Megan Campisis Debüt „Sünde“ nimmt uns mit an den englischen Hof und in die Elendsquartiere Londons, zeigt das Leben Annas, einer jungen Waise aus prekären Verhältnissen, die ums Überleben kämpfen muss. Als sie beim Diebstahl eines Brotlaibs erwischt und ihrer Bestrafung zugeführt wird, wendet sich
ihr Schicksal. Allerdings nicht unbedingt zum Besseren, denn die männliche Gerichtsbarkeit kennt…mehrMegan Campisis Debüt „Sünde“ nimmt uns mit an den englischen Hof und in die Elendsquartiere Londons, zeigt das Leben Annas, einer jungen Waise aus prekären Verhältnissen, die ums Überleben kämpfen muss. Als sie beim Diebstahl eines Brotlaibs erwischt und ihrer Bestrafung zugeführt wird, wendet sich ihr Schicksal. Allerdings nicht unbedingt zum Besseren, denn die männliche Gerichtsbarkeit kennt keine Gnade mit Frauen, die sich nicht regelkonform verhalten und bestraft diese gnadenlos. Anne entgeht dem Tod, aber sie bekommt ein Halseisen angelegt und ein S in die Zunge gestochen, denn sie wird dazu verurteilt, fortan bis zu ihrem Tod eine Sündenesserin zu sein.
Einschub: Die Existenz von Sündenessern ist historisch verbürgt und muss hier im zeitlichen Kontext, dem Elisabethanischen Zeitalter, gesehen werden. Nach der Abkehr Heinrich VIII. von der katholischen Kirche und der anglikanischen Reformation besteht bei den Sterbenden Bedarf, sich von ihren Sünden freisprechen zu lassen. Nun schlägt die Stunde der Sündenesserin. Sie wird von Armen und Reichen an das Sterbebett geholt, lauscht dieser Beichte und ordnet jedem Vergehen eine Speise zu, die nach dem Tod auf den jeweiligen Sarg gestellt werden, bevor sie diese verzehren muss, damit die Sünden der Sterbenden auf sie übergehen. Ihr Einsatz endet mit dem Spruch „Die Sünden sind nun auf mich übergegangen. Stumm trage ich sie zu Grabe.“ (S. 55)
Die Sündenesserin macht den Menschen Angst, wird von ihnen gemieden, ist eine Ausgestossene und kann nur dann beichten und freigesprochen werden, wenn sie ein unauffälliges, frommes Leben führt und sich im Sinne der männlichen Obrigkeit wohlverhält.
Als nach dem Tod von Corliss ein Hirschherz, das Symbol für Mord, auf dem Sarg liegt, weckt das Annas Misstrauen, denn diese Sünde hat die Hofdame Bethanys (= Elisabeth I.) nicht gebeichtet. Sie besinnt sich auf ihre Stärke und macht sich daran, den dafür Verantwortlichen zu entlarven. Aber wie soll sie das anstellen, wenn sie keine Ahnung hat, wer das Opfer sein könnte?
Gerade im Hinblick auf die vielen verfremdeten Namen schadet es nicht, wenn man mit der Geschichte der Tudors ab Heinrich VIII. vertraut ist, erleichtert es doch die Zuordnung der Akteure. Aber „Sünde“ ist nur auf den ersten Blick ein historischer Roman. Gerade wenn man sich die willkürlichen Einschränkungen der Freiheit durch die Kirche und die männliche Obrigkeit und den allmählichen Emanzipationsprozess der Protagonistin anschaut, die alles daransetzt, sich von deren Zwängen zu befreien, werden durchaus die Parallelen zu unserer Gegenwart sichtbar.
Atmosphärisch, spannend und sehr empfehlenswert!