welt und schafft ein Bewusstsein für Sprache und "Wanderwörter", deren Bedeutung variiert. So, wie das Leben beim Reisen und auf der Flucht andere Farben annehmen kann.
ANJA HIRSCH
Zsuzsanna Gahse: "Südsudelbuch".
Edition Korrespondenzen, Wien 2012. 374 S., geb., 21,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Was alles sickert: Zsuzsanna Gahses "Südsudelbuch"
Gedankenbücher nannte er sie, gern auch Schmierbücher. Das war untertrieben, denn Lichtenbergs "Sudelbücher", wie sie schließlich hießen, sollten neben Klecksern brillante Sätze enthalten, die bis heute Denkanstöße geben. Auch Zsuzsanna Gahse treibt die Leidenschaft am Wort. Entstanden sind bislang Bücher unterschiedlichster Art, lyrisch geformt, wie der letzte Band, "Donauwürfel" (2010) - oder eben frei fließend, wie das neue "Südsudelbuch". Es enthält "nachtragende Notizen" zu Alltag und Reisen einer unbenannten, gern zu Fuß die Welt erkundenden Ich-Erzählerin. Ihre Aufzeichnungen sind oft einen Absatz lang, die kürzeste nur eine Zeile, eher ein Ausruf als ein Satz: "Was alles sickert! Ein großes Tropfen, Rieseln, Nässen."
Zsuzsanna Gahse legt uns die Welt in vielen schönen Sätzen vor die Füße wie ein vielköpfiges Wesen, um das man sich kümmern sollte. Die in Müllheim in der Schweiz lebende Autorin und Übersetzerin ist eine nachdenkliche, aber auch äußerst bewegliche, verspielte Wanderin zwischen Sprachen und Regionen. 1946 in Budapest geboren, wuchs sie in Wien und Kassel auf. Längere Zeit lebte sie in Stuttgart und Luzern. Und so schickt sie, nach vielen verschiedenen, lyrisch geprägten Büchern (zuletzt "Donauwürfel", 2010), diesmal eine Erzählerin durch halb Europa, schwindelerregend nah an den Rand der Alpen. Von dort lässt es sich südwärts schauen, hinab in die Länder, die dominiert sind von Nachrichten ums "europäische Geld, das abstürzen will, was nicht zugelassen wird". Klare Positionen stehen dabei direkt neben Träumen, in denen es duftet: "Spanien kann ich mir als Reiseland vorstellen. Eine knochige, trockene, ätherische Gegend mit öligen Dünsten. Mandellandschaft. Hier in der Gegend lebe ich in einer Nusslandschaft. Und südlich der Alpen liegt der Kastaniengürtel, fügt Tokoll hinzu."
Tokoll ist der Begleiter der Ich-Erzählerin, ein verlässlicher Fluchtpunkt im Buch. Er ist Fotograf von Beruf, ein Aufzeichner wie sie selbst. Auch er sammelt nichts Ganzes, nichts Abgeschlossenes, sondern lieber "Porträtfragmente": Füße, Hände, Rückenlandschaften. Das ständige Unterwegssein und das nicht immer nur bedrohliche, sondern möglicherweise auch befreiende Gefühl, "kein Land im Rücken zu haben", gibt diesen bewegten, weltläufigen Notaten eine federnde Leichtigkeit. Wie eine Kamera geht die Erzählerin mal schamlos nah heran, bis man in einem Gesicht nur noch den Goldzahn sieht. In anderen Szenen weicht sie lieber zurück, bedrängt von einer Handleserin. Notiert wird nur, was eine "Erzählinsel" bildet. Das Wort, auch Titel eines älteren Gahse-Werks, beschreibt gut die Wirkung dieser akrobatischen Gedankenstücke: Sie schreiten mit dem Leser einen Horizont ab, von dem aus man ins Weite blickt - oder auf andere kleine Erzählinseln; schön klingende Wörter zum Beispiel, wie "Kopfzüngler". Zsuzsanna Gahses formbewusstes Sudeln und Kleckern, ihr ernsthaftes Spiel mit Worten verändert den eigenen Blick auf die Welt und schafft ein Bewusstsein für Sprache und "Wanderwörter", deren Bedeutung variiert. So, wie das Leben beim Reisen und auf der Flucht andere Farben annehmen kann.
ANJA HIRSCH
Zsuzsanna Gahse: "Südsudelbuch".
Edition Korrespondenzen, Wien 2012. 374 S., geb., 21,- [Euro].
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Perlentaucher-Notiz zur NZZ-Rezension
Alles bleibt etwas diffus in Samuel Mosers Besprechung von Zszsanna Gahses Buch. Offenbar muss das so sein, denn Moser stellt mehr als einmal fest, dass Gahse alles andere schreibt als ein normales Reisetagebuch. Es handelt sich mehr um ein Nachdenken über Menschen an ihrem Ort, ihre Bewegungen und über Züge. Das Instabile scheint dem Rezensenten das Definitive zu sein in diesen karg gefassten, genauen Beobachtungen und Gedanken. Dass Gahse weder üppig ausführt noch kommentiert, hält Moser für kühn. Dem von Moser erkannten eigenen Wunsch, der Präsenz des Verschwundenen nachzuspüren, entspricht die Autorin mit ihren Stilprinzipien jedoch scheinbar recht gut.
© Perlentaucher Medien GmbH
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