Produktdetails
- Verlag: Penguin Books
- ISBN-13: 9780140148848
- Artikelnr.: 25186412
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 26.10.2009Die fabelhafte Welt
Endlich auf Deutsch: „Sweet Soul Music” von Peter Guralnick
Wenn es um Gagen, Frauen oder das Kartenspiel ging, schenkten sie sich nichts. Und doch ließen die großen Soulsänger bisweilen alle Rivalitäten fallen und kämpften für ein gemeinsames Anliegen. Etwa als sich Solomon Burke, Sam Cooke, Joe Tex, Jerry Butler und Bobby Blue Bland Mitte der sechziger Jahre als erste schwarze Gäste in ein bekanntes Hotel in Norfolk, Virginia, einquartierten: Sie hatten sich selbst vorsorglich Doktortitel verliehen, Zimmer für Dr. Burke, Dr. Cooke, Dr. Butler und Dr. Bland reserviert. „Ich sprang raus”, erzählt Solomon Burke, „ging rein und sagte: ,Die Limousinen mit all den Doktoren sind da‘. Der Mann an der Rezeption sagte: ‚Fein, kein Problem. Helft ihr Jungs ihnen beim Tragen?‘ Als sie aber herausfanden, wer wir waren, da hätten sie uns am liebsten umgebracht. Sie riefen die Polizei. Der Hotelmanager sagte, dass er kein einziges Zimmer mehr an andere Gäste vermieten könnte, weil ja jetzt Schwarze im Hotel wohnten. Dass wir dann doch blieben, muss die Stadt Norfolk an die 30 000 Dollar gekostet haben, denn die Polizei musste zwei Tage lang das gesamte Hotel bewachen.”
Dass Soul mehr bedeutete als gefühlsduselige Liebesgesänge, das hatte etwa Sam Cookes „A Change Is Gonna Come” schon ahnen lassen. Glaubt man allerdings dem weißen Musikjournalisten und Buchautor Peter Guralnick, ist die politische Sprengkraft dieser Musik schon von Anfang an eingeschrieben – nicht nur wegen des aus dem Gospel abgeleiteten Sendungsbewusstseins. Sondern vor allem, weil sie auf der damals völlig unwahrscheinlichen Zusammenarbeit schwarzer und weißer Musiker gründete. Amerika ohne die gesellschaftliche Utopie des Soul? Das müsste man sich wie einen Winter ohne Aussicht auf den Frühling vorstellen.
Guralnicks Buch „Sweet Soul Music” – es wurde erstmals 1986 in Amerika veröffentlicht – vermittelt ein Verständnis des Soul, das weit über die Privatmythologien von Plattensammlern hinausgeht und dennoch der Magie der Musik gerecht wird. Eine Generation von Soulfans ist über diesem Buch getauft worden – unter anderem der Autor selbst, der beeindruckt von Guralnicks schillernder Chronik vor gut zwei Jahrzehnten spontan nach Memphis flog, um dort von Soulveteranen wie Rufus Thomas, Ann Peebles und Willie Mitchell mit Anekdoten gefüttert zu werden, in den Trümmern der Stax-Studios herumzustreunen und sich von Reverend Al Green die Hand auflegen zu lassen. Unglaublich! Die fabelhafte Welt, die Guralnick in seinem Buch beschrieben hatte, sie existierte wirklich. Und die Geschichten, die halbvergessene, als Taxifahrer, Kindergärtner oder Kirchenchorleiter überlebende Legenden so bereitwillig erzählten: Sie fanden in „Sweet Soul Music” einen politischen Rahmen, um dem Mosaik nur noch ein paar neue, glitzernde Steinchen hinzuzufügen.
Bei der Erstveröffentlichung des Buches Mitte der achtziger Jahre schien der Southern Soul weitgehend obsolet gewordene Begleitmusik zu Rassismus und Bürgerrechtsbewegung. „Sie war”, schreibt Guralnick im Vorwort, „die bittere Frucht der Segregation, die (wie es die afroamerikanische Kultur mit vielen Dingen großzügig tat) in einen Ausdruck von Wärme und Zustimmung verwandelt worden war”. Aufregung, Gefahr und stolze Selbstfindung: Sie geben in den sechziger Jahren das Fluidum für Songs wie „Respect”, „Love Man” oder „I’ll Take You There”, Mantras des Gospel-genährten Glaubens, dass die Liebe, der rassenübergreifende Humanismus sich als stärker erweist als alle gesellschaftliche Paranoia. Gibt es heute – unter veränderten Vorzeichen – nicht eine ganz ähnliche Gefühlsgemengelage in Amerika? Womöglich verdankt sich die deutsche Übersetzung von „Sweet Soul Music” nicht nur der Renaissance der warmen Southern-Soul-Klänge in der Popmusik – sondern auch der Virulenz von Guralnicks Beobachtungen nach dem Amtsantritt des ersten schwarzen Präsidenten der Vereinigten Staaten.
Was ist Soul überhaupt? Von Anfang an gibt sich der Autor als Suchender zu erkennen. Bereitwillig gesteht er eigene Vorurteile ein, revidiert Verklärungen der Musik als Revolutions-Soundtrack. und beschränkt sich auf wenige, dafür tiefenscharf beleuchtete Szenerien: Etwa wie Ray Charles und Sam Cooke den Ketzer-Rufen von den Baptisten-Kanzeln zum Trotz aus Gospelelementen die ersten Soulsongs formen. Wie James Brown vom Schuhputzer zum Soulbrother Number One aufsteigt. Und mit welchen Charisma Typen wie Otis Redding, Wilson Pickett, Solomon Burke einen Musikstil formen, der noch keine Vorbilder kennt. Eine besondere Rolle spielt in diesem Zusammenhang Stax Records, wo weiße und schwarze Jugendliche aus der Nachbarschaft in einem notdürftig umgebauten Kino zusammen jammen. Die Fließband-Produktion von Motown in Detroit dagegen lässt Guralnick bewusst außen vor. Zu formelhaft, zu abgeklärt. Wie viel reizvoller erscheint das Spiel der Zufälle zwischen weißen Country-Gitarristen und schwarzen Gospelsängern im Südstaaten-Soul? Eine Musikform, „bei der es passieren konnte, dass die Instrumente verstimmt waren, der Schlagzeuger aus dem Takt kam, der Sänger den Ton nicht traf, und dennoch konnte die Message rüberkommen – denn das Feeling war alles”.
Viel Raum schenkt Guralnick der von ihm vormals als „Blasphemie” empfundenen Erkenntnis, dass weiße Hipster und Produzenten wie Steve Cropper, Chips Moman, Rick Hall oder Donnie Fritts den Soul wesentlich formten. Den Songwriter Dan Penn bezeichnet er gar als „heimlichen Helden meines Buches”: ein bleichgesichtiger Kleinstadt-Junge, der ohne jemals Bobby Blue Bland oder Otis Redding live gesehen zu haben, deren Aura tief inhaliert und sich als Live-Act namens „Bobby Blue Penn” stilisiert. Guralnick hat solche Anekdoten vor Ort aus gut 100 Interviews gewonnen. Die Schwierigkeit, die oft widersprüchlichen Erinnerungen zu einer schlüssigen Erzählung zu formen, verschweigt der Autor nicht. Aber genau dieser Pragmatismus macht sein Buch so sympathisch. Uneitel präsentiert der Autor seine Figuren. Er verschwindet beinahe hinter ihnen. Nur ganz gelegentlich kommentiert er Beziehungsmuster oder Wahrscheinlichkeiten.
Meistens gibt Guralnick nur den geschickten Conferencier und montiert die Aussagen seiner Gesprächspartner zu einer funkelnden, am Rande des Märchenhaften schrammenden Oral History. Viele Stereotypen fallen bei der Lektüre von selbst: Southern Soul war nicht als schwarze Seelenoffenbarung in Otis Reddings Kehle gefahren, sondern hatte sich als uneheliches Kind von Gospel und Country eine Identität gesucht. Firmen wie Atlantic Records sprangen vor allem deshalb auf den Zug auf, weil sich weiße Hörer in der Soulmusik wiederfinden konnten. Schließlich galten jedoch auch hier unerbittliche Vermarktungsgesetze: O.V. Wright oder James Carr „konnten zwar jede Kirche zum Einsturz bringen” – und blieben doch als „allzu dunkle” Persönlichkeiten weitgehend im Schatten des Popmarktes.
Am intensivsten liest sich „Sweet Soul Music” in den Momenten, in denen Soul die Welt größer und reicher erscheinen lässt und sich über alle Kategorien von heilig und unheilig, schwarz und weiß, Sakrament und Sex hinwegsetzt: Da bringt Bischof Solomon Burke mit seiner Band in einer surrealen Szene einige tausend kapuzentragende Ku-Klux-Klan-Mitglieder zum Tanzen, verkauft persönlich Popcorn bei seinen Auftritten und laviert schlitzohrig zwischen Gottesfürchtigkeit und Genusssucht: „Nach einer Abendvorstellung fuhren wir am Morgen in die nächste Stadt und ich hielt Ausschau nach Hunden. Gut genährte Hunde sind immer ein gutes Zeichen. Dann kamen die älteren Damen mit Plätzchen und frisch gebackenen Torten raus. Brathähnchen, Grillrippchen, Schinkenhaxen, Kohl – Mann es war einfach fantastisch. Manchmal fragte eine dieser älteren Damen: ‚Bischof, könnten Sie wohl meine Enkeltochter zum Highway fahren? Machen Sie sich keine Sorgen, zurück findet sie schon allein‘. Sobald wir im Auto saßen und ihre Großmutter hinter uns gelassen hatten, zog die auch schon ihr Kleid hoch.” Milieu-Studien, die manche Songs in einem neuen Licht erscheinen lassen. Und unbedingt eine Aufstockung der eigenen Soulsammlung verlangen. Wie hatte Elvis Costello geraten? „Kaufen Sie dieses Buch. Es wird ihnen wie ein Schnäppchen erscheinen, im Vergleich zu all den Platten, die Sie nach der Lektüre kaufen müssen.” JONATHAN FISCHER
PETER GURALNICK: Sweet Soul Music. Aus dem Englischen von Harriet Fricke. Bosworth Music, Berlin 2008. 541 Seiten, 24,95 Euro.
Eine Generation von Soulfans ist über diesem Buch getauft worden
Der Soulsänger Solomon Burke 1969 in New York Foto: Michael Ochs / Getty
SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.sz-content.de
Endlich auf Deutsch: „Sweet Soul Music” von Peter Guralnick
Wenn es um Gagen, Frauen oder das Kartenspiel ging, schenkten sie sich nichts. Und doch ließen die großen Soulsänger bisweilen alle Rivalitäten fallen und kämpften für ein gemeinsames Anliegen. Etwa als sich Solomon Burke, Sam Cooke, Joe Tex, Jerry Butler und Bobby Blue Bland Mitte der sechziger Jahre als erste schwarze Gäste in ein bekanntes Hotel in Norfolk, Virginia, einquartierten: Sie hatten sich selbst vorsorglich Doktortitel verliehen, Zimmer für Dr. Burke, Dr. Cooke, Dr. Butler und Dr. Bland reserviert. „Ich sprang raus”, erzählt Solomon Burke, „ging rein und sagte: ,Die Limousinen mit all den Doktoren sind da‘. Der Mann an der Rezeption sagte: ‚Fein, kein Problem. Helft ihr Jungs ihnen beim Tragen?‘ Als sie aber herausfanden, wer wir waren, da hätten sie uns am liebsten umgebracht. Sie riefen die Polizei. Der Hotelmanager sagte, dass er kein einziges Zimmer mehr an andere Gäste vermieten könnte, weil ja jetzt Schwarze im Hotel wohnten. Dass wir dann doch blieben, muss die Stadt Norfolk an die 30 000 Dollar gekostet haben, denn die Polizei musste zwei Tage lang das gesamte Hotel bewachen.”
Dass Soul mehr bedeutete als gefühlsduselige Liebesgesänge, das hatte etwa Sam Cookes „A Change Is Gonna Come” schon ahnen lassen. Glaubt man allerdings dem weißen Musikjournalisten und Buchautor Peter Guralnick, ist die politische Sprengkraft dieser Musik schon von Anfang an eingeschrieben – nicht nur wegen des aus dem Gospel abgeleiteten Sendungsbewusstseins. Sondern vor allem, weil sie auf der damals völlig unwahrscheinlichen Zusammenarbeit schwarzer und weißer Musiker gründete. Amerika ohne die gesellschaftliche Utopie des Soul? Das müsste man sich wie einen Winter ohne Aussicht auf den Frühling vorstellen.
Guralnicks Buch „Sweet Soul Music” – es wurde erstmals 1986 in Amerika veröffentlicht – vermittelt ein Verständnis des Soul, das weit über die Privatmythologien von Plattensammlern hinausgeht und dennoch der Magie der Musik gerecht wird. Eine Generation von Soulfans ist über diesem Buch getauft worden – unter anderem der Autor selbst, der beeindruckt von Guralnicks schillernder Chronik vor gut zwei Jahrzehnten spontan nach Memphis flog, um dort von Soulveteranen wie Rufus Thomas, Ann Peebles und Willie Mitchell mit Anekdoten gefüttert zu werden, in den Trümmern der Stax-Studios herumzustreunen und sich von Reverend Al Green die Hand auflegen zu lassen. Unglaublich! Die fabelhafte Welt, die Guralnick in seinem Buch beschrieben hatte, sie existierte wirklich. Und die Geschichten, die halbvergessene, als Taxifahrer, Kindergärtner oder Kirchenchorleiter überlebende Legenden so bereitwillig erzählten: Sie fanden in „Sweet Soul Music” einen politischen Rahmen, um dem Mosaik nur noch ein paar neue, glitzernde Steinchen hinzuzufügen.
Bei der Erstveröffentlichung des Buches Mitte der achtziger Jahre schien der Southern Soul weitgehend obsolet gewordene Begleitmusik zu Rassismus und Bürgerrechtsbewegung. „Sie war”, schreibt Guralnick im Vorwort, „die bittere Frucht der Segregation, die (wie es die afroamerikanische Kultur mit vielen Dingen großzügig tat) in einen Ausdruck von Wärme und Zustimmung verwandelt worden war”. Aufregung, Gefahr und stolze Selbstfindung: Sie geben in den sechziger Jahren das Fluidum für Songs wie „Respect”, „Love Man” oder „I’ll Take You There”, Mantras des Gospel-genährten Glaubens, dass die Liebe, der rassenübergreifende Humanismus sich als stärker erweist als alle gesellschaftliche Paranoia. Gibt es heute – unter veränderten Vorzeichen – nicht eine ganz ähnliche Gefühlsgemengelage in Amerika? Womöglich verdankt sich die deutsche Übersetzung von „Sweet Soul Music” nicht nur der Renaissance der warmen Southern-Soul-Klänge in der Popmusik – sondern auch der Virulenz von Guralnicks Beobachtungen nach dem Amtsantritt des ersten schwarzen Präsidenten der Vereinigten Staaten.
Was ist Soul überhaupt? Von Anfang an gibt sich der Autor als Suchender zu erkennen. Bereitwillig gesteht er eigene Vorurteile ein, revidiert Verklärungen der Musik als Revolutions-Soundtrack. und beschränkt sich auf wenige, dafür tiefenscharf beleuchtete Szenerien: Etwa wie Ray Charles und Sam Cooke den Ketzer-Rufen von den Baptisten-Kanzeln zum Trotz aus Gospelelementen die ersten Soulsongs formen. Wie James Brown vom Schuhputzer zum Soulbrother Number One aufsteigt. Und mit welchen Charisma Typen wie Otis Redding, Wilson Pickett, Solomon Burke einen Musikstil formen, der noch keine Vorbilder kennt. Eine besondere Rolle spielt in diesem Zusammenhang Stax Records, wo weiße und schwarze Jugendliche aus der Nachbarschaft in einem notdürftig umgebauten Kino zusammen jammen. Die Fließband-Produktion von Motown in Detroit dagegen lässt Guralnick bewusst außen vor. Zu formelhaft, zu abgeklärt. Wie viel reizvoller erscheint das Spiel der Zufälle zwischen weißen Country-Gitarristen und schwarzen Gospelsängern im Südstaaten-Soul? Eine Musikform, „bei der es passieren konnte, dass die Instrumente verstimmt waren, der Schlagzeuger aus dem Takt kam, der Sänger den Ton nicht traf, und dennoch konnte die Message rüberkommen – denn das Feeling war alles”.
Viel Raum schenkt Guralnick der von ihm vormals als „Blasphemie” empfundenen Erkenntnis, dass weiße Hipster und Produzenten wie Steve Cropper, Chips Moman, Rick Hall oder Donnie Fritts den Soul wesentlich formten. Den Songwriter Dan Penn bezeichnet er gar als „heimlichen Helden meines Buches”: ein bleichgesichtiger Kleinstadt-Junge, der ohne jemals Bobby Blue Bland oder Otis Redding live gesehen zu haben, deren Aura tief inhaliert und sich als Live-Act namens „Bobby Blue Penn” stilisiert. Guralnick hat solche Anekdoten vor Ort aus gut 100 Interviews gewonnen. Die Schwierigkeit, die oft widersprüchlichen Erinnerungen zu einer schlüssigen Erzählung zu formen, verschweigt der Autor nicht. Aber genau dieser Pragmatismus macht sein Buch so sympathisch. Uneitel präsentiert der Autor seine Figuren. Er verschwindet beinahe hinter ihnen. Nur ganz gelegentlich kommentiert er Beziehungsmuster oder Wahrscheinlichkeiten.
Meistens gibt Guralnick nur den geschickten Conferencier und montiert die Aussagen seiner Gesprächspartner zu einer funkelnden, am Rande des Märchenhaften schrammenden Oral History. Viele Stereotypen fallen bei der Lektüre von selbst: Southern Soul war nicht als schwarze Seelenoffenbarung in Otis Reddings Kehle gefahren, sondern hatte sich als uneheliches Kind von Gospel und Country eine Identität gesucht. Firmen wie Atlantic Records sprangen vor allem deshalb auf den Zug auf, weil sich weiße Hörer in der Soulmusik wiederfinden konnten. Schließlich galten jedoch auch hier unerbittliche Vermarktungsgesetze: O.V. Wright oder James Carr „konnten zwar jede Kirche zum Einsturz bringen” – und blieben doch als „allzu dunkle” Persönlichkeiten weitgehend im Schatten des Popmarktes.
Am intensivsten liest sich „Sweet Soul Music” in den Momenten, in denen Soul die Welt größer und reicher erscheinen lässt und sich über alle Kategorien von heilig und unheilig, schwarz und weiß, Sakrament und Sex hinwegsetzt: Da bringt Bischof Solomon Burke mit seiner Band in einer surrealen Szene einige tausend kapuzentragende Ku-Klux-Klan-Mitglieder zum Tanzen, verkauft persönlich Popcorn bei seinen Auftritten und laviert schlitzohrig zwischen Gottesfürchtigkeit und Genusssucht: „Nach einer Abendvorstellung fuhren wir am Morgen in die nächste Stadt und ich hielt Ausschau nach Hunden. Gut genährte Hunde sind immer ein gutes Zeichen. Dann kamen die älteren Damen mit Plätzchen und frisch gebackenen Torten raus. Brathähnchen, Grillrippchen, Schinkenhaxen, Kohl – Mann es war einfach fantastisch. Manchmal fragte eine dieser älteren Damen: ‚Bischof, könnten Sie wohl meine Enkeltochter zum Highway fahren? Machen Sie sich keine Sorgen, zurück findet sie schon allein‘. Sobald wir im Auto saßen und ihre Großmutter hinter uns gelassen hatten, zog die auch schon ihr Kleid hoch.” Milieu-Studien, die manche Songs in einem neuen Licht erscheinen lassen. Und unbedingt eine Aufstockung der eigenen Soulsammlung verlangen. Wie hatte Elvis Costello geraten? „Kaufen Sie dieses Buch. Es wird ihnen wie ein Schnäppchen erscheinen, im Vergleich zu all den Platten, die Sie nach der Lektüre kaufen müssen.” JONATHAN FISCHER
PETER GURALNICK: Sweet Soul Music. Aus dem Englischen von Harriet Fricke. Bosworth Music, Berlin 2008. 541 Seiten, 24,95 Euro.
Eine Generation von Soulfans ist über diesem Buch getauft worden
Der Soulsänger Solomon Burke 1969 in New York Foto: Michael Ochs / Getty
SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.sz-content.de
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 27.11.2009Hinweg mit den letzten Spuren von Demut
Die Musik, die ausdem Süden kam: Peter Guralnicks große Studie "Sweet Soul Music" liegt endlich auf Deutsch vor.
Von Edo Reents
Ein Buch über Soul schreiben und Motown dabei links liegenlassen, das ist wie ein Buch über die Weimarer Klassik ohne Schiller: nur die Hälfte wert oder ganz unmöglich? Peter Guralnick hatte aber gute Gründe dafür, denn "Soul" bedeutete für ihn immer die Musik, die im amerikanischen Süden entstand, nicht die erheblich kommerziellere, die in Detroit unter der Aufsicht Berry Gordys quasi am Fließband gefertigt wurde. Also statt der blankgewienerten Hochglanzprodukte jener druckvoll-kompakte, zuweilen balladenhaft lastender und unbedingt ländliche, erdige Sound, der dann aber auch die Welt eroberte und die Beatles 1967, als die nach den beiden Labels benannte Stax-Volt-Tournee in England Station machte, dazu veranlasste, einen Chauffeur zum Flughafen zu schicken, weil nun die aufregendste Popmusik über Europa niederging.
Motown oder Südstaaten: Das war statt Marvin Gaye Otis Redding, statt der Supremes Booker T. & The MGs, statt Stevie Wonder James Brown und statt Holland-Dozier-Holland Songschreiber wie Dan Penn, Chips Moman, Spooner Oldham und Bobby Womack. Man darf sich von den Namen, von denen Guralnick eine unglaubliche Zahl ins Spiel bringt, nicht verrückt machen lassen und muss sich durch dieses Gestrüpp durchkämpfen. Es lohnt sich: Peter Guralnicks "Sweet Soul Music", 1986 erstmals in englischer und nun endlich in deutscher Sprache erschienen, ist die bis heute lesenswerteste, informativste und ganz einfach beste Darstellung dieser Musik. Von einer "Bibel" zu sprechen wäre eine beleidigende Untertreibung.
Der erfahrene Pop-Chronist geht auf zwei Ebenen vor, der musikalischen und der gesellschaftlichen. Auf der Grundlage von mehr als einhundert Interviews, die er nach 1980 mit den direkt oder indirekt Beteiligten geführt hat, schreibt er ein gewichtiges, hierzulande immer noch relativ unbekanntes Kapitel amerikanischer Unterhaltungsgeschichte, das, wie übrigens auch der Motown-Soul, seine Kernzeit zwischen 1960 und 1970 hatte.
Man kommt um einige weitere Namen nicht herum. Die einflussreichsten Strippenzieher waren Jerry Wexler, Vizepräsident der in New York beheimateten Atlantic Records; dessen Gegenspieler Jim Stewart, der mit seiner Schwester in Memphis die Plattenfirma Stax gründete; Rick Hall, der in Muscle Shoals, Alabama, die Fame-Studios einrichtete, in denen wohl der beste, rustikal-kraftvollste Südstaaten-Soul eingespielt wurde und die vor einigen Jahren geschlossen wurden (F.A.Z. vom 25. Februar 2005); und schließlich der Songschreiber Dan Penn, der öfters dazu angehalten wurde, als Vorsänger den eigentlichen Interpreten Beine zu machen und den Guralnick als seinen heimlichen Helden bezeichnet.
Alle diese Leute waren oder sind weiß, und hier fängt die Sache an, über das rein Musikalische hinaus interessant zu werden. Guralnick fasst den Soul als Frucht einer Partnerschaft zwischen fast ausschließlich schwarzen Interpreten und überwiegend weißen Studiomusikern, Toningenieuren und Produzenten. Dass es dazu kam, ist erstaunlich genug und ging auch oft gut; aber nicht immer: In all der Komik bleibt es beklemmend, wie der nicht nur mit einer sagenhaften Stimme, sondern auch mit einem fast noch bemerkenswerteren Geschäftssinn ausgestattete Solomon Burke von einem Auftritt vor einem Publikum erzählt, das fast nur aus Ku-Klux-Klan-Leuten bestand.
Aber so war es nun einmal, und Guralnick beschönigt wenig. Soul, der, sehr allgemein gesprochen, das Mischungsergebnis aus Gospel und Rhythm & Blues war und in seiner südstaatlichen Spielart noch einen ordentlichen Schuss Country hatte (der bei Motown indiskutabel war) - Soul war, wie Guralnick einleitend festhält, "die bittere Frucht der Segregation, die (wie es die afroamerikanische Kultur mit vielen Dingen großzügig tat) in einen Ausdruck von Wärme und Zustimmung verwandelt worden war". Andererseits gab es Wilson Pickett, diesen schwarzen Panther, dessen persönliche Unverträglichkeiten Jerry Wexler mindestens ein Magengeschwür bereitet haben müssen und dessen Militanz auch in seinem Stil zum Ausdruck kam, denn er hat, wie ein Kritiker später schrieb, "dem Soul die letzten Spuren von Onkel-Tom-Freundlichkeit und Demut genommen, hat ihn gewissermaßen zerrockt".
Es gäbe viel zu erzählen über diese wunderbare Musik und über die, die sie machten: Leute, die, was heute undenkbar wäre, oft genug eine Mischung waren aus Hinterwäldler und Hipster. Dass aber noch in den künstlerisch geglücktesten Konstellationen rassischer Sprengstoff steckte, wird anhand einer Aufnahme deutlich, die den kaum zu bezweifelnden Höhepunkt nicht nur des Südstaaten-Soul bildete: Aretha Franklins Gastspiel in Muscle Shoals, bei dem sie nur zwei Songs aufnahm, darunter "I Never Loved a Man (The Way I Love You)", schwer und tief atmende, subtile und leidende Musik. Jerry Wexler, der zu Recht alle Hoffnungen in diese Sängerin gesetzt hatte, beschwerte sich bei Rick Hall, dass nur weiße Musiker sie begleiteten, es kam zu bedauernswerten Beschimpfungen, und so folgte auf diese Sternstunde Katerstimmung. Aber nicht davor und nicht danach wurde ein solches Lied aufgenommen. Der Soul war, für kurze Zeit, on top.
Peter Guralnick: "Sweet Soul Music". Aus dem Englischen von Harriet Fricke. Verlag Bosworth Music, Berlin 2009. 540 S., br., 24,95 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Die Musik, die ausdem Süden kam: Peter Guralnicks große Studie "Sweet Soul Music" liegt endlich auf Deutsch vor.
Von Edo Reents
Ein Buch über Soul schreiben und Motown dabei links liegenlassen, das ist wie ein Buch über die Weimarer Klassik ohne Schiller: nur die Hälfte wert oder ganz unmöglich? Peter Guralnick hatte aber gute Gründe dafür, denn "Soul" bedeutete für ihn immer die Musik, die im amerikanischen Süden entstand, nicht die erheblich kommerziellere, die in Detroit unter der Aufsicht Berry Gordys quasi am Fließband gefertigt wurde. Also statt der blankgewienerten Hochglanzprodukte jener druckvoll-kompakte, zuweilen balladenhaft lastender und unbedingt ländliche, erdige Sound, der dann aber auch die Welt eroberte und die Beatles 1967, als die nach den beiden Labels benannte Stax-Volt-Tournee in England Station machte, dazu veranlasste, einen Chauffeur zum Flughafen zu schicken, weil nun die aufregendste Popmusik über Europa niederging.
Motown oder Südstaaten: Das war statt Marvin Gaye Otis Redding, statt der Supremes Booker T. & The MGs, statt Stevie Wonder James Brown und statt Holland-Dozier-Holland Songschreiber wie Dan Penn, Chips Moman, Spooner Oldham und Bobby Womack. Man darf sich von den Namen, von denen Guralnick eine unglaubliche Zahl ins Spiel bringt, nicht verrückt machen lassen und muss sich durch dieses Gestrüpp durchkämpfen. Es lohnt sich: Peter Guralnicks "Sweet Soul Music", 1986 erstmals in englischer und nun endlich in deutscher Sprache erschienen, ist die bis heute lesenswerteste, informativste und ganz einfach beste Darstellung dieser Musik. Von einer "Bibel" zu sprechen wäre eine beleidigende Untertreibung.
Der erfahrene Pop-Chronist geht auf zwei Ebenen vor, der musikalischen und der gesellschaftlichen. Auf der Grundlage von mehr als einhundert Interviews, die er nach 1980 mit den direkt oder indirekt Beteiligten geführt hat, schreibt er ein gewichtiges, hierzulande immer noch relativ unbekanntes Kapitel amerikanischer Unterhaltungsgeschichte, das, wie übrigens auch der Motown-Soul, seine Kernzeit zwischen 1960 und 1970 hatte.
Man kommt um einige weitere Namen nicht herum. Die einflussreichsten Strippenzieher waren Jerry Wexler, Vizepräsident der in New York beheimateten Atlantic Records; dessen Gegenspieler Jim Stewart, der mit seiner Schwester in Memphis die Plattenfirma Stax gründete; Rick Hall, der in Muscle Shoals, Alabama, die Fame-Studios einrichtete, in denen wohl der beste, rustikal-kraftvollste Südstaaten-Soul eingespielt wurde und die vor einigen Jahren geschlossen wurden (F.A.Z. vom 25. Februar 2005); und schließlich der Songschreiber Dan Penn, der öfters dazu angehalten wurde, als Vorsänger den eigentlichen Interpreten Beine zu machen und den Guralnick als seinen heimlichen Helden bezeichnet.
Alle diese Leute waren oder sind weiß, und hier fängt die Sache an, über das rein Musikalische hinaus interessant zu werden. Guralnick fasst den Soul als Frucht einer Partnerschaft zwischen fast ausschließlich schwarzen Interpreten und überwiegend weißen Studiomusikern, Toningenieuren und Produzenten. Dass es dazu kam, ist erstaunlich genug und ging auch oft gut; aber nicht immer: In all der Komik bleibt es beklemmend, wie der nicht nur mit einer sagenhaften Stimme, sondern auch mit einem fast noch bemerkenswerteren Geschäftssinn ausgestattete Solomon Burke von einem Auftritt vor einem Publikum erzählt, das fast nur aus Ku-Klux-Klan-Leuten bestand.
Aber so war es nun einmal, und Guralnick beschönigt wenig. Soul, der, sehr allgemein gesprochen, das Mischungsergebnis aus Gospel und Rhythm & Blues war und in seiner südstaatlichen Spielart noch einen ordentlichen Schuss Country hatte (der bei Motown indiskutabel war) - Soul war, wie Guralnick einleitend festhält, "die bittere Frucht der Segregation, die (wie es die afroamerikanische Kultur mit vielen Dingen großzügig tat) in einen Ausdruck von Wärme und Zustimmung verwandelt worden war". Andererseits gab es Wilson Pickett, diesen schwarzen Panther, dessen persönliche Unverträglichkeiten Jerry Wexler mindestens ein Magengeschwür bereitet haben müssen und dessen Militanz auch in seinem Stil zum Ausdruck kam, denn er hat, wie ein Kritiker später schrieb, "dem Soul die letzten Spuren von Onkel-Tom-Freundlichkeit und Demut genommen, hat ihn gewissermaßen zerrockt".
Es gäbe viel zu erzählen über diese wunderbare Musik und über die, die sie machten: Leute, die, was heute undenkbar wäre, oft genug eine Mischung waren aus Hinterwäldler und Hipster. Dass aber noch in den künstlerisch geglücktesten Konstellationen rassischer Sprengstoff steckte, wird anhand einer Aufnahme deutlich, die den kaum zu bezweifelnden Höhepunkt nicht nur des Südstaaten-Soul bildete: Aretha Franklins Gastspiel in Muscle Shoals, bei dem sie nur zwei Songs aufnahm, darunter "I Never Loved a Man (The Way I Love You)", schwer und tief atmende, subtile und leidende Musik. Jerry Wexler, der zu Recht alle Hoffnungen in diese Sängerin gesetzt hatte, beschwerte sich bei Rick Hall, dass nur weiße Musiker sie begleiteten, es kam zu bedauernswerten Beschimpfungen, und so folgte auf diese Sternstunde Katerstimmung. Aber nicht davor und nicht danach wurde ein solches Lied aufgenommen. Der Soul war, für kurze Zeit, on top.
Peter Guralnick: "Sweet Soul Music". Aus dem Englischen von Harriet Fricke. Verlag Bosworth Music, Berlin 2009. 540 S., br., 24,95 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main