Superdiversität erforscht die zunehmenden Diversifizierungsprozesse und die hochkomplexen sozialen Konfigurationen, durch die frühere Formen der Vielfalt in unseren modernen Gesellschaften nochmals potenziert werden. Migration spielt bei diesen Prozessen eine Schlüsselrolle, wie der international führende Sozialwissenschaftler Steven Vertovec in diesem bahnbrechenden Buch zeigt. Sie bringt nicht nur Veränderungen in allen sozialen, kulturellen, religiösen und sprachlichen Bereichen mit sich, sondern auch in der Art und Weise, wie diese mit Faktoren wie Geschlecht, Alter und ökonomischem wie rechtlichem Status zusammenwirken.
Im Mittelpunkt des von Vertovec entwickelten Konzepts der »Superdiversität« steht die Beziehung zwischen sozialer Kategorisierung und sozialer Organisation. Immer komplexere Kategorisierungen haben erhebliche Konsequenzen auf allen gesellschaftlichen Ebenen. Sie erfordern eine Neubewertung sozialer Identitäten als mehrdimensional, wandelbar und durchlässig. Infolge des Klimawandels wird sich die Diversifizierung noch weiter verstärken, die Komplexität noch weiter erhöhen. Superdiversität liefert überzeugende Argumente für die Anerkennung dieser neuen Verhältnisse und fordert uns zum Umdenken auf.
Im Mittelpunkt des von Vertovec entwickelten Konzepts der »Superdiversität« steht die Beziehung zwischen sozialer Kategorisierung und sozialer Organisation. Immer komplexere Kategorisierungen haben erhebliche Konsequenzen auf allen gesellschaftlichen Ebenen. Sie erfordern eine Neubewertung sozialer Identitäten als mehrdimensional, wandelbar und durchlässig. Infolge des Klimawandels wird sich die Diversifizierung noch weiter verstärken, die Komplexität noch weiter erhöhen. Superdiversität liefert überzeugende Argumente für die Anerkennung dieser neuen Verhältnisse und fordert uns zum Umdenken auf.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 22.05.2024An komplizierte Identitäten muss man sich halten
Komplexität als Versprechen: Steven Vertovec bringt sein Konzept der Superdiversität für die Migrationsforschung in Stellung
Es gibt Models und Supermodels, Mächte und Supermächte, Stars und Superstars. Ohne die Suggestion von Einzigartigkeit und entsprechender Seltenheit würde das Präfix keinen sinnvollen Unterschied markieren. Aber welchen Sinn macht es, einem sozialen Phänomen wie Diversität auch noch Superdiversität zur Seite zu stellen? Ist Superdiversität einfach Diversität, nur viel mehr, viel diverser, viel problematischer? Und ist demnach bald Megadiversität fällig?
Steven Vertovec, Gründungsdirektor des Max-Planck-Instituts zur Erforschung multireligiöser und multiethnischer Gesellschaften, bereicherte in einem Aufsatz in der Fachzeitschrift "Ethnic and Racial Studies" bereits 2007 die Migrationsforschung um das Konzept der Superdiversität. Es habe, so Vertovec, seitdem in den europäischen Sozialwissenschaften und der Migrationsforschung rasch an Bedeutung gewonnen und präge inzwischen das Feld, obwohl es sich zur Gänze auf Entwicklungen in Großbritannien bezogen hatte und im Wesentlichen als eine Kritik an der dortigen Vorstellung von Multikulturalismus entstanden war. Da er dennoch nicht davon ausgehen könne, dass seine Leserschaft den Aufsatz kenne, ließ Vertovec den Text in vollem Umfang in seinem neuen Buch nochmals abdrucken. Zusammen mit den fünfzig Seiten Literaturverzeichnis ist damit schon ein Drittel des Platzes verbraucht. Kann der Autor auf dem verbleibenden Raum sein Anliegen einlösen, unser Bewusstsein zu schärfen für die tiefgreifenden Veränderungen der Gesellschaft durch die globalen Migrationsströme?
Es gelingt ihm durchaus, aber das liegt auch daran, dass dieses Bewusstsein eigentlich längst nicht mehr geschärft werden muss. Wer heute Migrationsforschung betreibt, wird vielmehr gleich mit den Fragen konfrontiert, ob er für oder gegen (mehr) Zuwanderung ist, welche durch Zuwanderung entstandenen gesellschaftlichen Probleme er für die dringlichsten hält und welche politischen Lösungen er für sie vorschlägt. Wer über Zuwanderung publiziert, muss darum mit einer großen Ungeduld seitens der Leser rechnen. Jeder erfährt es schließlich jeden Tag, dass unsere Gesellschaften gerade wegen der Zuwanderung "immer komplexer" werden.
Ungeduldig erwarten darf man aber auch sozialwissenschaftlich fundierte Antworten auf die gesellschaftspolitisch entscheidende Frage, ob immer mehr Komplexität auch immer mehr Verlust an politischer Gestaltbarkeit bedeutet. Und in diesem Zusammenhang muss sich gerade die deutsche akademische Migrationsforschung gegen den Vorwurf verteidigen, sie stehe der Zuwanderung insgesamt zu positiv gegenüber, weil schon ihr zentraler Begriff - eben die Diversität - für sie grundsätzlich positiv besetzt ist. Erfahrungen der gesellschaftlichen Überforderung durch Zuwanderung kann diese Forschung deshalb auch nur als Herausforderungen betrachten, die früher oder später von den positiven Effekten der Diversifizierung der Zuwanderungsgesellschaften überlagert werden. Ein Konzept wie Superdiversität muss sich darum der Frage stellen, wie viel Raum es diesen Erfahrungen gibt. Wenn schon Diversität von vielen als Überforderung empfunden wird, resultiert dann Superdiversität in nochmals verschärften gesellschaftlichen Problemen? Oder kommt es zur Stabilisierung auf einem neuen Niveau der postmigrantischen Gesellschaft?
Superdiversität sei keine Frage der Quantität von Diversität, so Vertovec, sondern des gemeinsamen Auftretens und der gegenseitigen Beeinflussung vieler Ausprägungen der Diversität. Also nicht nur der ethnischen Zugehörigkeit von Menschen, sondern auch ihrer Herkunftsländer, ihrer Sprachen, Religionen, ihres Aufenthaltsstatus sowie der Staatsangehörigkeit. Es gebe EU-Ausländer, Asylsuchende, Geflüchtete und deren Angehörige, die sich wiederum nach Gender und Alter diversifizieren. Kurz: Wir beobachten längst eine "Superdiversifizierung der Diversität", die tatsächlich zur Wahrnehmung von "Kipppunkten für tolerierbare Diversität" führen könnte, so Vertovec. Könnte? Es wäre zu leicht, dem Autor ein generelles Unverständnis für Intoleranz gegenüber immer mehr Diversität zu unterstellen. Als ein erklärter "Antiessenzialist" besteht er aber auf der "Schlüsselbotschaft" seines Buches, dass es keine "ontologisch essenziellen" Unterschiede zwischen Menschen gibt. Alles sei Wahrnehmung, "Differenznarrative" und soziale Kategorien. Darum ist für ihn die entscheidende Frage, wie die Menschen Superdiversifizierung anerkennen können, ohne sich bedroht zu fühlen. Durch eine öffentliche Erziehung zu "Komplexitätsdenken", so legt er es nahe.
Vertovec leugnet nicht den erheblichen Idealismus dieser Erwartung, durch eine Kritik der "Vorstellungskraft" mehr Zustimmung zur Zuwanderung zu erreichen. Er ist kein Politikwissenschaftler, darum fehlt ihm vielleicht die Vorstellungskraft dafür, dass viele Bürger immer noch der alteuropäischen Vorstellung anhängen, ihre Regierungen sollten zunächst einmal die Kontrolle über die Zuwanderung zurückerlangen, bevor sie an ihre Vorstellungskraft appellieren. Aber die Forschung, belehrt Vertovec solche Nostalgiker, zeige, dass das Verständnis der Komplexität der sozialen Identitäten der Migranten mit dem Verständnis der eigenen Komplexität beginne. Diversität könnte Gesellschaften demnach integrieren, wenn sie ihr Potential für Polarisierungen entlang einzelner Gruppenunterschiede verlöre. Wenn sich also jeder als superkomplex empfände, wie könnte er sich dann überhaupt noch einer Gruppe anschließen, die sich etwa entlang ethnischer oder religiöser "Bruchlinien" im Konflikt mit anderen Gruppen befände?
Spätestens an dieser Stelle aber müssten all jene, die gerade die öffentliche Angst vor dem Verlust gesellschaftlichen Zusammenhalts mit ihrer Forschung zu besänftigen versuchen, Vertovec ins Wort fallen und sein Buch ins Reich der frommen Wünsche verweisen. Diversität lässt sich nicht in Solidarität übersetzen, und die ist zur Legitimation der ungleichen Verteilung knapper öffentlicher Ressourcen nun einmal unersetzlich. Man kann ein solches Denken als "Gruppismus" canceln, aber dem Rezensenten fehlt der Idealismus für die Annahme, heutige Wohlfahrtsstaaten könnten ohne die Komplexitätsreduktionen politischer Mehrheitsentscheidungen regiert werden. GERALD WAGNER
Steven Vertovec: "Superdiversität". Migration und soziale Komplexität.
Aus dem Englischen von Alexandra Berlina.
Suhrkamp Verlag, Berlin 2024.
364 S., geb., 32,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Komplexität als Versprechen: Steven Vertovec bringt sein Konzept der Superdiversität für die Migrationsforschung in Stellung
Es gibt Models und Supermodels, Mächte und Supermächte, Stars und Superstars. Ohne die Suggestion von Einzigartigkeit und entsprechender Seltenheit würde das Präfix keinen sinnvollen Unterschied markieren. Aber welchen Sinn macht es, einem sozialen Phänomen wie Diversität auch noch Superdiversität zur Seite zu stellen? Ist Superdiversität einfach Diversität, nur viel mehr, viel diverser, viel problematischer? Und ist demnach bald Megadiversität fällig?
Steven Vertovec, Gründungsdirektor des Max-Planck-Instituts zur Erforschung multireligiöser und multiethnischer Gesellschaften, bereicherte in einem Aufsatz in der Fachzeitschrift "Ethnic and Racial Studies" bereits 2007 die Migrationsforschung um das Konzept der Superdiversität. Es habe, so Vertovec, seitdem in den europäischen Sozialwissenschaften und der Migrationsforschung rasch an Bedeutung gewonnen und präge inzwischen das Feld, obwohl es sich zur Gänze auf Entwicklungen in Großbritannien bezogen hatte und im Wesentlichen als eine Kritik an der dortigen Vorstellung von Multikulturalismus entstanden war. Da er dennoch nicht davon ausgehen könne, dass seine Leserschaft den Aufsatz kenne, ließ Vertovec den Text in vollem Umfang in seinem neuen Buch nochmals abdrucken. Zusammen mit den fünfzig Seiten Literaturverzeichnis ist damit schon ein Drittel des Platzes verbraucht. Kann der Autor auf dem verbleibenden Raum sein Anliegen einlösen, unser Bewusstsein zu schärfen für die tiefgreifenden Veränderungen der Gesellschaft durch die globalen Migrationsströme?
Es gelingt ihm durchaus, aber das liegt auch daran, dass dieses Bewusstsein eigentlich längst nicht mehr geschärft werden muss. Wer heute Migrationsforschung betreibt, wird vielmehr gleich mit den Fragen konfrontiert, ob er für oder gegen (mehr) Zuwanderung ist, welche durch Zuwanderung entstandenen gesellschaftlichen Probleme er für die dringlichsten hält und welche politischen Lösungen er für sie vorschlägt. Wer über Zuwanderung publiziert, muss darum mit einer großen Ungeduld seitens der Leser rechnen. Jeder erfährt es schließlich jeden Tag, dass unsere Gesellschaften gerade wegen der Zuwanderung "immer komplexer" werden.
Ungeduldig erwarten darf man aber auch sozialwissenschaftlich fundierte Antworten auf die gesellschaftspolitisch entscheidende Frage, ob immer mehr Komplexität auch immer mehr Verlust an politischer Gestaltbarkeit bedeutet. Und in diesem Zusammenhang muss sich gerade die deutsche akademische Migrationsforschung gegen den Vorwurf verteidigen, sie stehe der Zuwanderung insgesamt zu positiv gegenüber, weil schon ihr zentraler Begriff - eben die Diversität - für sie grundsätzlich positiv besetzt ist. Erfahrungen der gesellschaftlichen Überforderung durch Zuwanderung kann diese Forschung deshalb auch nur als Herausforderungen betrachten, die früher oder später von den positiven Effekten der Diversifizierung der Zuwanderungsgesellschaften überlagert werden. Ein Konzept wie Superdiversität muss sich darum der Frage stellen, wie viel Raum es diesen Erfahrungen gibt. Wenn schon Diversität von vielen als Überforderung empfunden wird, resultiert dann Superdiversität in nochmals verschärften gesellschaftlichen Problemen? Oder kommt es zur Stabilisierung auf einem neuen Niveau der postmigrantischen Gesellschaft?
Superdiversität sei keine Frage der Quantität von Diversität, so Vertovec, sondern des gemeinsamen Auftretens und der gegenseitigen Beeinflussung vieler Ausprägungen der Diversität. Also nicht nur der ethnischen Zugehörigkeit von Menschen, sondern auch ihrer Herkunftsländer, ihrer Sprachen, Religionen, ihres Aufenthaltsstatus sowie der Staatsangehörigkeit. Es gebe EU-Ausländer, Asylsuchende, Geflüchtete und deren Angehörige, die sich wiederum nach Gender und Alter diversifizieren. Kurz: Wir beobachten längst eine "Superdiversifizierung der Diversität", die tatsächlich zur Wahrnehmung von "Kipppunkten für tolerierbare Diversität" führen könnte, so Vertovec. Könnte? Es wäre zu leicht, dem Autor ein generelles Unverständnis für Intoleranz gegenüber immer mehr Diversität zu unterstellen. Als ein erklärter "Antiessenzialist" besteht er aber auf der "Schlüsselbotschaft" seines Buches, dass es keine "ontologisch essenziellen" Unterschiede zwischen Menschen gibt. Alles sei Wahrnehmung, "Differenznarrative" und soziale Kategorien. Darum ist für ihn die entscheidende Frage, wie die Menschen Superdiversifizierung anerkennen können, ohne sich bedroht zu fühlen. Durch eine öffentliche Erziehung zu "Komplexitätsdenken", so legt er es nahe.
Vertovec leugnet nicht den erheblichen Idealismus dieser Erwartung, durch eine Kritik der "Vorstellungskraft" mehr Zustimmung zur Zuwanderung zu erreichen. Er ist kein Politikwissenschaftler, darum fehlt ihm vielleicht die Vorstellungskraft dafür, dass viele Bürger immer noch der alteuropäischen Vorstellung anhängen, ihre Regierungen sollten zunächst einmal die Kontrolle über die Zuwanderung zurückerlangen, bevor sie an ihre Vorstellungskraft appellieren. Aber die Forschung, belehrt Vertovec solche Nostalgiker, zeige, dass das Verständnis der Komplexität der sozialen Identitäten der Migranten mit dem Verständnis der eigenen Komplexität beginne. Diversität könnte Gesellschaften demnach integrieren, wenn sie ihr Potential für Polarisierungen entlang einzelner Gruppenunterschiede verlöre. Wenn sich also jeder als superkomplex empfände, wie könnte er sich dann überhaupt noch einer Gruppe anschließen, die sich etwa entlang ethnischer oder religiöser "Bruchlinien" im Konflikt mit anderen Gruppen befände?
Spätestens an dieser Stelle aber müssten all jene, die gerade die öffentliche Angst vor dem Verlust gesellschaftlichen Zusammenhalts mit ihrer Forschung zu besänftigen versuchen, Vertovec ins Wort fallen und sein Buch ins Reich der frommen Wünsche verweisen. Diversität lässt sich nicht in Solidarität übersetzen, und die ist zur Legitimation der ungleichen Verteilung knapper öffentlicher Ressourcen nun einmal unersetzlich. Man kann ein solches Denken als "Gruppismus" canceln, aber dem Rezensenten fehlt der Idealismus für die Annahme, heutige Wohlfahrtsstaaten könnten ohne die Komplexitätsreduktionen politischer Mehrheitsentscheidungen regiert werden. GERALD WAGNER
Steven Vertovec: "Superdiversität". Migration und soziale Komplexität.
Aus dem Englischen von Alexandra Berlina.
Suhrkamp Verlag, Berlin 2024.
364 S., geb., 32,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Perlentaucher-Notiz zur Dlf Kultur-Rezension
Rezensent Jens Balzer empfiehlt die Analysen des amerikanischen Sozialwissenschaftlers Steven Vertovec über Migration und soziale Komplexität nicht ohne Einschränkungen. Einerseits findet er Vertovecs These von der Superdiversität, die sogar den Begriff des Multikulturalismus hinter sich lässt, spannend und einleuchtend, weil sie das Fluide unseres Daseins erfasst, andererseits vermisst er im Buch eine Erklärung dafür, warum diese neue Diversität von manchen als Bedrohung und nicht als Befreiung erfahren wird. Für Balzer kann soziale Komplexität nur dialektisch begriffen werden. Das ansonsten lesenswerte Buch findet er insofern "leider unterkomplex".
© Perlentaucher Medien GmbH
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