Lyonel und Julia: Von der Kunst, zu lieben. Eine schicksalshafte Liebesgeschichte, erzählt in größtenteils nie veröffentlichten Briefen. Zugleich ein Zeugnis vom Arbeiten und Leben des großen Malers.Im Juli 1905 treffen Lyonel Feininger und Julia Berg im Zug Richtung Ostsee jeweils die Liebe ihres Lebens. Beide sind verheiratet, doch schnell ist ihnen klar, dass sie einen gemeinsamen Neuanfang wagen wollen. Bestärkt durch Julia, willFeininger zu einer neuen Malkunst finden. Davon schreibt er ihr in zahlreichen Briefen. Neben einem feinsinnigen Menschen, fortschrittlichen Vater, liebenden Ehemann und zweifelnden Künstler scheint darin auch die Frau und Künstlerin Julia Berg, seit 1907 Feininger, auf, die ihre Briefe für die Nachwelt sperren ließ. Die seinen nehmen uns mit auf eine Zeitreise durch Krieg, Weimarer Republik, Inflation und die Entstehung des Bauhauses. Sie erzählen vom Aufstieg der Nationalsozialisten, der wachsenden Gefahr für Julia und ihre jüdische Familie, von Diffamierung und Abschied.
Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Rezensent Stefan Trinks sucht produktionästhetische Äußerungen vergebens in diesem von Ines Burdow und Andreas Hüneke herausgegebenen Band mit den Briefen Lyonel Feiningers an seine Frau Julia. Davon abgesehen aber wird er reich beschenkt. Mit einer männlich-weiblichen "Doppelperspektive" auf 30 Jahre Zeitgeschichte, die laut Rezensent noch dadurch gewinnt, dass Feininger immer wieder versucht, den Standpunkt seiner Frau einzunehmen, sowie mit Alltagsdetails über Wohnungssuche, Ernährung und Inflation. Nicht zuletzt ist die Korrespondenz für Trinks auch ein Zeugnis für die Selbstzweifel des Künstlers und das gegenseitige Haltgeben des Paares.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 27.11.2021Lebenslanger Sturm im Pinselwasserglas
Mit vier Künstleraugen: Ein Band präsentiert zum ersten Mal Lyonels Feiningers Briefe an seine Frau Julia aus den Jahren 1905 bis 1935.
Von Stefan Trinks
5 - 9 - 19, das sind die drei Glückszahlen im Leben des amerikanischen Künstlers Lyonel Feininger. Im Jahr 1905 trifft er im Zug Richtung Ostsee die Malerin Julia Berg, die Liebe seines Lebens. Ab 1909 wird er Mitglied der Berliner Secession, was zu seiner raschen Berühmtheit in "kubistischen" Kreisen führte. Und 1919 wird er einer der prägenden Professoren des neu gegründeten "Bauhauses" in Weimar. Man sollte meinen, eine pfeilgerade Laufbahn, von der heute noch Gemälde in allen großen Museen der Welt künden. Doch hinter jeder Leinwand, jeder Zeichnung lauerten stets massive Selbstzweifel.
Denn im Grad der zerknirschten Selbstkritik gaben sich der brillante Zeichner Feininger und seine zweite Frau nichts, wie es seine nun unter dem Titel "Liebling, es ist alle Tage Sturm" veröffentlichten Briefe an sie spüren lassen. Selbst nach den ersten größeren Verkäufen im turbulent erfolgreichen Secessionsjahr 1909 schreibt er am 15. August an Julia: "Du klagst über Deine Arbeiten dass sie Dir so verfehlt jetzt erscheinen, mir geht's genau so." Solche Äußerungen bleiben in den nächsten Jahren kein Einzelfall. Es musste wohl wirklich "alle Tage Sturm" herrschen in beider Künstlerleben, um das Leben in den Bildern umso wirbelnder gestalten zu können.
Die dramatische Metapher des Sturms - sei sie von Shakespeare, sei sie von Giorgione im gleichnamig rätselhaften Renaissancebild "Tempesta" - lag dem 1871 in New York geborenen Feininger offensichtlich nahe. Häufig stand er als Junge mit seinen Schiffsmodellen an den windigen Piers jener europäischsten Stadt Amerikas, die in seiner Kindheit gerade ihre Metamorphose zur Stadt der himmelstürmenden Wolkenkratzer durchlief. Handelt es sich bei diesen im Kern um ein Über-Setzen der Geschlechtertürme und Kathedralen des alten Europas, bleibt Feininger der Idee des Erde und Himmel spirituell verbindenden Turms zeitlebens treu.
Bei späteren Aufenthalten auf der Halbinsel Usedom (so etwa in Neppermin, das er wie so oft sprachmixend in "Never mind" umtauft) und andernorts an der Ostseeküste malte und zeichnete Feininger viele schilfschlanke Leuchttürme, die sich farbig dem Sturmwind entgegenstemmen. Auch seine impressionistisch-kubistische Serie des Kirchturms von Gelmeroda oder der Marktkirche von Halle während der Jahre am Bauhaus zeugen von dieser gebauten Hoffnung, etwas Menschengemachtes könne allen Stürmen des Lebens trotzen. Was aber sind Vorbilder, denen er nicht gerecht zu werden glaubt? Im September 1920 bezeichnet er die Bilder der Überväter seiner eigenen Generation, Marées und Böcklin, als "falsch gebaut" und von den Künstlern nicht "empfunden". Bach, Dürer und Grünewald nennt er hingegen als seine Hausgötter, wobei der Erstere vom fugenbegeisterten Sohn zweier Musiker auch oft gespielt wird.
Nicht übertrieben ist die Feststellung, in dieser Briefedition dreißig Jahre Zeitgeschichte aus männlich-weiblicher Doppelperspektive vor sich zu finden. Nicht aus Historikersicht, auch nicht aus einer politisch besonders extremen Warte, wie sie im ersten Drittel des zwanzigsten Jahrhunderts leicht zu erwarten gewesen wäre. Vielmehr blicken zwei, eigentlich vier Künstleraugen - weil Feininger sich bemüht, die Dinge auch aus der Position seiner Frau zu betrachten - auf die Welt. Zwar versammelte Julia bedauerlicherweise nach dem Tod ihres Mannes 1956 nur seine Briefe in einem Typoskript, sodass ihre Antworten heute fehlen, wie auch manche vielleicht zu intime Stellen in den fast dreihundert erhaltenen Briefen. Doch verdankt Feininger ihr viel, denn außer dem Freihalten für die Kunst hatte ihn seine Frau ab 1905 in die diversen Drucktechniken eingeweiht, mit denen er berühmt werden sollte.
Das gegenseitige Haltgeben und künstlerische Befeuern endete weder mit dem Ende der Transkription im Jahr 1935 noch mit dem amerikanischen Exil 1937 und der nationalsozialistischen Diffamierung Feiningers zum "entarteten" Künstler. Im April 1935 jubelt er: "Gloria Victoria! I'm getting in now, with irresistible power. The long 'Pechsträhne' in my painting is at last overcome; I feel absolutely sure, now, of winning my goal."
Was man vergebens ersehnt, sind Äußerungen zum Entstehen seiner Malerei, aber auch von Rembrandt gibt es bekanntlich nur einen Brief mit einer Beschreibung seiner Kunst. Immerhin wird ab 1912 deutlich, wie Feiningers seit dieser Zeit entstehende Architekturkompositionen mit himmelstürmenden Türmen - für die er sieben Jahre später ans Bauhaus berufen werden sollte - aus dem gotisch Grotesken mit überlangen Schlaksen geboren werden. Doch alles, was bislang an Details aus dem Alltag dieses Künstler fehlte - etwa zur komplizierten Wohnungssuche in Weimar, zu Mangelernährung und Inflation -, findet man nun in dieser vorbildlichen Edition.
"Sweetheart, es ist alle Tage Sturm". Lyonel Feininger - Briefe an Julia 1905 -1935.
Hrsg. von Ines Burdow und Andreas Hüneke. Kanon Verlag, Berlin 2021. 288 S., Abb., geb., 28,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Mit vier Künstleraugen: Ein Band präsentiert zum ersten Mal Lyonels Feiningers Briefe an seine Frau Julia aus den Jahren 1905 bis 1935.
Von Stefan Trinks
5 - 9 - 19, das sind die drei Glückszahlen im Leben des amerikanischen Künstlers Lyonel Feininger. Im Jahr 1905 trifft er im Zug Richtung Ostsee die Malerin Julia Berg, die Liebe seines Lebens. Ab 1909 wird er Mitglied der Berliner Secession, was zu seiner raschen Berühmtheit in "kubistischen" Kreisen führte. Und 1919 wird er einer der prägenden Professoren des neu gegründeten "Bauhauses" in Weimar. Man sollte meinen, eine pfeilgerade Laufbahn, von der heute noch Gemälde in allen großen Museen der Welt künden. Doch hinter jeder Leinwand, jeder Zeichnung lauerten stets massive Selbstzweifel.
Denn im Grad der zerknirschten Selbstkritik gaben sich der brillante Zeichner Feininger und seine zweite Frau nichts, wie es seine nun unter dem Titel "Liebling, es ist alle Tage Sturm" veröffentlichten Briefe an sie spüren lassen. Selbst nach den ersten größeren Verkäufen im turbulent erfolgreichen Secessionsjahr 1909 schreibt er am 15. August an Julia: "Du klagst über Deine Arbeiten dass sie Dir so verfehlt jetzt erscheinen, mir geht's genau so." Solche Äußerungen bleiben in den nächsten Jahren kein Einzelfall. Es musste wohl wirklich "alle Tage Sturm" herrschen in beider Künstlerleben, um das Leben in den Bildern umso wirbelnder gestalten zu können.
Die dramatische Metapher des Sturms - sei sie von Shakespeare, sei sie von Giorgione im gleichnamig rätselhaften Renaissancebild "Tempesta" - lag dem 1871 in New York geborenen Feininger offensichtlich nahe. Häufig stand er als Junge mit seinen Schiffsmodellen an den windigen Piers jener europäischsten Stadt Amerikas, die in seiner Kindheit gerade ihre Metamorphose zur Stadt der himmelstürmenden Wolkenkratzer durchlief. Handelt es sich bei diesen im Kern um ein Über-Setzen der Geschlechtertürme und Kathedralen des alten Europas, bleibt Feininger der Idee des Erde und Himmel spirituell verbindenden Turms zeitlebens treu.
Bei späteren Aufenthalten auf der Halbinsel Usedom (so etwa in Neppermin, das er wie so oft sprachmixend in "Never mind" umtauft) und andernorts an der Ostseeküste malte und zeichnete Feininger viele schilfschlanke Leuchttürme, die sich farbig dem Sturmwind entgegenstemmen. Auch seine impressionistisch-kubistische Serie des Kirchturms von Gelmeroda oder der Marktkirche von Halle während der Jahre am Bauhaus zeugen von dieser gebauten Hoffnung, etwas Menschengemachtes könne allen Stürmen des Lebens trotzen. Was aber sind Vorbilder, denen er nicht gerecht zu werden glaubt? Im September 1920 bezeichnet er die Bilder der Überväter seiner eigenen Generation, Marées und Böcklin, als "falsch gebaut" und von den Künstlern nicht "empfunden". Bach, Dürer und Grünewald nennt er hingegen als seine Hausgötter, wobei der Erstere vom fugenbegeisterten Sohn zweier Musiker auch oft gespielt wird.
Nicht übertrieben ist die Feststellung, in dieser Briefedition dreißig Jahre Zeitgeschichte aus männlich-weiblicher Doppelperspektive vor sich zu finden. Nicht aus Historikersicht, auch nicht aus einer politisch besonders extremen Warte, wie sie im ersten Drittel des zwanzigsten Jahrhunderts leicht zu erwarten gewesen wäre. Vielmehr blicken zwei, eigentlich vier Künstleraugen - weil Feininger sich bemüht, die Dinge auch aus der Position seiner Frau zu betrachten - auf die Welt. Zwar versammelte Julia bedauerlicherweise nach dem Tod ihres Mannes 1956 nur seine Briefe in einem Typoskript, sodass ihre Antworten heute fehlen, wie auch manche vielleicht zu intime Stellen in den fast dreihundert erhaltenen Briefen. Doch verdankt Feininger ihr viel, denn außer dem Freihalten für die Kunst hatte ihn seine Frau ab 1905 in die diversen Drucktechniken eingeweiht, mit denen er berühmt werden sollte.
Das gegenseitige Haltgeben und künstlerische Befeuern endete weder mit dem Ende der Transkription im Jahr 1935 noch mit dem amerikanischen Exil 1937 und der nationalsozialistischen Diffamierung Feiningers zum "entarteten" Künstler. Im April 1935 jubelt er: "Gloria Victoria! I'm getting in now, with irresistible power. The long 'Pechsträhne' in my painting is at last overcome; I feel absolutely sure, now, of winning my goal."
Was man vergebens ersehnt, sind Äußerungen zum Entstehen seiner Malerei, aber auch von Rembrandt gibt es bekanntlich nur einen Brief mit einer Beschreibung seiner Kunst. Immerhin wird ab 1912 deutlich, wie Feiningers seit dieser Zeit entstehende Architekturkompositionen mit himmelstürmenden Türmen - für die er sieben Jahre später ans Bauhaus berufen werden sollte - aus dem gotisch Grotesken mit überlangen Schlaksen geboren werden. Doch alles, was bislang an Details aus dem Alltag dieses Künstler fehlte - etwa zur komplizierten Wohnungssuche in Weimar, zu Mangelernährung und Inflation -, findet man nun in dieser vorbildlichen Edition.
"Sweetheart, es ist alle Tage Sturm". Lyonel Feininger - Briefe an Julia 1905 -1935.
Hrsg. von Ines Burdow und Andreas Hüneke. Kanon Verlag, Berlin 2021. 288 S., Abb., geb., 28,- Euro.
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»Das Buch mit den Briefen von Lyonel Feininger an Julia wurde sorgfältig ausgestattet mit einer Einbettung in die Zeitumstände, den Lebenslauf der beiden und ihre Bedeutung für die Klassische Moderne. [...] Wer gern etwas in der Hand hält, um eine Geschichte zu erfahren, ist mit dem Buch natürlich gut beraten. Ein Stück Kunstgeschichte in einer Liebesgeschichte erzählt. Auch das Radiofeature ist Genuss und Gewinn für Kopf und Herz.« Annemarie Stoltenberg, NDR