Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 20.11.2011Ans Licht befördert
Was ein amerikanischer Arzt so alles in Hälsen fand
Ein Heiliger. Ein Zauberer. Ein Genie: Es gab kaum einen Titel, mit dem der Mediziner Chevalier Jackson zu Lebzeiten nicht bedacht worden wäre. Zu erstaunlich war, was er leistete: Mit obskuren Schläuchen und Zangenwerkzeugen befreite er die Atemwege und Speiseröhren seiner Patienten von verschluckten Gegenständen, die nicht selten lebensbedrohlich feststeckten oder umliegende Organe zu schädigen drohten. Die Überlebensrate lag bei mehr als 95 Prozent.
Das war damals tatsächlich ein kleines Wunder: Jackson praktizierte zwischen Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts, in einer Zeit also, in der ein chirurgischer Eingriff gleichbedeutend war mit einem hohen Sterberisiko. Nur wenige Ärzte trauten sich überhaupt, mittels medizinischen Geräts in die Atem- und Nahrungswege ihrer Patienten zu schauen, geschweige denn, aus diesen sensiblen Trakten eine geöffnete Sicherheitsnadel zu entfernen. Jackson tat genau das. Und wurde damit zu einem der ersten Kehlkopfspezialisten der Welt.
Chevalier Jackson wurde 1865 in Pittsburgh, Pennsylvania, geboren und wuchs in äußerst armen Verhältnissen auf. Er erwarb bereits als Kind handwerkliche Fähigkeiten und erarbeitete sich so seine Schul- und Studiengebühren. Als er 1886 sein Medizinstudium am Jefferson Medical College abschloss, wusste er bereits, dass er sich auf die Laryngologie, die Wissenschaft vom Kehlkopf und seinen Erkrankungen, spezialisieren würde. Er besuchte europäische Kliniken, um sich auf diesem Gebiet weiterzubilden, las viel und begann bald, eigene Instrumente zu erfinden. So versah er zum Beispiel das Ende eines Stabes mit einer Mignonlampe und steckte ihn in sein Endoskop - zuvor wurde mit der Lampe allenfalls von außen in den Rachen der Patienten geleuchtet. Um den richtigen Druck zu bestimmen, mit dem er Objekte anfassen konnte, übte er stundenlang mit Pinzetten an Erdnüssen. So gelang es ihm, immer mehr Menschen von dem zu befreien, was sie versehentlich verschluckt, eingeatmet oder - warum auch immer - bewusst gegessen hatten: Schrauben, Nägel, Broschen, Armbanduhren, kleine Operngläser oder die besagte Sicherheitsnadel, mit der ein kleines Mädchen seine zehn Tage alte Schwester gefüttert hatte. All das holte der als distanziert und exzentrisch geltende Arzt ohne oder nur mittels leichter Betäubung wieder ans Tageslicht. Weil er das in den allermeisten Fällen via Luft- und Speiseröhre schaffte und auf blutige Operationen verzichtete, zollte ihm die Fachwelt schnell Respekt.
Für Jackson wurde es irgendwann zur Obsession, seine Fundstücke akribisch zu archivieren. Dafür riskierte er sogar eine Schlägerei mit einem Vater, der partout den Vierteldollar wiederhaben wollte, den der Arzt gerade aus dem Hals des Sohnes geholt hatte. Jackson legte Wert darauf, dass die aus Luftröhren, Kehlköpfen, Speiseröhren, Mägen, Pleurahöhlen, Rachen und Lungengeweben gefischten Gegenstände nicht als Kuriositäten betrachtet wurden. Kombiniert mit den umfangreichen beigefügten Daten, so glaubte er, könne die Sammlung von unschätzbarem klinischem Wert für Ärzte und Chirurgen werden.
Jackson war ein Pedant. So findet sich zu jedem einst verschluckten Gegenstand eine Liste mit Fakten zu Alter und Geschlecht des Verschluckers, der Art der Entfernung des Objektes, wo genau im Oberkörper und wie lange es dort steckte, ob es Komplikationen gegeben hatte und natürlich, ob der Patient den Eingriff überlebte. Heute gehört die Sammlung, aus der wir einige Stücke auf dieser Doppelseite zeigen, dem Mütter-Museum in Philadelphia.
Immer wieder beklagte Jackson, der als Professor an sechs verschiedenen Universitäten lehrte, die Menschen würden zu schnell essen und nicht sorgfältig genug kauen. "Kaut eure Milch!", mahnte er 1938 in einem Zeitungsartikel. Er verstand sich vor allem als Anwalt der Kinder. Ihm ist es zu verdanken, dass in Amerika seit 1927 alle giftigen Substanzen mit Warnhinweisen versehen werden müssen - er hatte zu viele Kinder behandelt, die aus einer Verwechslung heraus Lauge geschluckt und sich damit die Speiseröhre verätzt hatten.
Claudia Füßler
Literatur: Mary Cappello: "Swallow", The New Press, New York 2010.
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Was ein amerikanischer Arzt so alles in Hälsen fand
Ein Heiliger. Ein Zauberer. Ein Genie: Es gab kaum einen Titel, mit dem der Mediziner Chevalier Jackson zu Lebzeiten nicht bedacht worden wäre. Zu erstaunlich war, was er leistete: Mit obskuren Schläuchen und Zangenwerkzeugen befreite er die Atemwege und Speiseröhren seiner Patienten von verschluckten Gegenständen, die nicht selten lebensbedrohlich feststeckten oder umliegende Organe zu schädigen drohten. Die Überlebensrate lag bei mehr als 95 Prozent.
Das war damals tatsächlich ein kleines Wunder: Jackson praktizierte zwischen Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts, in einer Zeit also, in der ein chirurgischer Eingriff gleichbedeutend war mit einem hohen Sterberisiko. Nur wenige Ärzte trauten sich überhaupt, mittels medizinischen Geräts in die Atem- und Nahrungswege ihrer Patienten zu schauen, geschweige denn, aus diesen sensiblen Trakten eine geöffnete Sicherheitsnadel zu entfernen. Jackson tat genau das. Und wurde damit zu einem der ersten Kehlkopfspezialisten der Welt.
Chevalier Jackson wurde 1865 in Pittsburgh, Pennsylvania, geboren und wuchs in äußerst armen Verhältnissen auf. Er erwarb bereits als Kind handwerkliche Fähigkeiten und erarbeitete sich so seine Schul- und Studiengebühren. Als er 1886 sein Medizinstudium am Jefferson Medical College abschloss, wusste er bereits, dass er sich auf die Laryngologie, die Wissenschaft vom Kehlkopf und seinen Erkrankungen, spezialisieren würde. Er besuchte europäische Kliniken, um sich auf diesem Gebiet weiterzubilden, las viel und begann bald, eigene Instrumente zu erfinden. So versah er zum Beispiel das Ende eines Stabes mit einer Mignonlampe und steckte ihn in sein Endoskop - zuvor wurde mit der Lampe allenfalls von außen in den Rachen der Patienten geleuchtet. Um den richtigen Druck zu bestimmen, mit dem er Objekte anfassen konnte, übte er stundenlang mit Pinzetten an Erdnüssen. So gelang es ihm, immer mehr Menschen von dem zu befreien, was sie versehentlich verschluckt, eingeatmet oder - warum auch immer - bewusst gegessen hatten: Schrauben, Nägel, Broschen, Armbanduhren, kleine Operngläser oder die besagte Sicherheitsnadel, mit der ein kleines Mädchen seine zehn Tage alte Schwester gefüttert hatte. All das holte der als distanziert und exzentrisch geltende Arzt ohne oder nur mittels leichter Betäubung wieder ans Tageslicht. Weil er das in den allermeisten Fällen via Luft- und Speiseröhre schaffte und auf blutige Operationen verzichtete, zollte ihm die Fachwelt schnell Respekt.
Für Jackson wurde es irgendwann zur Obsession, seine Fundstücke akribisch zu archivieren. Dafür riskierte er sogar eine Schlägerei mit einem Vater, der partout den Vierteldollar wiederhaben wollte, den der Arzt gerade aus dem Hals des Sohnes geholt hatte. Jackson legte Wert darauf, dass die aus Luftröhren, Kehlköpfen, Speiseröhren, Mägen, Pleurahöhlen, Rachen und Lungengeweben gefischten Gegenstände nicht als Kuriositäten betrachtet wurden. Kombiniert mit den umfangreichen beigefügten Daten, so glaubte er, könne die Sammlung von unschätzbarem klinischem Wert für Ärzte und Chirurgen werden.
Jackson war ein Pedant. So findet sich zu jedem einst verschluckten Gegenstand eine Liste mit Fakten zu Alter und Geschlecht des Verschluckers, der Art der Entfernung des Objektes, wo genau im Oberkörper und wie lange es dort steckte, ob es Komplikationen gegeben hatte und natürlich, ob der Patient den Eingriff überlebte. Heute gehört die Sammlung, aus der wir einige Stücke auf dieser Doppelseite zeigen, dem Mütter-Museum in Philadelphia.
Immer wieder beklagte Jackson, der als Professor an sechs verschiedenen Universitäten lehrte, die Menschen würden zu schnell essen und nicht sorgfältig genug kauen. "Kaut eure Milch!", mahnte er 1938 in einem Zeitungsartikel. Er verstand sich vor allem als Anwalt der Kinder. Ihm ist es zu verdanken, dass in Amerika seit 1927 alle giftigen Substanzen mit Warnhinweisen versehen werden müssen - er hatte zu viele Kinder behandelt, die aus einer Verwechslung heraus Lauge geschluckt und sich damit die Speiseröhre verätzt hatten.
Claudia Füßler
Literatur: Mary Cappello: "Swallow", The New Press, New York 2010.
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