Der elfjährige Lars wohnt mit seiner Familie im Paradiesgarten, einem Reihenhausquartier im dänischen Odense. Seine Freizeit verbringt er mit seinen Freunden, mit denen er heimliche Ringkämpfe veranstaltet. Aber vor allem verprügeln sie die Kleinen und sind ständig auf der Flucht vor den Großen. Denn im Paradiesgarten herrscht das Gesetz des Stärkeren: Prügeln oder verprügelt werden. Doch dann geschehen seltsame Dinge. Warum darf Lars seine Großeltern nicht sehen? Wieso liegt sein Vater manchmal wie gelähmt auf dem Wohnzimmerfußboden? Und warum rasseln im Schrank kleine und große Skelette?
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 05.11.2012Dänemark, du hast es schlechter
Morten Ramsland zeichnet im Roman "Sumobrüder" das katastrophale Panorama einer dänischen Kindheit. Sein Buch ist drastisch und feinsinnig zugleich.
Er flennte hinter der Socke, und ich versetzte ihm einen Schlag in die Magengrube, damit er zusammenklappte, schmiss ihm ein paar Hände Dreck ins Gesicht und sagte, ich würde in einer Stunde wiederkommen und ihn noch einmal verprügeln. Dann ging ich und ließ ihn mit meiner Socke im Mund sitzen." So agieren halbstarke Jugendliche, die sich beständig gegenseitig verprügeln, die sich auch die Ausscheidungen von Kröten in die Augen tropfen, die mit ihren Exkrementen um sich werfen und Schulkameraden fesseln, knebeln, anspucken und ihnen Urin über den Kopf laufen lassen. Schulkinder, die sich bis zur Bewusstlosigkeit in Tiefkühltruhen legen, einem behindertem Mitschüler ein pornographisches Magazin zum Geburtstag schenken und sich von einem Hund das Glied lecken lassen.
Der Däne Morten Ramsland entwirft in seinem neuen Roman "Sumobrüder" ein Panorama jugendlicher Gewalttätigkeit, für den ihm die wichtigste dänische Auszeichnung zuerkannt wurde, der Literaturpreis der Danske Bank. Das Milieu, in dem Ramsland seine Gewaltepisoden inszeniert, ist eine perspektivlose Unterschicht im Dänemark der vordigitalen Zeit: Ein Videorecorder kann hier noch Neid erwecken. Schauplatz ist die triste Wohnsiedlung "Paradiesgarten" nahe der Stadt Odense, gelegen auf einer ehemaligen Müllkippe, nahe bei einem Sumpfgebiet und einer Kläranlage, derentwegen der Sumpf nur noch eine stinkende Kloake ist. In dieser bedrückenden Umgebung lebt der elf Jahre alte Lars mit seiner Familie. Die soziale Atmosphäre seines Elternhauses ist von Respekt- und Anstandslosigkeit geprägt, die familiären Strukturen werden von Hilflosigkeit erodiert. Zeit vertreibt man sich mit Gewalt.
Lars und sein jüngerer Bruder Mikael, wegen einer großen Zahnspange Überbiss genannt, sind den cholerischen Anfällen des Vaters schutzlos ausgesetzt. Das Verhältnis der Brüder ist von beklemmender Ambivalenz: Entweder ist der Jüngere Opfer der Gewalt des Älteren, oder die distanzlose Brüderlichkeit drückt sich in der Anstiftung zu abstoßenden Untaten aus. Lars wiederum bewegt sich in beständiger Angst vor den Prügeln seiner älteren und stärkeren Mitschüler durch die Siedlung.
Zur körperlichen Gewalt kommt eine psychische Bedrängnis in der Familie hinzu. Nachts wird die Familie vom sogenannten Telefonmann angerufen, aber über diese Anrufe wird nicht gesprochen. Lars vermutet seinen Großvater hinter diesen Störungen, doch die Mutter lässt ihre Kinder im Unklaren, ob sie überhaupt Großeltern haben. Die väterlichen Großeltern darf Lars nicht kennenlernen, und ein Besuch bei den beiden ruft väterlichen Ärger hervor. Der Großvater ist alkoholabhängig, und als seine Frau stirbt, transportiert er sie im eigenen Auto zum Vater von Lars.
Die fast fünfzig kurzen Kapitel der "Sumobrüder" spielen in immer neuen Variationen die grausame, präpubertäre und damit fast noch kindliche Gewalt von Lars, seinem Bruder und deren Freunden und Feinden durch. Prügeln, immer wieder prügeln und verprügelt zu werden ist Antrieb dieses Romans. In Paradiesgarten gilt das Recht des Stärkeren. Morten Ramsland erzählt ohne Schmuck, und die Lakonie, mit der körperliche und seelische Gewalt, erzwungener Fettverzehr und widerliche Ausscheidungsmomente geschildert werden, kann Ekel erregen. Die Dialoge sind kurz, die Sprache ist zuweilen ordinär, der Duktus von bestürzender Drastik. Obwohl eine innere Entwicklung, ein Reifeprozess, ein Älterwerden bei Lars nur durch den Hauch einer Andeutung erahnt werden kann, kommt man dieser Figur ob der derben, direkten Darstellung im Leseverlauf immer näher. Wenn er sich mit seinem Bruder gegen andere verbündet und triumphal aus einem Konflikt hervorgeht, schimmert gar ein Glücksempfinden naiver Kindheit auf.
Das Sujet des Romans ist in der ungeschönten Weise, in der es dargeboten wird, nicht leicht aufzunehmen. Man täte dem Text aber unrecht, lehnte man ihn einfach ab. Zu feinsinnig überlagert der Roman psychische und physische Macht und Ohnmacht, kindliches Glück und elterliches Unvermögen, soziale Einflusslosigkeit und ökonomische Verzweiflung. Ramsland beherrscht ein auffällig unauffälliges realistisches Erzählen, in dem kein Wort überflüssig ist und kurze Überschriften scheinbare Harmlosigkeiten suggerieren.
XAVER OEHMEN
Morten Ramsland: "Sumobrüder".
Aus dem Dänischen von Ulrich Sonnenberg. Schöffling Verlag, Frankfurt am Main 2011. 320 S., geb., 19,95 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Morten Ramsland zeichnet im Roman "Sumobrüder" das katastrophale Panorama einer dänischen Kindheit. Sein Buch ist drastisch und feinsinnig zugleich.
Er flennte hinter der Socke, und ich versetzte ihm einen Schlag in die Magengrube, damit er zusammenklappte, schmiss ihm ein paar Hände Dreck ins Gesicht und sagte, ich würde in einer Stunde wiederkommen und ihn noch einmal verprügeln. Dann ging ich und ließ ihn mit meiner Socke im Mund sitzen." So agieren halbstarke Jugendliche, die sich beständig gegenseitig verprügeln, die sich auch die Ausscheidungen von Kröten in die Augen tropfen, die mit ihren Exkrementen um sich werfen und Schulkameraden fesseln, knebeln, anspucken und ihnen Urin über den Kopf laufen lassen. Schulkinder, die sich bis zur Bewusstlosigkeit in Tiefkühltruhen legen, einem behindertem Mitschüler ein pornographisches Magazin zum Geburtstag schenken und sich von einem Hund das Glied lecken lassen.
Der Däne Morten Ramsland entwirft in seinem neuen Roman "Sumobrüder" ein Panorama jugendlicher Gewalttätigkeit, für den ihm die wichtigste dänische Auszeichnung zuerkannt wurde, der Literaturpreis der Danske Bank. Das Milieu, in dem Ramsland seine Gewaltepisoden inszeniert, ist eine perspektivlose Unterschicht im Dänemark der vordigitalen Zeit: Ein Videorecorder kann hier noch Neid erwecken. Schauplatz ist die triste Wohnsiedlung "Paradiesgarten" nahe der Stadt Odense, gelegen auf einer ehemaligen Müllkippe, nahe bei einem Sumpfgebiet und einer Kläranlage, derentwegen der Sumpf nur noch eine stinkende Kloake ist. In dieser bedrückenden Umgebung lebt der elf Jahre alte Lars mit seiner Familie. Die soziale Atmosphäre seines Elternhauses ist von Respekt- und Anstandslosigkeit geprägt, die familiären Strukturen werden von Hilflosigkeit erodiert. Zeit vertreibt man sich mit Gewalt.
Lars und sein jüngerer Bruder Mikael, wegen einer großen Zahnspange Überbiss genannt, sind den cholerischen Anfällen des Vaters schutzlos ausgesetzt. Das Verhältnis der Brüder ist von beklemmender Ambivalenz: Entweder ist der Jüngere Opfer der Gewalt des Älteren, oder die distanzlose Brüderlichkeit drückt sich in der Anstiftung zu abstoßenden Untaten aus. Lars wiederum bewegt sich in beständiger Angst vor den Prügeln seiner älteren und stärkeren Mitschüler durch die Siedlung.
Zur körperlichen Gewalt kommt eine psychische Bedrängnis in der Familie hinzu. Nachts wird die Familie vom sogenannten Telefonmann angerufen, aber über diese Anrufe wird nicht gesprochen. Lars vermutet seinen Großvater hinter diesen Störungen, doch die Mutter lässt ihre Kinder im Unklaren, ob sie überhaupt Großeltern haben. Die väterlichen Großeltern darf Lars nicht kennenlernen, und ein Besuch bei den beiden ruft väterlichen Ärger hervor. Der Großvater ist alkoholabhängig, und als seine Frau stirbt, transportiert er sie im eigenen Auto zum Vater von Lars.
Die fast fünfzig kurzen Kapitel der "Sumobrüder" spielen in immer neuen Variationen die grausame, präpubertäre und damit fast noch kindliche Gewalt von Lars, seinem Bruder und deren Freunden und Feinden durch. Prügeln, immer wieder prügeln und verprügelt zu werden ist Antrieb dieses Romans. In Paradiesgarten gilt das Recht des Stärkeren. Morten Ramsland erzählt ohne Schmuck, und die Lakonie, mit der körperliche und seelische Gewalt, erzwungener Fettverzehr und widerliche Ausscheidungsmomente geschildert werden, kann Ekel erregen. Die Dialoge sind kurz, die Sprache ist zuweilen ordinär, der Duktus von bestürzender Drastik. Obwohl eine innere Entwicklung, ein Reifeprozess, ein Älterwerden bei Lars nur durch den Hauch einer Andeutung erahnt werden kann, kommt man dieser Figur ob der derben, direkten Darstellung im Leseverlauf immer näher. Wenn er sich mit seinem Bruder gegen andere verbündet und triumphal aus einem Konflikt hervorgeht, schimmert gar ein Glücksempfinden naiver Kindheit auf.
Das Sujet des Romans ist in der ungeschönten Weise, in der es dargeboten wird, nicht leicht aufzunehmen. Man täte dem Text aber unrecht, lehnte man ihn einfach ab. Zu feinsinnig überlagert der Roman psychische und physische Macht und Ohnmacht, kindliches Glück und elterliches Unvermögen, soziale Einflusslosigkeit und ökonomische Verzweiflung. Ramsland beherrscht ein auffällig unauffälliges realistisches Erzählen, in dem kein Wort überflüssig ist und kurze Überschriften scheinbare Harmlosigkeiten suggerieren.
XAVER OEHMEN
Morten Ramsland: "Sumobrüder".
Aus dem Dänischen von Ulrich Sonnenberg. Schöffling Verlag, Frankfurt am Main 2011. 320 S., geb., 19,95 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main