Christoph Niemann ist einer der gefragtesten Illustratoren der Welt. In seinem Atelier in Berlin-Mitte gestaltet er Bilder für The New Yorker, Die Zeit und viele weitere renommierte Zeitungen und Zeitschriften. In dieser Monografie ist er dem Geheimnis der Kreativität auf der Spur und gibt in einer Kombination aus Illustrationen und Fotografien mit unnachahmlich treffsicherem Humor Einblick in seinen Schaffensprozess. Er erklärt, wie er Karriere machte und interne und externe Hindernisse überwand. Das Buch umfasst Arbeiten aus allen Schaffensphasen Niemanns und präsentiert seine brillanten und scharfsinnigen Beobachtungen des Alltagslebens in Zeichnungen, Reiseberichten, Zeitungsbeiträgen und hintergründigen Bilderserien, in denen er vertraute Bilder und Alltagsgegenstände in neue Zusammenhänge bringt und damit herrliche Effekte erzielt. So macht er die Vielfalt der Welt und ihren Widersinn auf brillante Weise deutlich.
Stellen Sie sich vor, dass Sie ein Cover des "New Yorker" sehen und dann im Netz eine Animation dazu finden, die dieses Motiv zum Leben erweckt, indem sie Ihnen ermöglicht, selbst ins Umschlagbild einzutreten, dort alle möglichen Perspektiven einzunehmen und also zum Akteur darin zu werden. Plötzlich sehen Sie da zum Beispiel, was über dem Objekt passiert, das Sie auf dem Cover nur von der Seite gezeigt bekommen haben. Die Grenzen des Zeitschriftenumschlags sind mit einem Mal nicht mehr existent, aus der planen Zeichnung wird ein Raum, der zusätzliche Entdeckungen bereithält. Wenn Sie das gesehen - oder besser: erlebt - haben, kennen Sie die Zukunft der Illustration. Sie hört auf den Namen Christoph Niemann.
Der 1970 im Schwäbischen geborene Zeichner hat lange in New York gearbeitet, ehe er mit seiner Familie nach Berlin gezogen ist. Sein Hauptabsatzgebiet aber sind die Vereinigten Staaten geblieben, denn die heutige Technik gestattet einem Illustrator, seine Kunden von überall auf der Welt her zu beliefern. Das heißt im Falle Niemanns aber auch, dass er weniger für deutsche Publikationen arbeitet als für amerikanische. Was uns dadurch entgeht, wird dankenswerterweise kompensiert durch die Bücher, in denen er zumindest einen Teil seiner Geniestriche sammelt. Mit dem Münchner Knesebeck-Verlag hat Niemann einen treuen Partner gefunden, der die amerikanischen Originalausgaben rasch ins Deutsche übersetzen lässt. Die jüngste Publikation heißt "Sunday Sketching".
Dieser Titel geht auf Niemanns Instagram-Kolumne "Sunday Sketches" zurück, in der er regelmäßig neueste Einfälle postet. Die Verschiebung von der Arbeit aufs Arbeiten, die der Name des Buchs vornimmt, deutet aber schon an, dass hier mehr geboten wird als eine bloße Retrospektive von Niemanns Wirken in den sozialen Medien. Er verbindet im Buch die isolierten Projekte zu einer großen autobiographischen Bildererzählung, die nicht nur den Lebenslauf dieses Künstlers rekapituliert, sondern auch Auskunft über sein Selbstverständnis und seine Herangehensweise gibt. "Einfallsreich" ist zu nichtssagend für eine Charakterisierung Niemanns; wenn man seine Ideenvielfalt andeuten wollte, müsste man ihn einen Einfallsmillionär nennen. Das machte dann auch klar, dass in "Sunday Sketching" nur ein Bruchteil der Niemannschen Produktion Platz findet - auch deshalb, weil bestimmte Einfälle unmöglich zwischen zwei Buchdeckel passen, zum Beispiel die dreidimensionale Animation des "New Yorker"-Covers. Das Wunderbare beim Betrachten von "Sunday Sketching" ist, dass man sich gar nicht vorstellen kann, wie die Originalität des Gebotenen noch gesteigert werden könnte. Und wenn Sie dann, hungrig gemacht vom Buchinhalt, mehr sehen wollen und auf Niemanns multimediales Werk stoßen, dann begleiten Sie jemandem beim Marsch durch die Dimensionen.
Andreas Platthaus
Christoph Niemann: "Sunday Sketching". Knesebeck, 272 Seiten, 34,95 Euro
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