"Denn das Leben selbst ist keine Lösung, das Leben hat keinerlei Art von gewählter, zugestimmter, determinierter Existenz. es ist nur eine Reihe gegnerischer Begierden und Kräfte, kleiner Widersprüche, die je nach den Umständen eines abscheulichen Zufalls zu etwas führen oder scheitern. Das Böse ist ungleich in jeden Menschen hineingelegt, wie das Genie, wie der Wahnsinn. Das Gute wie das Böse sind das Erzeugnis der Umstände und eines mehr oder weniger aktiven Treibmittels."
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 04.09.1996Artaud und sein Double
Zum hundertsten Geburtstag eines Bühnenbesessenen
Den jungen Antonin Artaud, der 1920 nach Paris kam und dort zunächst bei Lugné-Poë, dann in der Theatergruppe von Charles Dullin spielte, beschrieb Dullin als verhinderten Dandy. "Trotz seines Hemdkragens, dem immer ein Knopf fehlte und der statt dessen schlecht und recht mit einer leidlich gebundenen Krawatte zusammengehalten wurde, . . . untersagte ihm ein bestimmter Dandyismus zum Beispiel, sich mit uns vor den Planwagen zu spannen, der unsere Dekors und Kostüme von der Rue Honoré-Chevalier zur Rue des Ursulines transportierte." Verschwenderischer Lebenswandel konnte damit kaum gemeint sein. Da Artaud seine gesamte Habe in einem Koffer bei sich trug, mußten ihm Kollegen, die Aufsehen vermeiden wollten, für den Umzug in eine andere Pension einmal einen zweiten, leeren Koffer leihen. Außer der Dekadenz charakterisiert den Dandy jedoch vor allem der Wunsch nach vollkommener Ästhetisierung des Lebens. Danach strebte Artaud durchaus, wenn auch auf eine Art, die wenig mit dem Dandy bei Oscar Wilde und Huysmans gemein hat.
Antonin Artaud, der am 4. März 1948 mit nicht einmal 52 Jahren starb, wäre heute hundert Jahre alt geworden. Sein Ruf als Vordenker des modernen Theaters beruht vor allem auf dem 1938 erschienenen Essayband "Das Theater und sein Double". Zu dem oft beschworenen Bild des Gescheiterten will der Artaud im Paris der zwanziger Jahre allerdings nicht recht passen. Obwohl die wenigen Produktionen seines "Théâtre Alfred Jarry" immer zu Tumulten im Publikum führten, waren die Kritiken meist gut. Auch als Schauspieler war Artaud unter den französischen Avantgarde-Regisseuren der Zeit durchaus angesehen. Als André Breton ihn für die Surrealisten gewinnen wollte, gab er sich zurückhaltend, weil er Breton, Aragon und Soupault als "Dadaisten" empfand, sich selbst dagegen als "zu sehr Surrealist", um ihrer Gruppe beizutreten. Vor Ende des Jahres schloß er sich den Surrealisten jedoch an, schrieb für ihre Zeitschrift, deren zweite und dritte Ausgabe er auch redigierte. Mit der Neuauflage des Bandes "Surrealistische Texte" im Verlag Matthes & Seitz ist eine Auswahl der Schriften Artauds aus den Jahren 1924 bis 1928 weiterhin in deutscher Spache erhältlich.
Ein "ganz besonderer Hitzkopf" sei Artaud gewesen, berichtet der Maler André Masson, der ihn 1922 kennenlernte. Seine Manifeste hätten selbst unter den Surrealisten Unruhe hervorgerufen. "Er war kein Anarchist; pah! die Anarchisten kenne ich, sie bilden Gruppen." Angesichts von Bretons Führungsanspruch in der Gruppe schien ein Konflikt unvermeidlich. Dennoch zeugte das Verhältnis zwischen Artaud und Breton auch von gegenseitiger Anerkennung. Offenbar gab es noch einen anderen, pragmatischen Artaud. Einen, der beklagte, das Tagebuch des surrealistischen Büros werde nicht ordnungsgemäß geführt, und der vergeblich versuchte, zwischen der Literaturzeitschrift "Nouvelle Revue Française" und den Surrealisten zu vermitteln. Als er 1929 sein Jarry-Theater wiederbeleben wollte, soll der notorische Verfasser von Pamphleten erwogen haben, populäre Stücke zu spielen, um mit den Einnahmen die übrigen Produktionen zu finanzieren.
Artaud blieb nur zwei Jahre festes Mitglied der surrealistischen Gruppe; "Unvereinbarkeit der Ziele" nannte Breton als Grund für Artauds Ausschluß. Vorausgegangen waren Debatten um die Frage, was unter der surrealistischen Revolte überhaupt zu verstehen sei. Breton bekräftigte seine Auffassung durch den Beitritt zur Kommunistischen Partei. Daraufhin kommunizierte man vorerst durch Pamphlete. Breton fügte in der Broschüre "Am hellichten Tag" Attacken auf Artaud und Philippe Soupault hinzu. Artaud reagierte mit den Texten "In tiefster Nacht oder der surrealistische Bluff" und "Schlußstrich": Darin warf er Breton vor, den Surrealismus durch konkretes politisches Engagement als Revolution "rein geistiger Natur" zu verraten. Hier klang bereits an, was sich in dem Band "Das Theater und sein Double" vollends artikulierte: der emphatische Glaube, das Theater könne die Wirklichkeit verändern.
Trotz alldem blieb Artauds Verhältnis zu Breton ambivalent. Im folgenden Jahr störten die Surrealisten eine Strindberg-Inszenierung des "Théâtre Alfred Jarry". Artaud hatte Bretons Versuche, ihn zu bevormunden, stets zurückgewiesen. Dennoch trat er auf die Bühne, um sich vor den Surrealisten zu rechtfertigen. Strindberg sei ein Aufrührer gegen sein Vaterland, erklärte er, ganz wie Jarry, Lautréamont, er selbst und Breton, der im Publikum saß und die Aufführung störte. Die Inszenierung war von der schwedischen Gesandschaft in Paris finanziell unterstützt worden; nach Artauds Ansprache verließ sie entrüstet den Saal. Einige Jahre nach Artauds Tod würdigte ihn Breton schließlich als den luziden Wahnsinnigen, als der er, nicht zu Unrecht, noch heute gilt.
Was ein Versuch Bretons gewesen sein mag, Artaud nachträglich zu vereinnahmen, wiederholte letztlich nur jenes Bild, das Artaud schon in seinen frühen Schriften selbst entworfen hatte. André Masson hat noch eine andere, sehr überzeugende Erklärung für den Ursprung dieses Bildes gegeben: Artaud sei auch außerhalb des Theaters stets Schauspieler geblieben. "Sein eigenes Leiden", so Masson, "existierte zwar, aber er spielte es, er verlangte nach der Steigerung seines Leidens. Artaud drückte es so aus: Ich bin es, der Artaud spielen wird."
Bedenkt man, was Artaud später über das Theater schrieb, so verweist nicht nur seine Arbeit als Schauspieler, sondern auch sein Auftreten außerhalb des Theaters auf das Projekt der historischen Avantgarde, auf den Versuch also, die Grenze zwischen Kunst und Leben aufzuheben, statt die Kunst innerhalb des Rahmens zu verändern, der ihr in der bürgerlichen Gesellschaft gesetzt ist. Indem Artaud auch im Alltag sich selbst wie eine Rolle spielte, entgrenzte er das Theater - lange bevor er seine Theaterutopie tatsächlich niederschrieb. Auf der Straße gab er den Verrückten, seinen Spazierstock gefährlich schwingend, bereit, mögliche Verfolger abzuwehren.
Mit der Rolle des verrückten Monsieur Artaud stellte er auch jene Grenze zur Disposition, die den Wahnsinn von der Vernunft trennt. Sein Leiden war kein passives Erleiden, denn indem er es verfluchte und sich zum Verurteilten stilisierte, formte er es zu einer Rolle, über die er bis zu einem gewissen Grad verfügen konnte. Die Realität des Leidens mußte damit nicht geleugnet sein. Antonin Artaud war beides, Beobachter seiner selbst, der auf Distanz zu sich ging, und ein Schauspieler, der selbst niemals "souverän" spielte, weil er immer ein Beteiligter war. ALEXANDER KUBA
Antonin Artaud: "Surrealistische Texte". Herausgegeben und übersetzt von Bernd Mattheus. Matthes & Seitz Verlag, München 1996. 168 S., br., Abb., 42,- DM.
Antonin Artaud: "Das Theater und sein Double". Aus dem Französischen übersetzt von Gerd Henninger, ergänzt und mit einem Nachwort versehen von Bernd Mattheus. Matthes & Seitz Verlag, München 1996. 232 S., geb., 48,- DM.
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Zum hundertsten Geburtstag eines Bühnenbesessenen
Den jungen Antonin Artaud, der 1920 nach Paris kam und dort zunächst bei Lugné-Poë, dann in der Theatergruppe von Charles Dullin spielte, beschrieb Dullin als verhinderten Dandy. "Trotz seines Hemdkragens, dem immer ein Knopf fehlte und der statt dessen schlecht und recht mit einer leidlich gebundenen Krawatte zusammengehalten wurde, . . . untersagte ihm ein bestimmter Dandyismus zum Beispiel, sich mit uns vor den Planwagen zu spannen, der unsere Dekors und Kostüme von der Rue Honoré-Chevalier zur Rue des Ursulines transportierte." Verschwenderischer Lebenswandel konnte damit kaum gemeint sein. Da Artaud seine gesamte Habe in einem Koffer bei sich trug, mußten ihm Kollegen, die Aufsehen vermeiden wollten, für den Umzug in eine andere Pension einmal einen zweiten, leeren Koffer leihen. Außer der Dekadenz charakterisiert den Dandy jedoch vor allem der Wunsch nach vollkommener Ästhetisierung des Lebens. Danach strebte Artaud durchaus, wenn auch auf eine Art, die wenig mit dem Dandy bei Oscar Wilde und Huysmans gemein hat.
Antonin Artaud, der am 4. März 1948 mit nicht einmal 52 Jahren starb, wäre heute hundert Jahre alt geworden. Sein Ruf als Vordenker des modernen Theaters beruht vor allem auf dem 1938 erschienenen Essayband "Das Theater und sein Double". Zu dem oft beschworenen Bild des Gescheiterten will der Artaud im Paris der zwanziger Jahre allerdings nicht recht passen. Obwohl die wenigen Produktionen seines "Théâtre Alfred Jarry" immer zu Tumulten im Publikum führten, waren die Kritiken meist gut. Auch als Schauspieler war Artaud unter den französischen Avantgarde-Regisseuren der Zeit durchaus angesehen. Als André Breton ihn für die Surrealisten gewinnen wollte, gab er sich zurückhaltend, weil er Breton, Aragon und Soupault als "Dadaisten" empfand, sich selbst dagegen als "zu sehr Surrealist", um ihrer Gruppe beizutreten. Vor Ende des Jahres schloß er sich den Surrealisten jedoch an, schrieb für ihre Zeitschrift, deren zweite und dritte Ausgabe er auch redigierte. Mit der Neuauflage des Bandes "Surrealistische Texte" im Verlag Matthes & Seitz ist eine Auswahl der Schriften Artauds aus den Jahren 1924 bis 1928 weiterhin in deutscher Spache erhältlich.
Ein "ganz besonderer Hitzkopf" sei Artaud gewesen, berichtet der Maler André Masson, der ihn 1922 kennenlernte. Seine Manifeste hätten selbst unter den Surrealisten Unruhe hervorgerufen. "Er war kein Anarchist; pah! die Anarchisten kenne ich, sie bilden Gruppen." Angesichts von Bretons Führungsanspruch in der Gruppe schien ein Konflikt unvermeidlich. Dennoch zeugte das Verhältnis zwischen Artaud und Breton auch von gegenseitiger Anerkennung. Offenbar gab es noch einen anderen, pragmatischen Artaud. Einen, der beklagte, das Tagebuch des surrealistischen Büros werde nicht ordnungsgemäß geführt, und der vergeblich versuchte, zwischen der Literaturzeitschrift "Nouvelle Revue Française" und den Surrealisten zu vermitteln. Als er 1929 sein Jarry-Theater wiederbeleben wollte, soll der notorische Verfasser von Pamphleten erwogen haben, populäre Stücke zu spielen, um mit den Einnahmen die übrigen Produktionen zu finanzieren.
Artaud blieb nur zwei Jahre festes Mitglied der surrealistischen Gruppe; "Unvereinbarkeit der Ziele" nannte Breton als Grund für Artauds Ausschluß. Vorausgegangen waren Debatten um die Frage, was unter der surrealistischen Revolte überhaupt zu verstehen sei. Breton bekräftigte seine Auffassung durch den Beitritt zur Kommunistischen Partei. Daraufhin kommunizierte man vorerst durch Pamphlete. Breton fügte in der Broschüre "Am hellichten Tag" Attacken auf Artaud und Philippe Soupault hinzu. Artaud reagierte mit den Texten "In tiefster Nacht oder der surrealistische Bluff" und "Schlußstrich": Darin warf er Breton vor, den Surrealismus durch konkretes politisches Engagement als Revolution "rein geistiger Natur" zu verraten. Hier klang bereits an, was sich in dem Band "Das Theater und sein Double" vollends artikulierte: der emphatische Glaube, das Theater könne die Wirklichkeit verändern.
Trotz alldem blieb Artauds Verhältnis zu Breton ambivalent. Im folgenden Jahr störten die Surrealisten eine Strindberg-Inszenierung des "Théâtre Alfred Jarry". Artaud hatte Bretons Versuche, ihn zu bevormunden, stets zurückgewiesen. Dennoch trat er auf die Bühne, um sich vor den Surrealisten zu rechtfertigen. Strindberg sei ein Aufrührer gegen sein Vaterland, erklärte er, ganz wie Jarry, Lautréamont, er selbst und Breton, der im Publikum saß und die Aufführung störte. Die Inszenierung war von der schwedischen Gesandschaft in Paris finanziell unterstützt worden; nach Artauds Ansprache verließ sie entrüstet den Saal. Einige Jahre nach Artauds Tod würdigte ihn Breton schließlich als den luziden Wahnsinnigen, als der er, nicht zu Unrecht, noch heute gilt.
Was ein Versuch Bretons gewesen sein mag, Artaud nachträglich zu vereinnahmen, wiederholte letztlich nur jenes Bild, das Artaud schon in seinen frühen Schriften selbst entworfen hatte. André Masson hat noch eine andere, sehr überzeugende Erklärung für den Ursprung dieses Bildes gegeben: Artaud sei auch außerhalb des Theaters stets Schauspieler geblieben. "Sein eigenes Leiden", so Masson, "existierte zwar, aber er spielte es, er verlangte nach der Steigerung seines Leidens. Artaud drückte es so aus: Ich bin es, der Artaud spielen wird."
Bedenkt man, was Artaud später über das Theater schrieb, so verweist nicht nur seine Arbeit als Schauspieler, sondern auch sein Auftreten außerhalb des Theaters auf das Projekt der historischen Avantgarde, auf den Versuch also, die Grenze zwischen Kunst und Leben aufzuheben, statt die Kunst innerhalb des Rahmens zu verändern, der ihr in der bürgerlichen Gesellschaft gesetzt ist. Indem Artaud auch im Alltag sich selbst wie eine Rolle spielte, entgrenzte er das Theater - lange bevor er seine Theaterutopie tatsächlich niederschrieb. Auf der Straße gab er den Verrückten, seinen Spazierstock gefährlich schwingend, bereit, mögliche Verfolger abzuwehren.
Mit der Rolle des verrückten Monsieur Artaud stellte er auch jene Grenze zur Disposition, die den Wahnsinn von der Vernunft trennt. Sein Leiden war kein passives Erleiden, denn indem er es verfluchte und sich zum Verurteilten stilisierte, formte er es zu einer Rolle, über die er bis zu einem gewissen Grad verfügen konnte. Die Realität des Leidens mußte damit nicht geleugnet sein. Antonin Artaud war beides, Beobachter seiner selbst, der auf Distanz zu sich ging, und ein Schauspieler, der selbst niemals "souverän" spielte, weil er immer ein Beteiligter war. ALEXANDER KUBA
Antonin Artaud: "Surrealistische Texte". Herausgegeben und übersetzt von Bernd Mattheus. Matthes & Seitz Verlag, München 1996. 168 S., br., Abb., 42,- DM.
Antonin Artaud: "Das Theater und sein Double". Aus dem Französischen übersetzt von Gerd Henninger, ergänzt und mit einem Nachwort versehen von Bernd Mattheus. Matthes & Seitz Verlag, München 1996. 232 S., geb., 48,- DM.
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