"Dieser Roman trifft mitten ins Herz." Ljudmila Ulitzkaja.
Suleika ist eine tatarische Bäuerin. Eingeschüchtert und rechtlos lebt die Mutter von vier im Säuglingsalter gestorbenen Kindern auf dem Hof ihres viel älteren Mannes. Ihr Weg zu sich selbst führt durch die Hölle, das Sibirien der von Stalin Ausgesiedelten. Ein anrührendes und meisterhaftes Debüt, das in 21 Sprachen übersetzt ist.
Vielfach preisgekrönt, u.a. als Großes Buch 2015 und mit dem Jasnaja Poljana-Preis 2015.
"Für mich bleibt es ein Rätsel, wie es einer so jungen Autorin gelungen ist, ein so eindringliches Werk zu schaffen." Ljudmila Ulitzkaja.
Suleika ist eine tatarische Bäuerin. Eingeschüchtert und rechtlos lebt die Mutter von vier im Säuglingsalter gestorbenen Kindern auf dem Hof ihres viel älteren Mannes. Ihr Weg zu sich selbst führt durch die Hölle, das Sibirien der von Stalin Ausgesiedelten. Ein anrührendes und meisterhaftes Debüt, das in 21 Sprachen übersetzt ist.
Vielfach preisgekrönt, u.a. als Großes Buch 2015 und mit dem Jasnaja Poljana-Preis 2015.
"Für mich bleibt es ein Rätsel, wie es einer so jungen Autorin gelungen ist, ein so eindringliches Werk zu schaffen." Ljudmila Ulitzkaja.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 14.03.2017Willkommen in Bad GULag
Gusel Jachinas Roman "Suleika öffnet die Augen"
Man könnte diesen Roman "schlüpfrig" nennen, klänge das nicht unzulässig frivol, auch "quallig" böte sich an, wäre es nicht ebenso irreführend missverständlich. Bleibt als Ausweg vielleicht: buchstäblich "unfassbar": Er ist kitschig, aber nicht rührselig, engagiert vom Ansatz her, aber verharmlosend in der Ausführung.
Das Anliegen der 1977 geborenen Gusel Jachina, einer Autorin mit tatarischen Wurzeln, die auf Russisch schreibt, könnte verdienstvoller nicht sein. In einer Zeit, da man der Menschenrechtsorganisation Memorial die Arbeit schwer bis unmöglich macht und Stalin langsam wieder hoffähig wird, will sie sich kritisch der frühen Sowjetgeschichte annehmen. Sie schildert, wie ein tatarisches Dorf 1930 entkulakisiert wird, die Protagonistin Suleika monatelang schwanger im Güterwagen unterwegs in die sibirische Taiga ist und dort ihren Sohn zur Welt bringt. Sechzehn Jahre später flieht dieser mit gefälschter Geburtsurkunde, um in Leningrad Malerei zu studieren.
Diesem Inhaltsskelett wollte Jachina laut eigener Aussage das Fleisch ethnographischer Materialien, historischer Aufarbeitung und emanzipatorischen Strebens aufmodellieren. Erzählerisch greift sie dafür auf drei Mittel zurück: die nahezu wörtliche Wiedergabe von technischen Instruktionen und Dienstvorschriften, um historische Authentizität zu unterstreichen; die gleichsam lexikonhafte Raffung von Inhalten; die Großaufnahme bei nahezu völliger Ignoranz der Totalen. Das hat ihr immerhin zwei bedeutende russische Literaturpreise eingetragen.
Doch schon bei den Tataren gibt es nur ein paar karge folkloristische Details (rasierte Schädel), das Verhältnis zu anderen Ethnien oder die Situation in der UdSSR bleiben ausgespart. In puncto Emanzipation sieht es nicht viel besser aus. Suleika, eine gläubige Muslima, schrubbt, schwitzt und schuftet, murmelt gebetsmühlenartig "Ein guter Mann, da gibt es nichts zu sagen" vor sich hin, selbst wenn ihr dreißig Jahre älterer Gatte sie schlägt, und lässt sich von der Schwiegermutter widerstandslos piesacken. Dann tritt mit dem die Internationale schmetternden Ignatow die Sowjetmacht auf den Plan.
In einem Interview für ihren deutschen Verlag hält Jachina fest: "Ich hege keinerlei Illusionen gegenüber Stalin und seinem Regime, aber die Sowjetzeit hat zu einer Befreiung der Frauen geführt, das ist einfach so." Bei solch apodiktischer Sicht erübrigt sich selbstredend jede literarische Bebilderung. Ignatow tötet Suleikas Mann und rettet ihr später das Leben. "Der Mörder ihres Mannes schaute sie mit dem Blick ihres Mannes an." Nimmt es da wunder, dass Suleika eine Affäre mit ihm anfängt?
Damit zum heikelsten Punkt, der Schilderung des Lagerlebens. Jachina wollte es differenziert zeichnen, auch den "Geist der Brüderlichkeit" aufzeigen, von dem ihre Großmutter berichtet hatte, die selbst als Mädchen in sibirischer Verbannung leben musste. So anerkennenswert dieses Vorhaben ist, ästhetisch scheitert Jachina. Selbst von einer Robinsonade zu sprechen griffe letztlich noch zu kurz. Ihr Lager ist der reinste Kurort, Bad GULag, mit Gehwohl-Füßen, "die trocken, glatt und fest waren", und einer "sorgfältig gepflegten Haut". Einen Akademiker hatten "die Jahre nicht verändert, höchstens seine Gestalt drahtiger" gemacht, einen Arzt, der bereits völlig gaga war, in die Realität zurückkatapultiert, so dass er noch jahrelang unter miserablen Bedingungen arbeiten konnte. Suleikas Sohn wird in Französisch und Malerei unterwiesen; für den tatarischen Bauernbub wäre beides wohl undenkbar gewesen. "Glücklich ist sie nicht. Aber es geht ihr gut", sinniert Suleika. Als ihr Sohn dann flieht und sie am Schmerz zu zerbrechen droht, taucht Ignatow auf - und es wird beim Happy End wie jewöhnlich abjeblendt.
Jachina konzentriert sich auf wenige Figuren in einem einzigen Lager und stellt diese kaum in Interaktion dar. Suleikas Schickal gleicht einem Weg vom Regen in die Traufe, wobei die Traufe subjektiv noch als angenehmer empfunden wird. Diese Fokussierung führt dazu, dass der Blick buchstäblich nicht über den eigenen Tellerrand hinausreicht. Und wenn die Suppe darin mit aus Muscheln angefertigten Löffeln gegessen wird, sei's drum. "Als ob das Glück des Menschen von Löffeln abhängt!"
Erschreckend ist freilich, dass in der russischen Kritik immer wieder Stimmen zu hören sind, die selbst diese Dumm-gelaufen-Variante systematischer Verbrechen als "antirussisch" bezeichnen. Das sollte zu denken geben. Oder die Augen öffnen.
CHRISTIANE PÖHLMANN
Gusel Jachina: "Suleika öffnet die Augen". Roman.
Aus dem Russischen von Helmut Ettinger. Aufbau Verlag, Berlin 2017. 541 S., geb., 22,95 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Gusel Jachinas Roman "Suleika öffnet die Augen"
Man könnte diesen Roman "schlüpfrig" nennen, klänge das nicht unzulässig frivol, auch "quallig" böte sich an, wäre es nicht ebenso irreführend missverständlich. Bleibt als Ausweg vielleicht: buchstäblich "unfassbar": Er ist kitschig, aber nicht rührselig, engagiert vom Ansatz her, aber verharmlosend in der Ausführung.
Das Anliegen der 1977 geborenen Gusel Jachina, einer Autorin mit tatarischen Wurzeln, die auf Russisch schreibt, könnte verdienstvoller nicht sein. In einer Zeit, da man der Menschenrechtsorganisation Memorial die Arbeit schwer bis unmöglich macht und Stalin langsam wieder hoffähig wird, will sie sich kritisch der frühen Sowjetgeschichte annehmen. Sie schildert, wie ein tatarisches Dorf 1930 entkulakisiert wird, die Protagonistin Suleika monatelang schwanger im Güterwagen unterwegs in die sibirische Taiga ist und dort ihren Sohn zur Welt bringt. Sechzehn Jahre später flieht dieser mit gefälschter Geburtsurkunde, um in Leningrad Malerei zu studieren.
Diesem Inhaltsskelett wollte Jachina laut eigener Aussage das Fleisch ethnographischer Materialien, historischer Aufarbeitung und emanzipatorischen Strebens aufmodellieren. Erzählerisch greift sie dafür auf drei Mittel zurück: die nahezu wörtliche Wiedergabe von technischen Instruktionen und Dienstvorschriften, um historische Authentizität zu unterstreichen; die gleichsam lexikonhafte Raffung von Inhalten; die Großaufnahme bei nahezu völliger Ignoranz der Totalen. Das hat ihr immerhin zwei bedeutende russische Literaturpreise eingetragen.
Doch schon bei den Tataren gibt es nur ein paar karge folkloristische Details (rasierte Schädel), das Verhältnis zu anderen Ethnien oder die Situation in der UdSSR bleiben ausgespart. In puncto Emanzipation sieht es nicht viel besser aus. Suleika, eine gläubige Muslima, schrubbt, schwitzt und schuftet, murmelt gebetsmühlenartig "Ein guter Mann, da gibt es nichts zu sagen" vor sich hin, selbst wenn ihr dreißig Jahre älterer Gatte sie schlägt, und lässt sich von der Schwiegermutter widerstandslos piesacken. Dann tritt mit dem die Internationale schmetternden Ignatow die Sowjetmacht auf den Plan.
In einem Interview für ihren deutschen Verlag hält Jachina fest: "Ich hege keinerlei Illusionen gegenüber Stalin und seinem Regime, aber die Sowjetzeit hat zu einer Befreiung der Frauen geführt, das ist einfach so." Bei solch apodiktischer Sicht erübrigt sich selbstredend jede literarische Bebilderung. Ignatow tötet Suleikas Mann und rettet ihr später das Leben. "Der Mörder ihres Mannes schaute sie mit dem Blick ihres Mannes an." Nimmt es da wunder, dass Suleika eine Affäre mit ihm anfängt?
Damit zum heikelsten Punkt, der Schilderung des Lagerlebens. Jachina wollte es differenziert zeichnen, auch den "Geist der Brüderlichkeit" aufzeigen, von dem ihre Großmutter berichtet hatte, die selbst als Mädchen in sibirischer Verbannung leben musste. So anerkennenswert dieses Vorhaben ist, ästhetisch scheitert Jachina. Selbst von einer Robinsonade zu sprechen griffe letztlich noch zu kurz. Ihr Lager ist der reinste Kurort, Bad GULag, mit Gehwohl-Füßen, "die trocken, glatt und fest waren", und einer "sorgfältig gepflegten Haut". Einen Akademiker hatten "die Jahre nicht verändert, höchstens seine Gestalt drahtiger" gemacht, einen Arzt, der bereits völlig gaga war, in die Realität zurückkatapultiert, so dass er noch jahrelang unter miserablen Bedingungen arbeiten konnte. Suleikas Sohn wird in Französisch und Malerei unterwiesen; für den tatarischen Bauernbub wäre beides wohl undenkbar gewesen. "Glücklich ist sie nicht. Aber es geht ihr gut", sinniert Suleika. Als ihr Sohn dann flieht und sie am Schmerz zu zerbrechen droht, taucht Ignatow auf - und es wird beim Happy End wie jewöhnlich abjeblendt.
Jachina konzentriert sich auf wenige Figuren in einem einzigen Lager und stellt diese kaum in Interaktion dar. Suleikas Schickal gleicht einem Weg vom Regen in die Traufe, wobei die Traufe subjektiv noch als angenehmer empfunden wird. Diese Fokussierung führt dazu, dass der Blick buchstäblich nicht über den eigenen Tellerrand hinausreicht. Und wenn die Suppe darin mit aus Muscheln angefertigten Löffeln gegessen wird, sei's drum. "Als ob das Glück des Menschen von Löffeln abhängt!"
Erschreckend ist freilich, dass in der russischen Kritik immer wieder Stimmen zu hören sind, die selbst diese Dumm-gelaufen-Variante systematischer Verbrechen als "antirussisch" bezeichnen. Das sollte zu denken geben. Oder die Augen öffnen.
CHRISTIANE PÖHLMANN
Gusel Jachina: "Suleika öffnet die Augen". Roman.
Aus dem Russischen von Helmut Ettinger. Aufbau Verlag, Berlin 2017. 541 S., geb., 22,95 [Euro].
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" ein großer russischer Roman " Neues Deutschland 20180417
Perlentaucher-Notiz zur FR-Rezension
Rezensentin Cornelia Geissler rät dringend zur Lektüre dieses Romans, der so ergreifend wie historisch präzise an die fast vergessenen Verbrechen der Sowjetunion erinnert. Die Kritiker folgt hier der ungebildeten, abergläubischen Suleika, die zunächst aufgrund ihrer tatarischen Herkunft von ihrem Mann wie Vieh gehalten wird und nach dessen Ermordung von einem Trupp Bolschewiki in ein Lager in der sibirischen Taiga verschleppt wird. Wie konzentriert und glaubwürdig die russische Autorin vom Schicksal der sich langsam ihrer Selbst bewusst werdenden Suleika erzählt, ihre Beziehung zu dem Kommandanten und Mörder ihres Mannes, Ignatow, beleuchtet und das Zusammenleben im Lager skizziert, hat die Rezensentin tief beeindruckt.
© Perlentaucher Medien GmbH
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